Efeu - Die Kulturrundschau

Ein sehr wundervolles Licht

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23.10.2019. Die Debatte um Peter Handke lässt die Feuilletons nicht in Ruhe: In der FAZ verteidigt ihn Eugen Ruge auch gegen seine eigene "idiotische Ehrlichkeit". In der taz pocht Nora Bossong auf die Autonomie poetologischer Fragen auch im Angesicht von Kriegsverbrechen. Der Tagesspiegel dagegen geißelt seine wehmütige Weltfremdheit. Außerdem lernt die FAZ von Carsten Nicolai Radioaktivität zu hören. Die FR huldigt dem Maler der Sonne und der Kornfelder. Und die SZ bewundert den makellosen Countertenor Kangmin Justin Kim.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.10.2019 finden Sie hier

Literatur

Die Handke-Debatte wird auch weiterhin engagiert ausgefochten. Das gegenwärtige Donnerwetter über den Nobelpreisträger werde bestimmt von "aus dem Kontext Zitiertem, Aufgeschnapptem, oder Erlogenem", tadelt der Schriftsteller Eugen Ruge in der FAZ: Handke habe lediglich Skepsis an der Berichterstattung und an medialen Schwarzweiß-Narrativen geäußert, aber nichts verleugnet, noch nicht einmal "seine eigenen Mordfantasien gegen Serben(!)führer Karadžić, dem er einen Attentäter an den Hals gewünscht hat, damit das Morden aufhört - das ist Handke: eine idiotische Ehrlichkeit. ... Leute, lest doch einfach mal seine Texte! Nehmt euch die Zeit - oder haltet den Mund. Es sind schwierige, verwinkelte, mäandernde Texte; es sind die Texte eines Zweifelnden, die womöglich auch zweifelhaft sind. Aber sie sind keine Kriegserklärungen, kein Hate Speech und keine Fake News, alles das sind sie nicht." Jan Röhnert bekräftigt das im Tagesspiegel: "Handke, das zeigt sein über ein halbes Jahrhundert gewachsenes Werk, ist nur ein Zweifler der besonderen Art. Schreiben schließt bei ihm das Befragen der eigenen Wahrnehmung ein. So ist sein liebstes Satzzeichen, gerade in den Jugoslawien-Büchern, nicht von ungefähr das Fragezeichen."

Ebenfalls im Tagesspiegel stellt Caroline Fetscher dem Handkes Engagement in der Aufarbeitung des Kriegs in Den Haag gegenüber: "Am 18. Februar 2002 stand Handke in der Lobby des Tribunals. Weltfremd und wehmütig dreinblickend, wirkte er zugleich störrisch, fast autistisch." Kurze Zeit später "erläuterte Handke in einem Essay, wer sich alles gegen 'die Serben' verschworen habe: Zeugen und Ankläger, demokratische Mäzene wie George Soros, Philosophen wie Habermas ('Jürgen H.') oder ein 'zum Niedermachen, Zerstören und Vernichten begabter deutschsprachiger Kritiker'. ... Viele tausend Serbinnen und Serben hatten davor schon und haben seither gegen die absurde Ideologie der ethnischen Suprematie protestiert, mit Texten, Reden, Romanen, Musik, ihre Namen sind bekannt. Für Peter Handke blieben die 'Verräter' wie nicht vorhanden."

In der Schlagloch-Kolumne der taz ist die Schriftstellerin Nora Bossong längst schon auf der Meta-Ebene der Handke-Debatte angekommen. Auf deren beiden Seiten stehen mit dem politischen Realismus hier und der Insistenz aufs Literarische dort zwei Positionen, die schon aus grundsätzlichen Gründen kaum miteinander ins Gespräch kommen können, meint sie. "Wer meint, dass poetologische Fragen im Angesicht von Kriegsverbrechen nicht zählen, übersieht, dass mit ihnen verhandelt wird, ob Deutungshegemonien in der Gegenwart nur noch politisch und ökonomisch zu denken sind oder ob es noch andere Formen des Weltverstehens gibt. Es ist ein zweifelndes Fragen, was das denn ist, worauf wir stehen und über das wir uns so eindeutig zu verständigen meinen. Es sind Fragen im Abseits unserer mutmaßlichen Sicherheiten, und die sind heute so wichtig wie je. ... Aber Literatur handelt eben vom Menschlichen und damit immer auch von Fehlbarkeiten. Ein Denken, das diese nicht aushält, nur noch Geschichten über unfehlbar gute Menschen und eindeutig böse Irrgänger erschafft, würde ich in Literatur wie in Politik gleichermaßen fürchten." Im Dlf Kultur sprechen René Aguigah und Helmut Böttiger über die Debatte.

Weiteres: In Berlin stellte Rafik Schami seinen neuen Roman "Die geheime Mission des Kardinals" vor, berichtet Rolf Brockschmidt im Tagesspiegel. Im Titel-Magazin erinnert Peter Mohr an die Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Doris Lessing, die gestern ihren 100. Geburtstag gefeiert hätte. Krimi-Autor Max Annas spricht in der FR unter anderem über seine Reisen in die DDR. Jörg Sundermeier schreibt in der taz einen kurzen Nachruf auf die langjährige S.Fischer-Verlegerin Monika Schoeller.

Besprochen werden Ivna Žics "Die Nachkommende" (NZZ), Peter Kurzecks Nachlass-Roman "Der vorige Sommer und der Sommer davor" (Berliner Zeitung), Tonio Schachingers Fußballroman "Nicht wie ihr" (SZ), Horst Krügers "Das zerbrochene Haus. Eine Jugend in Deutschland" (Tagesspiegel), Gregor Sanders "Alles richtig gemacht" (FR), die von Reiner Stach herausgegebene Aphorismensammlung "Franz Kafka - Du bist die Aufgabe" (Tagesspiegel) und Susanne Röckels "Kentauren im Stadtpark" (FAZ).

Außerdem: Es ist vollbracht - wir haben die Literaturbeilagen der Zeitungen zur Buchmesse ausgewertet! Hier finden Sie unsere Notizen im Überblick. Alle besprochenen Bücher und noch viele mehr finden Sie natürlich in unserem Büchershop Eichendorff21.
Archiv: Literatur

Kunst

Carsten Nicolai, unicolor, 2014. Courtesy EIGEN + ART Leipzig/Berlin und Pace Gallery, Foto: Julija Stankeviciene

In der Carsten-Nicolai-Schau "Parallax Symmetry" im Düsseldorfer K21 blinkt und fiepst es, freut sich FAZ-Kritiker Georg Imdahl und lernt dabei, physikalische Phänomene zu sehen und zu hören: "In seiner Installation 'particle noise' bildet Nicolai die Radioaktivität im Raum akustisch ab. Vor den Bullaugen am Kaiserteich plaziert er Soundsystem und Messgerät, analoge und digitale Geigerzähler, Sinuswellengenerator und Radioempfänger, um die Signale der Strahlung als Soundtrack hörbar zu machen. Tritt man näher an ein vieleckiges, lichtschluckendes Objekt in Schwarz heran, registriert im Innern ein Instrument namens Theremin die elektrische Kapazität des humanen Körpers und interagiert mit diesem mittels niedrigfrequenter Töne, als ob damit ein Mesmerismus darstellbar würde. In der Form geht dieser rätselhafte Polyeder auf Dürers Stich 'Melencolia I' zurück, wo sie die Allianz von Kunst und Wissenschaften symbolisiert."

Vincent van Gogh: Augustine Roulin, 1889. © Stedelijk Museum Amsterdam


In der großen Frankfurter Ausstellung "Making van Gogh" im Frankfurter Städel, die dem Einfluss des Künstlers auf die Deutschen nachspürt, kann SZ-Kritikerin Kia Vahland gut nachvollziehen, dass Vincent van Gogh auch deshalb ein Massenpublikum ansprach, weil er in der Rezeption als Mensch mit dem Kunstwerk verschmolz. In der FR schreibt Christian Thomas: "Das Existierende ist das Erscheinende, und beides ist beides und so vehement wie flüchtig. Nüchterner gesagt: Er war der Maler der Sonne, der Kornfelder, der Sonnenblumen, und hatte diese, wie dann auch auf einem frühen Katalog nach seinem Tod zu sehen, mit einem Heiligenschein versehen."

Weiteres: Die Berufung des Kunsthistorikers Andrea Lissoni zum neuen Direktor des Münchner Haus der Kunst werten Catrin Lorch und Susanne Hermanski in der SZ als Überraschung, wenn auch nicht unbedingt als Coup, bevor sie ausführlichst die Probleme im Haus darstellen, die Lissoni erwarten. Voller Bewunderung streift Guardian-Kritiker durch die neue Lucian-Freud-Schau in Londons Royal Academy und erkennt, dass kaum ein Maler so unergründlich geblieben ist wie der große Selbstdramatiker: "In Freuds Bilder liegen die Geheimnisse in dem, was die Körper verraten, nicht in dem, was sie sagen. Wie kompliziert, wie faszinierend."

Besprochen werden eine Ausstellung der Berliner Künstlerin Raphaela Vogel in Bregenz (die Standard-Kritikerin Ivona Jelcic zufolge das Kunsthaus in einen Fibertraum versetzt), die Künstlerinnen-Schau "Kampf um Sichtbarkeit" in der Alten Nationalgalerie in Berlin (taz) und die mit Wahrnehmungsverschiebungen arbeitende Ausstellung "A ≠ A" in der Galerie Oqbo (taz).
Archiv: Kunst

Bühne

"Schöne Körper, schöne Stimmen: "La clemenza di Tito" am Theater an der Wien. Foto: Werner Kmetitsch

Mozarts
"La Clemenza di Tito" hat SZ-Kritiker Helmut Mauró am Theater an der Wien als einzige Sängersternstunde erlebt. Glänzend der Countertenor David Hansen, aber noch großartiger findet Mauró den koreanisch-amerikanischen Countertenor Kangmin Justin Kim: Einen so makellosen Counter hat man noch nicht gehört, immer wieder zweifelt man, ob hier nicht doch eine Frau singt. Das geht natürlich auf Kosten persönlicher Färbung, aber das Ergebnis verblüfft in dieser Perfektion und Routine allemal. So ähnlich könnte tatsächlich ein Kastrat geklungen haben. Es ist nichts Angestrengtes in der Stimme, kein Falsett-Gequäke, kein überspanntes Travestiegegurgel, kein pubertäres Kieksen."

Deutlich weniger begeistert ist Frieder Reininghaus in der NMZ allerdings von Sam Browns Inszenierung dieser Huldigungsoper, die alles Historische wie alten Plunder wegstriegele, zugunsten "einer aus dem Sacher-Katalog gepellten Gegenwart" der schönen Körper und schönen Stimmen: "Von besonderem Reiz für Theater, das mehr sein will als Dekoration und sinnentleerte Animation vertraut klingender Musik, ist übrigens die Figur von Titos Lebensgefährtin Berenice, der vormaligen Königin der Juden. Die putzen in Mozarts Oper Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus weg. Das kann ein Regisseur wahrnehmen. Oder wegsehen. Grüß Gott, Mr. Brown, in Österreich!"

Weiteres: Der Tagesspiegel meldet einen Rückgang der Theaterbesucher von 800.000 für die Spielzeit 2017/2018 gegenüber der vorangegangenen.

Besprochen werden Tatjana Gürbacas psychologisisierende Inszenierung von Mozarts "Don Giovanni" am Theater Bremen (die taz-Kritiker Joachim Lange als atemberaubend bejubelt), Michal Borczuchs Inszenierung von Calderóns "Standhaftem Prinzen" in Basel (FAZ), Verdis "Rigoletto" in Schwerin (NMZ) und Mara Mattuschkas Wilde-Verarbeitung "Dorian Gray. Die Auferstehung" am TAG in Wien (Standard).
Archiv: Bühne

Design

Der Lichtdesigner Ingo Maurer ist gestorben. Seine Arbeiten waren "so etwas wie der Inbegriff von Autorendesign", schreibt Laura Weißmüller in der SZ. "An jedem Detail eines Entwurfs lässt sich sofort erkennen, dass es sich dabei um einen echten Ingo Maurer handelt: mal bekam die Glühbirne Flügel aus Gänsefedern wie bei 'Lucellino' (1992) oder rote Storchenfüße aus Plastik wie bei 'Bibibibi' (1982). Dann ließ der Designer ein halbes Service zersplittern - 'Porca Miseria!' (1994) - oder einen Zettelkasten zur Explosion bringen, 'Zettel'z 5' (1997). Doch bei allem Formwillen vergaß Maurer nie die Aufgabe seiner Objekte: 'Die Witze, die ich mir erlaube, haben auch immer eine Funktion. 'Bibibibi' macht ein sehr wundervolles Licht.'" Der Bayerische Rundfunk hat ein Feature von Moritz Holfelder über Maurer wieder online gestellt.

In der Welt gratuliert Laura Jung der berüchtigten Schriftart Comic Sans zum 25sten. Gehasst wird die Type eigentlich zu Unrecht, denn sie "kann tatsächlich integrierend wirken, denn die Schriftart ist für Menschen mit Dyslexie besonders gut lesbar."
Archiv: Design

Architektur

Room with a view: Die Public Library in Queens. Foto: Steven Holl Architects

Steven Holl hat Queens eine neue öffentliche Bibliothek gebaut. Dezeen bringt eine Reihe von tollen Bildern und auch in der FAZ begeistert sich Frauke Steffens für den Bau, der nicht nur einen fantastischen Blick auf den East River und die Skyline von Manhattan bietet: "In der neuen Bibliothek sehen Optimisten auch ein Zeichen dafür, dass die Stadt die Anliegen der armen Bevölkerungsschichten nicht ganz vergessen hat."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Holl, Steven

Film

Wehrhaft auch mit grauen Haaren: Linda Hamilton und Arnold Schwarzenegger.


Arnold Schwarzenegger
ist mal wieder der Terminator. Neu allerdings ist, dass alle von Fans und Kritik mal mehr, mal weniger geliebten Filme der Killerrobotor-Saga, die seit dem gefeierten zweiten Teil von 1992 entstanden sind, hier für ungültig erklärt werden. Tim Millers "Terminator: Dark Fate" gibt sich somit als eigentlicher dritter Teil aus - und auch Linda Hamilton ist erstmals wieder als Sarah Connor mit an Bord. Operation geglückt, meint Dominik Kamalzadeh im Standard: Der Film "ist in seiner Rücksicht auf Diversität beim Cast und No-Nonsense-Geschlechterpolitik eindeutig das Produkt einer neuen Sensibilität in Hollywood. ... Solche Modernisierungsschübe tun dem Actionspektakel keinen Abbruch. Das verdankt sich vor allem einem Skript, das den Wirkkreis der Figuren schlüssig auf die Schauplätze zurückbezieht." In Dietmar Daths Kritik in der FAZ geht es viel um Körperpolitik der 80er und um die Konflikte zwischen Arm und Reich in der globalisierten Gegenwart. Von all dem handle dieser Film, wenn auch eher unfreiwillig und zwar "mal erhellend, mal verwirrend, mal sinnreich, mal euphorisch, mal traurig." Immerhin erfahren wir noch: "Was Tim Miller da abgeliefert hat, ist kein Meisterwerk für die Ewigkeit, aber ein sehr effizient bepackter, schöner neuer Anhänger für den bulligen Lastwagen, den James Cameron 1984 vom Band laufen ließ."


Besprochen wird außerdem Bong Joon-hos "Parasite" (Jungle World, unsere Kritik hier).
Archiv: Film

Musik

Max Nyffeler berichtet in der FAZ von den Donaueschinger Musiktagen. Große Freude hatte er etwa beim Auftakt von "Trio" des Dänen Simon Steen-Andersen: "Er montierte die drei traditionsreichen Klangkörper des Rundfunks, Big Band, Chor und Sinfonieorchester, zu einem ebenso witzigen wie kulturkritisch gewitzten Ganzen - Medienkunst auf höchstem Bastlerniveau. Die auf Sekundenbruchteile genau getimten Schnipsel aus klassischen Orchesterwerken werden zudem auf atemberaubende Weise mit der Videoebene verzahnt. Hier sieht und hört man in Archivaufnahmen aus der Zeit des Schwarzweißfernsehens frühere Größen, wie sie dieselben Musikbruchstücke proben: Den knurrigen jungen Celibidache, den um Inspiration bettelnden Carlos Kleiber, den zappeligen George Solti, den charismatischen Duke Ellington. Postmodernes Komponieren mit Versatzstücken, ausnahmsweise ohne Beliebigkeits- und Retrocharakter, sondern geschichtsbewusst und formal brillant. Und extrem unterhaltsam." Einen Eindruck davon verschaffen kann man sich im Livestream, hier ab etwa 1:39:00:



Weiteres: In der NZZ schreibt Gabriele Spiller über die Cellistin Maja Weber vom Schweizer Stradivari-Quartett. Im Tagesspiegel porträtiert Jean Dumler die weißrussische Band Molchat Doma. Ljubisa Tosic gratuliert im Standard Blue Note Records zum 80-jährigen Bestehen.

Besprochen werden der Berliner Auftritt der Jazzmusikerin Nubya Garcia (taz), ein Konzert des Jazzpianisten Fred Hersch (Tagesspiegel) und neue Popveröffentlichungen, darunter das neue Album der Swans (SZ). Eine Hörprobe:

Archiv: Musik