Efeu - Die Kulturrundschau

Das Zauberwort heißt: Kombiniere!

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03.12.2019. Dem David Lynch der Renaissance begegnet die FAZ in der großen Hans-Baldung-Auisstellung in Karlsruhe.  Die FR feiert Gabriel Faurés Oper "Pénélopé" in der feinnsinnigen Inszenierung von Corinna Tetzel und Dirigentin Joana Mallwitz in Frankfurt. Der Tagesspiegel sucht im neuen Woody-Allen-Film vergeblich junge Frauen, die keine älteren Männer anhimmeln.  Und in der Kontroverse um Peter Handke distanzieren sich die ersten Berater von der Schwedischen Akademie.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.12.2019 finden Sie hier

Kunst

Hans Baldung: Geburt Christi, 1539. Bild: Kunsthalle Karslruhe, CC


Als den David Lynch der Renaissance feiert Stefan Trinks in der FAZ den eigenwilligen Maler Hans Baldung Grien, dem die Kunsthalle Karlsruhe eine große Ausstellung und eine fantastische Website widmet. "Angesichts der gelehrten Komplexität seiner Bilder wirkt es, als male ein Akademiker magrittehaft vertrackte Rätselbilder. Das bedeutet nicht, dass Baldung malhandwerklich nicht perfekt wäre. In seiner Art einer bisweilen fast abstrakten, weil 'wirklichkeitssuggestiven' Darstellung von Dingen findet er einen Mittelweg zwischen dem oft fast ungebrochenen Hyperrealismus des nur zwölf Jahre älteren Gleichgesinnten Dürer und den surrealen Architekturen eines Albrecht Altdorfer. Gut zu erkennen ist das auf der Baseler 'Anna Selbdritt' von 1512, auf der das nackte Christuskind auf dem Schoß Mariens seiner Großmutter Anna einen tiefroten Apfel reicht. Das Ganze findet in einer Architektur statt, die wie eine Murmelbahn wirkt, die ein grobmotorisches Riesenbaby zusammengezimmert hat."

Geblendet kommt SZ-Kritiker Harald Eggebrecht aus der Ausstellung "Gold und Ruhm", die Pracht und Schönheit des frühen Mittelalters im Basler Kunstmuseum versammelt: "Die kalligrafische Schönheit der illuminierten Handschriften mit ihren Miniaturen, die unglaubliche Qualität der Elfenbeinschnitzereien, die mit Edelsteinen geschmückten, in Gold gefassten Buchdeckel und -kästen, die Pracht von Kreuzreliquiaren und Monstranzen, die Raffinesse byzantinischer Seidenbeutel zur Aufbewahrung von Reliquien und die Ehrwürdigkeit der kaiserlichen Siegel an den imposanten Urkunden - das alles zeugt von der zivilisatorischen Höhe und Vielfalt jener Epoche, in der Kaiser Heinrich II. für den Aufstieg des Bistums Basel sorgte."

Besprochen werden die große Hans-Haacke-Retrospektive "All Connected" im New Museum in New York (SZ), eine Else-Lasker-Schüler-Ausstellung im Wuppertaler Von der Heydt-Museum (FR) und eine vom Fotografen Marc Martin kuratierte Schau zur Geschichte der Pissoirs von Paris im Leslie Lohman Museum in New York (Guardian).

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Bühne

Paula Murrihy als Gabriel Faurés "Pénélopé". Foto: Barbara Aumüller/Oper Frankfurt

Betört kommt FR-Kritiker Bernhard Uske aus der Gabriel Faurés Oper "Pénélopé", die Regisseurin Corinna Tetzel und Dirigentin Joana Mallwitz an der Oper Frankfurt inszeniert haben. Wie feinsinnig die beiden Musik und Libretto verweben, das von Odysseus' Heimkehr nach Ithaka erzählt. Auch in der FAZ ist Wolfgang Sandner hingerissen: "Ein wahres Klangwunder drang dazu aus dem Orchestergraben. Die Dirigentin Joana Mallwitz am Pult des hochmotivierten Opernorchesters schuf einen Klanggrund, wie ihn sich auch ein Fauré nicht besser vorgestellt haben kann: eine weiträumige Architektur, zarte Klangfarben, ebenmäßige Strukturen mit ausbalanciertem Orchestersatz und Klarheit der Phrasierung. Es ist der apollinische Klang, der Fauré einen eigenständigen Platz neben Strauss und Debussy sichert und nur bedauern lässt, dass ein solches Opernjuwel so selten auf die Bühne kommt."

Besprochen werden John Neumeiers Hamburger Ballettfassung von Tennessee Williams' "Glasmenagerie" (die FR-Kritiker Sylvia Staude ganz fabelhaft findet), Puccinis "La Rondine" am Meininger Staatstheater (NMZ), Nicola Raabs Inszenierung von Verdis "La traviata" an der Komischen Oper (die Peter Uehling in der Berliner Zeitung ausgesprochen fantasielos, wenn nicht öde nennt), Lutz Hübners und Sarah Nemitz' Stück "Frauensache" Im Badischen Staatstheater in Karlsruhe (FAZ).
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Literatur

Zwei beratende Experten der Schwedischen Akademie sind kurz vor der Preisverleihung an Peter Handke von ihren Posten zurückgetreten, melden die Agenturen. Während der schwedische Schriftsteller Kristoffer Leandoer seinen Entschluss damit begründet, dass ihm die seit der Krise der Akademie im Jahr 2018 notwendigen Reformen zu langsam vonstatten gingen, erklärt die Schriftstellerin Gun-Britt Sundström ihren Schritt mit dem Nobelpreis für Peter Handke: Gegenüber der Zeitung Dagens Nyheter äußerte sie sich, dass "die Wahl des Preisträgers 2019 sich nicht nur auf ein literarisches Oeuvre beschränkt" habe, "sondern gleichermaßen innerhalb und außerhalb der Akademie als Position interpretiert wurde, dass die Literatur über der Politik stünde." Doch "diese Haltung ist nicht die meine", so Sundström. Helmut Böttiger vom Dlf Kultur sieht derweil in der Kontroverse um Handke "ein Medienspektakel, das von der Literatur wegführt."

Der bosnisch-deutsche Soziologe Adnan Delalic schreibt auf dem postkolonialen Blog Mangal Media eine scharfe Attacke gegen Handke, dessen Haltung zu Bosnien er als kolonialistisch beschreibt: "Wie es das Nobelkomitee schreibt, will er die 'Peripherie und Besonderheit menschlicher Erfahrung' beschreiben. Er nutzt seinen mächtigen europäischen Pass, um zu den Killing Fields in der Peripherie zu reisen (an Orte, an die die Flüchtlinge und Exilierten nicht zurückkehren können) und literarische Selfies zu produzieren. Europäische Intellektuelle und Institutionen beschreiben seinen kolonialistischen Korpus dann als repräsentativ für europäische Kultur. So werden Hierarchien aufrechterhalten. Wir selbst müssen inzwischen enorme Zeit aufbringen, um uns selbst vor dieser Gechichte zu schützen, auch jene, die Glück hatten und einen westlichen Pass bekommen hatten. Handke bekam hingegen ganz leicht einen jugoslawischen Pass vom Milosevic-Regime im Jahr 1999 während Hunderttausende Kosovo-Albaner ihren Pass verloren."

Alida Bremers Perlentaucher-Essay zu Handke, der das Nobelkomitee bereits zu Reaktionen veranlasste, ist jetzt von der führenden schwedischen Zeitung Dagens Nyheter übernommen worden.

Außerdem: Lothar Müller berichtet in der SZ von der Jahrestagung der Marcel-Proust-Gesellschaft, die sich dem Thema "Proust und das Judentum" gewidmet hatte. In der SZ gratuliert Johan Schloemann dem Philologen Hellmut Flashar zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Isabel Fargo Coles "Das Gift der Biene" (Tagesspiegel), Ian McEwans "Die Kakerlake" (Dlf Kultur), Borja González' Comic "The Black Holes" (Dlf Kultur), Earl of Chesterfields "Über die Kunst, ein Gentleman zu sein. Briefe an seinen Sohn in Auswahl" (NZZ), Saskia Lukas "Tag für Tag" (FR) und Gabriele Weingartners "Leon Saint Clairs zeitlose Unruhe" (FAZ).

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Film

Elle Fanning in Woody Allens "A Rainy Day in New York"

Kann man einen neuen Woody-Allen-Film, wie jetzt gerade "A Rainy Day in New York", noch schauen, ohne dabei an die an ihn gerichteten, allerdings auch zumindest ziemlich strittigen Vorwürfe zu denken, die minderjährige Stieftochter sexuell missbraucht zu haben? Das fragt sich jedenfalls Christiane Peitz im Tagesspiegel - hat aber irgendwann von dem Film gehörig die Nase voll, in dem es vor allem um junge Frauen geht, die ältere Männer anhimmeln: "Selbst wenn der Fall je geklärt werden und er unschuldig sein sollte: Figuren wie die dumme Blondine oder sich 'hochschlafende' Frauen haben in dieser Vielzahl nichts auf der Leinwand zu suchen. Jedenfalls nicht in einer Romanze. ... Diesmal ist es umgekehrt: Das Werk kontaminiert die Wahrnehmung des Künstlers. Woody Allen hat sich in die Trotzecke manövriert."

Weiteres: Elisabeth Bauer berichtet in der taz vom Andrei-Tarkowski-Filmfestival Zerkalo in Iwanowo. Claudia Bröll stellt in der FAZ das Labia Theatre in Kappstadt vor, das als "ältestes unabhängiges Programmkino in Südafrika" bezeichnet wird. Rainer Knepperges liefert auf New Filmkritik eine neue Ausgabe seiner Bild/Text-Collagen-Reihe "Auge und Umkreis". Besprochen werden Sam Levinsons HBO-Serie "Euphoria", für ZeitOnline-Kritiker Daniel Gerhardt die passende Serie zur Opioid-Krise in den USA, die Netflix-Serie "The Spy" mit Sacha Baron Cohen (NZZ) und "Hustlers" mit Jennifer Lopez (SZ).
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Architektur

David Chipperfield hat den Erweiterungsbau des Zürcher Kunsthauses am Heimplatz mit einem Vorhang aus Naturstein verhüllt. In der NZZ möchte Sabine von Fischer erst noch die Patina aus Abgasen und Blütenstaub abwarten, um sagen zu können, ob dies eher filigranen Schleier oder Staumauer wird: "Einen Bunker wollte keiner, die Rede war von würdigen Räumen für die Kunst, von einem Ensemble, welches das Kunsthaus Zürich zum grössten Kunstmuseum der Schweiz macht. Grosse Öffnungen reissen die Fassade zum Heimplatz auf und auch die hintere zum 'Garten der Kunst'. Dieses Oszillieren zwischen verhüllter Grazie und brutalistischer Präsenz macht den weißen Kubus interessant und auch etwas geheimnisvoll. Noch etwas fremd steht er seinen älteren Geschwistern am Heimplatz gegenüber."
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Design

Marina Razumovskaya kann es in der taz kaum fassen, dass sie Inès de la Fressange über den Weg gelaufen ist, deren Gesicht in den Achtzigern wie kein zweites für Chanel stand und die heute Mode designt und über Mode schreibt - "Pariser Chic" ist das Stichwort und in Inès de la Fressanges Händen wird das "eine sehr erreichbare Wirklichkeit: dieses leicht Klassische, mit lässiger Haltung und Ironie, die nicht alles nach außen zeigt, ein kleines Geheimnis bewahrt, nicht ganz fertig und nie perfekt ist. Wenn Inès den Chic der Pariserin in sechs Eigenschaften zusammenfasst, dann ist gleich die zweite: 'Sie meidet Komplettausstattung'. Denn das Zauberwort heißt: Kombiniere! Mach was aus den einfachsten Sachen! ... Über die Pariserin heißt es bei Inès: 'Ihre Garderobe ist eine gekonnte Mischung aus 'günstigen' Stücken, Reiseerrungenschaften und einigen Luxusartikeln.'"
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Musik

Verdis "Messa da Requiem" gab es bei Teodor Currentzis' Debüt bei den Berliner Philharmonikern diesmal ganz ohne Showeffekte, berichtet Julia Spinola in der SZ. "Currentzis spannt diesen Verdi konsequent zwischen den Extremen auf: Fortissimo und Pianissimo, äußerste Langsamkeit und panisch gejagte Tempi, harte Akzente, schockhafte Brüche. Einen Normalzustand gibt es ebenso wenig wie dramatische Entwicklung, Atem, Fluss." Doch "Currentzis' Deutung berührt trotz ihrer demonstrativen Radikalität nicht wirklich tief." Erst zum Ende hin "finden die Philharmoniker schließlich zu jenem hyperpräzisen und zugleich beseelten Klang, den man von ihnen gewohnt ist. Man darf gespannt sein, ob dem Debüt von Currentzis auch die Wiedereinladung folgen wird." Beim Dlf Kultur kann man das Konzert nachhören.

Weiteres: Vor allem der Unterricht bei Helmut Zehetmaier habe ihn musikalisch geformt, erzählt der russische Nachwuchsgeiger Aylen Pritchin im FAZ-Gespräch kurz vor seinen ersten Konzerten in Deutschland. Der BR hat ein Gespräch mit dem am Wochenende verstorbenen Mariss Jansons wieder online gestellt. Im Standard verneigt sich Karl Fluch vor Gene Clarks 1974'er Album "No Other", das gerade in einer luxuriösen Neuausgabe herausgebracht wurde. Wir hören rein:



Besprochen werden eine von Mirga Gražinytė-Tyla dirigierte Aufnahme von Arbeiten der zeitgenössischen lettischen Komponistin Raminta Šerkšnytė (ZeitOnline), ein Box-Set mit Prince-Raritäten (Pitchfork), das Berliner Abschiedskonzert des Musikers Bonaparte (taz), ein Rihanna-Bildband (online nachgereicht von der FAZ), ein neues Coldplay-Album (SZ), neue Wiederveröffentlichungen, darunter Alessandro Alessandronis "Spiagge Azzurre" (SZ), und neue Musik aus dem irischen Pop-Untergrund (The Quietus).

Außerdem haben die Kritiker von The Quietus die besten Platten des Jahres gekürt. Auf der Spitzenposition: "For You and I" von Loraine James (hier im Interview). Daraus ein Video:

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