Efeu - Die Kulturrundschau

Die Geschmeidigkeit der Gelenke

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13.11.2019. Zum Start der Plattform Disney+ fragt ZeitOnline, was die drohenden Streaming-Wars für das Kino bedeuten. FAZ und SZ erleben Martin Scorsese melancholisches Mafia-Epos "The Irishman" bereits als Eingeständnis, dass das Kino längst seine Macht abgegeben hat. Die Berliner Zeitung lässt sich von Regula Lüscher und Martin Maleschka die Schönheit des Alexanderplatz erklären. Die NZZ denkt in der Fondation Beyeler über Kunst von Frauen nach.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.11.2019 finden Sie hier

Film

In den USA ist gestern die Streamingplattform Disney+ online gegangen, für deren Bestückung der Mutterkonzern in den letzten Jahren eifrig eingekauft hat, um Netflix künftig die Stirn bieten zu können. Für ZeitOnline wirft Oliver Schütte einen Blick zurück auf die Entwicklung dieses "Streaming-War" und prognostiert eine Zuspitzung im Kinobetrieb: "Bisher waren die Welten von Kino und Fernsehen klar getrennt. Im amerikanischen TV liefen Serien und auf der Leinwand waren sowohl Spielfilme zu sehen, die  den Massengeschmack bedienten, als auch die vergleichsweise kleinen, anspruchsvollen Werke von Autorenfilmern. Für diese Werke ist in Zukunft im Kino kaum noch Platz. Sie werden jetzt immer häufiger für die Streamingplattform produziert und mit einem Schlag weltweit online gestellt." Werner Herzog, der auch schon für Netflix produziert hat, ist dabei mit einer Nebenrolle in der neuen, im "Star Wars"-Universum angesiedelten Disney-Serie "The Mandalorian" sowas wie ein Aushängeschild - in Variety spricht er über seine Rolle in der Serie.

So jung kommt man manchmal eben doch wieder zusammen: Martin Scorseses "The Irishman" (Netflix)

Einige Prestige-Produktionen bringen die Streamer für ein kurzes Aufmerksamkeitsfenster aber doch noch in die Kinos - wenn auch nur für wenige Tage. So Martin Scorseses neues, auf realen Figuren basierendes Mafia-Epos "The Irishman" - mit Robert de Niro, Al Pacino und Joe Pesci geradezu sensationell besetzt -, der ab morgen in einigen Kinos zu sehen ist, bevor er schon Ende des Monats bei Netflix online geht. SZ-Kritiker Tobias Kniebe fühlt sich in diesem Film rasch sehr zuhause: Die Gesichter, die fließende Kamera, die Motive und Erzählhaltung - alles guter Scorsese. Schwierig findet er allerdings die Digitalverjüngung, die aus den alten Recken vergleichsweise junge Mitt-Fünfziger basteln soll: "Die künstliche Straffung der Gesichter funktioniert mal mehr, mal weniger gut, manchmal wirkt sie eher wie ein missglückter Einsatz von Gesichtsbräuner. Die Sprache der Körper aber und die Geschmeidigkeit der Gelenke, die kann man digital am wenigsten fälschen. Das verschärft den Grundton der Melancholie, der hier alles durchzieht. Was dann aber auch wieder passt, denn die entscheidende Phase des Films, das letzte Drittel, handelt vom Schwinden der Kraft, von dem Grau, das sich im Alter über das Leben senkt, wenn Bilanz gezogen wird, von der Last der Vergeblichkeit."

Scorsese, schreibt Verena Lueken in der FAZ, "erzählt die Geschichte Amerikas in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts als unentwirrbaren Komplex von Einflussnahmen unterschiedlicher sozialer und politischer Ordnungen anhand einer großen Anzahl von Morden." In gewisser Hinsicht formuliert Scorsese hier auch einen Kommentar "zu seinem eigenen Werk, seiner Kunst und dem Kino. Unsentimental, eine Art Summe des Ganzen, zu einem Zeitpunkt, da das Kino seine Macht an die Streamingdienste abgegeben hat." Wenig Freude bei dieser Rückschau hatte Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche: Der Film ist quasi "Scorseses 'Greatest Hits'-Album. Gefühlt allerdings eher posthum veröffentlicht. Das könnte die zermürbende Zähigkeit von 'The Irishman' erklären, der im Grunde Scorseses beste Filme kannibalisiert. Oder besser: sich aus Themen, Szenen und atmosphärischen Motiven ein Frankenstein-Monster des Mafiafilms zusammenbastelt." In der Welt beschreibt Hanns-Georg Rodek, mit welchen Bandagen Netflix gegen die Kinobetreiber kämpft, um sich der lästigen Kinovorführungen zu entledigen.

Weiteres: Roman Polanskis Zola-Film "J'accuse" kommt in Frankreich genau zu dem Zeitpunkt in die Kinos, da gegen ihn neue Vergewaltigungsvorwürfe erhoben werden und die Schauspielerin Adèle Haenel Belästigungen durch den Regisseur Christophe Ruggia öffentlich macht. Le Monde dröhnt das beschämte Schweigen der französischen Filmbranche in den Ohren. In Libération meint Camille Nevers, dass kein vernünftiger Mensch Polanskis Film keinesfalls als Rechtfertigung eines Täters verstehen könne: "Der Film 'J'accuse' gibt Adèle Haenel recht. Der Film hilft weder dem Mann noch dem Künstler oder dem Nachruhm eines Autors, wie es vielleicht intendiert war. Das Gegenteil ist der Fall." Im ND berichtet Matthias Dell von der Duisburger Filmwoche (mehr dazu bereits hier).
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Kunst

"Resonating Spaces": Installationsansicht. Fondation Beyeler, Riehen/Basel. Foto: Stefan Altenburger

Die Fondation Beyeler zeigt unter dem Titel "Resonating Spaces" die Arbeiten von fünf Künstlerinnen, und in der NZZ freut sich Philipp Meier, darüber nachdenken zu müssen, ob es das gibt, die weibliche Kunst, den weiblichen Blick, das weibliche Kunsterleben: "Silvia Bächlis Zeichnungen sind zart und lyrisch. Und wenn man auf die Kunstwerke ihrer Kolleginnen in dieser Schau blickt, kommen einem diese nicht weniger feminin vor. Bei Rachel Whiteread etwa spielt das Körpergefühl in Bezug zum Raum eine wichtige Rolle, Toba Khedoori arbeitet zwar wandfüllend monumental, ihre Arbeiten verbleiben aber ganz im leisen Bereich des Zeichnerischen, während Leonor Antunes' goldgelb-warme Rauminstallation irgendwie an einladende Wohnräume mit Designmöbeln und Modeschmuck erinnert. Susan Philipsz hat sich sogar dem völlig Immateriellen des Windes verschrieben, dessen Tönen man in ihrer Klanginstallation in einem gänzlich leeren Raum lauschen kann. Auch das ist doch typisch weiblich. Oder etwa nicht? Ist ein derartiger Blick auf diese fünf Werkkomplexe von Vorurteilen geprägt? Und entstehen solche nicht gerade in einer Schau, die ausschließlich weiblichen Kunstschaffenden gewidmet ist? Cherchez la femme!"

Beschwingt streift FR-Kritiker Christian Thomas durch die Ausstellung "Große Realistik und große Abstraktion", in der das Frankfurter Städel Museum Zeichnungen von Max Beckmann bis Gerhard Richter präsentiert, und er erkennt: "Für das Quirlige, das Frivole, das Leichtsinnige, die Labilität der Lebensverhältnisse hat sich die Zeichnung interessiert, naheliegenderweise als zittriges Bleistiftgestrichel oder schillerndes Aquarell." In der FAZ erklärt Stefan Trinks den Titel der Schau: "Im Jahr 1911 schrieb Wassily Kandinsky: 'Die heutige Kunst geht von zwei Hauptpunkten aus: 1) zu der großen Abstraktion. 2) zu der großen Realistik. Diese zwei Pole eröffnen zwei Wege, die schließlich zu einem Ziel führen.'"

Weiteres: Hakim Bishara berichtet auf Hyperallergic von einer Protestaktion der Guerilla Girls gegen das Moma in New York, das einen Flügel nach den Kuratoriumsmitgliedern und Jeffrey-Epstein-Freunden Leon Black and Glenn Dubin benennen will. Monopol meldet, dass Extinction Rebellion in London ein halbversunkenes Haus sehr fotogen die Themse hinabtreiben ließ.

Besprochen werden die große Schau der Berliner Fotografin Helga Paris in der Akademie der Künste (taz), die Ausstellung "Bima, Kasper und Dämon" im Museum der Kulturen in Basel (FAZ) und Lawrence Abu Hamdans politischen Soundanalysen im Hamburger Bahnhof (Tsp)
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Architektur

Ziemlich geplättet kommen Nikolaus  Bernau und Gabriela Keller aus einem Doppelinterview in der Berliner Zeitung mit Berlins Senatsbaudirektorin Regula Lüscher und dem Architekturfotografen Martin Maleschka. Zuerst müssen sie sich von Maleschka sagen lassen, dass manche Leute den Alexanderplatz nicht für eine "schmerzende Wunde" halten, sondern die Nachkriegsmoderne zu schätzen wissen. Dann erklärt Lüscher den Vorzug der Langsamkeit im Städtebau: "Das Programm für den Wettbewerb 1992 hatte vorgegeben, dass man am Alexanderplatz ziemlich Tabula rasa macht. Das war der Zeitgeist. Inzwischen hat sich das geändert, die Nachkriegsmoderne wird positiver gesehen und wir konnten die Bauten noch unter Denkmalschutz stellen, etwa das alte Haus des Berliner Verlags, das Haus der Technik und das Haus des Reisens. Jetzt gibt es eine positive Wahrnehmung der Nachkriegsmoderne im Osten. Insofern war es ein Glücksfall, dass es nicht so schnell ging."
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