Efeu - Die Kulturrundschau

Für mich ist es Brudermord

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07.12.2019. In der SZ bereitet uns Olga Neuwirth auf ihr Opus summum vor: ihre Oper "Orlando", die morgen in Wien Premiere hat. Die Dresdner Juwelen sind noch weg, aber der Kunstraub von Gotha hat einen Abschluss gefunden: nach 40 Jahren sind die fünf gestohlenen Gemälde wieder aufgetaucht, berichtet der Dlf. Im Interview mit dem Filmdienst erklärt Regisseur Dominik Graf, warum sein neuer Ermittler im Polizeiruf 110 eine Frau ist. Und Handke.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.12.2019 finden Sie hier

Bühne

Szene aus Olga Neuwirths "Orlando", mit Kostümen von Rei Kawakubo. Foto: Staatsoper Wien


Morgen hat an der Wiener Staatsoper Olga Neuwirths zweieinhalbstündige Oper "Orlando" Premiere, nach Virginia Woolfs Roman. Sie hatte viel Spaß beim Komponieren, erzählt Neuwirth im Interview mit der SZ. "Ich nenne das mein Opus summum. Es war bei mir ja schon immer alles vermischt: Genres, traditionelle Instrumente, Elektronik. Die Idee des 'bendings' auf allen Ebenen verfolge ich seit über 25 Jahren. Ich wollte immer androgyne Klänge schaffen. Wo man nicht mehr weiß, ob der Klang Elektronik ist, der elektronische Schatten oder das reale Instrument. Es gibt keine hermetische Form, kein Durcharbeiten von Material, sondern eine große fließende Form. Vor 25 Jahren hieß es oft, ich könne daher nicht komponieren und wolle mein kompositorisches Nichtwissen mit Videos, die ich schon immer gerne eingesetzt habe, verdecken."

Szene aus "Glaube und Heimat" am Berliner Ensemble. Foto: Matthias Horn


Das Drama "Glaube und Heimat", 1910 vom österreichischen Dramatiker Karl Schönherr verfasst, erzählt von einer Begebenheit in Tirol nach der Reformation, als die Anhänger Luthers sich entscheiden müssen, entweder ihrem Glauben abzuschwören oder vertrieben zu werden. Michael Thalheimer hat das Stück am Berliner Ensemble in eine unbestimmte Gegenwart geholt. In der nachtkritik ist Falk Schreiber hin und her gerissen von dem Ergebnis: "'Glaube und Heimat' ist einerseits die stimmigste Thalheimer-Arbeit seit langem" und die aktuellste, nähert sie sich doch auch einer "vergleichbaren Religionsspaltung: der Spaltung zwischen schiitischen und sunnitischen Muslimen. Aber das ist eine Spur, die die Inszenierung nicht weiter verfolgt, im Gegenteil schreibt Bernhard Schlink für das Programmheft einen Aufsatz, in dem er die Menschheit leichterhand als Vertreibungsspezies skizziert und ohne jegliche Differenzierung Deutsche in Ostpreußen, Palästinenser in Israel und Rohingya in Myanmar gleichsetzt. Wer Aktualisierungen so unbedarft in den Raum stellt, der kann es auch gleich bleiben lassen."

"So ein Theater möchte man sehen", ruft in der FAZ Simon Strauß, der Thalheimers Inszenierung "phänomenal" fand. In der Berliner Zeitung winkt Ulrich Seidler dagegen ab: "Was ist der Antrieb, so ein Stück auf die Bühne zu bringen? Weil der Titel zwei Reizbegriffe heutiger Debatten liefert? Kann das vom Völkischen Beobachter als Blut-und-Boden-Stück gefeierte Drama als ideologiekritische Schreckensfolie hergenommen werden? ... Egal, Hauptsache schick." Und auch taz-Kritikerin Katrin Bettina Müller bleibt skeptisch.

Weitere Artikel: In der NZZ stellt Michael Stallknecht die Thesen des britischen Altphilologen Armand D'Angour vor, der die Theaterpraxis der Antike "aufregend neu" deutet. Und in der Berliner Zeitung stellt Cornelia Geißler Ronald M. Schernikaus Buch "Legende" vor, dass am 11. Dezember auch in der Volksbühne zur Aufführung kommt.

Besprochen werden außerdem Martin Kušejs Inszenierung von Kleists "Hermannsschlacht" in Wien (Zeit), Amélie Niermeyers Inszenierung von Tschechows "Kirschgarten" am Theater in der Josefstadt in Wien (nachtkritik, Standard), Simone Blattners Inszenierung von Molières "Der eingebildete Kranke" am Theater Bonn (nachtkritik), "Die Hochzeit des Figaro" an der Oper Stuttgart (FR), die Uraufführung von Anne-Cécile Vandalems Stück "Die Anderen" an der Berliner Schaubühne (FAZ), Nicola Raabs Inszenierung von Giuseppe Verdis "La traviata" an der Komischen Oper Berlin (flach und "blutlos", findet ein ratloser Clemens Haustein in der FAZ) und Pina Bauschs Gluck-Interpretation "Iphigenie auf Tauris" in Dresden (FAZ).
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Literatur

Mit skatologischen Vergleichen - anonym zugeschickte, nicht mehr unbenutzte Klopapiere seien ihm lieber als die Fragen kritischer Journalisten - wandte sich Peter Handke bei seiner gestrigen Nobelpreis-Pressekonferenz explizit gegen Peter Maass, berichtet der Intercept-Journalist, der wie kein zweiter in den Kontroversen der letzten Wochen die Causa Handke aufgearbeitet, durchleuchtet und mit Enthüllungen befeuert hat.
Andreas Platthaus von der FAZ findet an der Art Handkes zumindest lakonisch anerkennendes Gefallen: "Handke lässt den Brief sinken und wendet sich direkt an Maass: 'Ich habe seit der Zuerkennung des Nobelpreises viele Briefe von wahren Lesern bekommen, aber das hier nenne ich eine Kalligrafie der Scheiße. Und ich bevorzuge Toilettenpapier gegenüber Ihren endlos wiederholten Fragen. Mein Volk sind die Leser, nicht Sie!' Dann ist die Konferenz aus. Handke ist einmal mehr aus der Rolle gefallen. Und dabei seiner Rolle treu geblieben." Ähnlich schreibt Thomas Steinfeld in der SZ: "Man merkte vor allem den schwedischen Journalisten an, dass sie nicht zufrieden waren. Was aber hatten sie erwartet?" Michael Wurmitzer vom Standard bezeugt einen gemäßigten Handke, von Skandal seiner Ansicht nach keine Spur. "Handke ist ein Trotzkopf", äußert sich der Germanist Klaus Kastberger im Standard-Interview.

Einen Schatten auf die Pressekonferenz warf die Tatsache, dass ein Akademiemitglied, der Historiker Peter Englund, im Vorfeld bekannt gab, die Nobelwoche als Protest gegen Handke zu boykottieren, wie dpa meldet.

In einem Porträt im schwedischen Fernsehen hatte Handke sich zuvor zum Massaker von Srebrenica geäußert, berichtet Reinhard Wolff in der taz. "Den auch da angesprochenen Vorwurf, er habe vor allem in seiner 1996 erschienenen Essay 'Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien' den Völkermord in Srebrenica verneint, wies er zurück: 'Für mich ist es schlimmer, viel schlimmer. Es war ein Brudermord. Das ist mein Wort als Schriftsteller. Ich bin kein Jurist oder Richter. Für mich ist es Brudermord.'"

Immerhin ein Gutes habe die Auszeichnung Handkes ja, meint in der taz Doris Akrap im selbstkritischen Blick zurück auf die deutsche bis antideutsche Linke der Neunziger, von der sie ein Teil war: "Noch einmal musste die ganze Welt darüber reden, dass es mitten in Europa nach dem Ende des Nationalsozialismus einen Genozid gegeben hat. Noch einmal musste die ganze Welt sich fragen, wie das trotz der Losung 'Nie wieder' eigentlich passieren konnte."

In der SZ wirft Thomas Urban einen Blick auf die polnischen Reaktionen auf die Auszeichnung für Olga Tokarczuk. Vor allem dem rechten Rand steht der Schaum vorm Mund: "Tokarczuk gibt mit ihrem Eintreten für Frauenrechte und sexuelle Minderheiten, mit ihren Rastasträhnen und Perlen im Haar für ihre Kritiker seit Langem ein ideales Feindbild ab, was sich unter anderem in der Häme über das 'alternde Hippie-Mädchen' niederschlägt. Der katholisch-konservative Publizist Grzegorz Górny befand, das Nobelpreiskomitee werde schon lange von 'linken Kräften' dominiert. Die viel gelesene Webseite Wpolityce.pl ergänzte: 'Wenn ein literarisches Werk von Antikonservatismus, linkem Denken und Feminismus durchsetzt ist, bringt das Punkte.' Das Nobelkomitee habe mit der Entscheidung für Tokarczuk bewiesen, dass es "am Tiefpunkt" angelangt sei."

Die Doppelauszeichnung in dieser Konstellation ist äußerst ärgerlich, schreibt Marie Schmidt auf der Meinungsseite der SZ. Sie gehe zulasten Tokarczuks, die viel zur Gegenwart zu sagen hat. "Die Dynamik öffentlichen Interesses geht aber leider dahin, dass eine verantwortungsvolle Haltung und ein pluralistisches Weltbild, wie das von Olga Tokarczuk, respektvoll nickend zur Kenntnis genommen wird, während die tatsachenresistenten Einlassungen eines Peter Handke wochenlange Debatten auslösen."

Auch Alida Bremers Perlentaucher-Essay spielte in der schwedischen Debatte eine wichtige Rolle. Akademiemitglied und Juror Henrik Petersen antwortete in Aftonbladet unter anderem auf diesen Essay.

Themenwechsel: "Es muss doch ein Leben geben zwischen U und E", ruft ein schier verzweifelter Roman Bucheli in einem NZZ-Essay wider den Dünkel des Elfenbeinturms gegenüber dem Massengeschmack. Und wie immer bei solchen Hilferufen fragt man sich, warum dann das eigene Lese- und Rezensionsverhalten nicht einfach geändert wird. "Hierzulande fehlt uns noch immer die Leichtigkeit, das vorgeblich Hohe neben dem angeblich Niedrigen zu sehen, es fehlt uns die Lust, die Grenzen zu durchbrechen und niederzureißen."

Weiteres: In einem Essay für die Literarische Welt trauert Michael Pilz um die Fichte, die sich aus dem deutschen Tann klimawandelbedingt verabschiedet. Besprochen werden Stefanie de Velascos "Kein Teil der Welt" (taz), Antonio Munoz Molinas "Schwindende Schatten" über den Mörder Martin Luther Kings (online nachgereicht aus der FAZ), Mircea Cărtărescus "Solenoid" (SZ), der Briefwechsel zwischen Sarah Kirsch und Christa Wolf (Literarische Welt) und die neue Ausgabe der Werke Johann Peter Hebels (FAZ).
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Kunst

Der Kunstraub in Dresden muss erst noch aufgeklärt werden, der Kunstraub von Gotha 1979 hat jetzt einen Abschluss gefunden: nach vierzig Jahren sind die fünf gestohlenen Gemälde wieder aufgetaucht, berichten Stefan Koldehoff und Tobias Timm im Deutschlandfunk: "Die Hintergründe der Tat in einer kalten Winternacht in Thüringen liegen allerdings noch im Dunklen. Der Einbruch in das Schlossmuseum Gotha im Jahr 1979 war der aufsehenerregendste Kunstdiebstahl in der Geschichte der DDR - und bislang einer der größten Fälle von Kunstkriminalität, die niemals aufgeklärt wurden. Dass im Überwachungsstaat DDR eine solche Tat überhaupt möglich war, hatte schon damals weltweit für Aufsehen gesorgt. Die Beute - fünf Gemälde, die damals Jan Brueghel dem Älteren, Anthonis van Dyck, Frans Hals, Hans Holbein dem Älteren und Rembrandts Zeitgenossen Jan Lievens zugeschrieben wurden - blieb vier Jahrzehnte lang verschwunden und überstand sogar einen politischen Systemwechsel im Verborgenen - bis sie nun vor wenigen Wochen wieder auftauchte."

"Wie das LKA dem Tagesspiegel bestätigte, wird gegen zwei Verdächtige im Alter von 54 und 46 Jahren ermittelt, wegen Verdachts der Hehlerei und der Erpressung", erzählt Christiane Peitz im Tagesspiegel. "Schon das Alter macht offenkundig, dass es sich nicht um die Diebe von damals handeln kann. Der Clou und Coup ist aber ein anderer: Der eigentliche Diebstahl ist verjährt, der Herausgabeanspruch jedenfalls seit zehn Jahren erloschen. Erst durch die Rückführung - für besagte Prüfung seitens der rechtmäßigen Eigentümer - wurde die jetzige Beschlagnahme überhaupt möglich. Ein toller Trick."

Weiteres: in der FR gratuliert Peter Iden dem Maler Arnulf Rainer zum Neunzigsten. Besprochen wird eine Ausstellung der Fotokünstlerin Johanna Diehl im Haus am Waldsee in Berlin (Berliner Zeitung).
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Film

Power: Verena Altenberger im neuen Polizeiruf 110 von Dominik Graf (BR)

Am Sonntag läuft ein neuer, von Dominik Graf gedrehter "Polizeiruf 110"-Krimi, über den Josef Schnelle für den Filmdienst mit dem Regisseur gesprochen hat. Im Mittelpunkt des neuen bayerischen Polizeirufs, der dem Produktionszyklus mit Matthias Brandt folgt, steht mit der Ermittlerin Elisabeth Eyckhoff (Verena Altenberger) eine Frau - was gut zum Spätwerk Grafs passt, das vor allem von Frauen bevölkert ist. Woran das liegt, weiß er selbst nicht so genau: "Ich bin eigentlich überhaupt nicht genderaffin; ich halte nichts davon, dass man jetzt unbedingt über Frauen erzählen muss. Das ist nicht mein Anliegen. Dennoch sind die Hauptfiguren meiner Filme seit zehn Jahren fast nur noch Frauen. Das verblüfft mich selbst. Vielleicht bewegen mich die Frauen ja doch mehr. Vielleicht haben sie uns schon immer mehr bewegt, und meine Generation hat das nur noch nicht kapiert."

Allerdings Obacht: Am Sonntagabend zeigt das Fernsehen aus Rücksicht auf die zarten Seelen der Jugend eine gekürzte Version mit Freigabe ab 12 Jahren. Eine gnädigerweise auch Erwachsenen zugestandene Version ab 16 läuft erst in der Montagnacht um 00:35 und täglich ab 22 Uhr in der Mediathek.

Wenn man ihn für Filme als Schauspieler engagiert, ist Werner Herzog, der sich mit solchen Auftritten seine eigenen Filme finanziert, in der Regel auf finsterste Bösewichte abonniert: "Ganz anders als im richtigen Leben", sagt der bayerische Kino-Berserker im Welt-Interview, anlässlich des Europäischen Filmpreises, der ihm heute Abend für das Lebenswerk verliehen wird. "Meine Frau würde ihnen bestätigen, dass ich ein kuscheliger Gatte bin."

Besagte Verleihung des Europäischen Filmpreises wird von der anhaltenden MeToo-Kontroverse um Roman Polanski überschattet, wie Andreas Busche im Tagesspiegel berichtet. Für Deutschland nominiert ist unter anderem Nora Fingscheidts "Systemsprenger" über ein eskalierendes Kind (unsere Kritik). Mit dessen Darstellerin Helena Zengel hat sich Gunda Bartels für den Tagesspiegel getroffen. Besprochen wird Markus Schleinzers "Angelo" über Angelo Soliman, der im 18. Jahrhundert aus Afrika nach Wien verschleppt wurde (Freitag).
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Musik

Christian Werthschulte wirft für die taz einen Blick nach Großbritannien, wo im Wahlkampf-Endspurt die Rapszene ihr Herz für die Sozialdemokratie entdeckt. In Südkorea hat sich binnen weniger Wochen mittlerweile der dritte Popstar umgebracht, diesmal ein Sänger, Cha In Ha. Vermutet wird dahinter der extreme Druck, den die Künstlerinnen und Künstler in einer erbarmungslosen Industrie ausgesetzt sind. "Hinter den Kulissen des patriarchalen K-Pop-Geschäfts tun sich Abgründe auf", schreibt dazu Fabian Kretschmer in der taz. Für ZeitOnline hat sich Ulrich Stock mit der Vibrafonistin Els Vandeweyer getroffen. Im Tagesspiegel staunt Frederik Hannsen über den Erfolg des Geigers Dylan Blackmore. In der SZ verteidigt Jan Jekal die allgemein als peinliches Relikt der 00er-Jahre empfundene Poppunkband Blink 182: Deren Einfluss auf den Charts-Hiphop der Gegenwart sei nämlich durchaus beachtlich. Dlf Kultur feiert Tom Waits' 70. Geburtstag mit einer Langen Nacht von Knut Benzner. Stefan Hentz (NZZ), Jan Wiele (FAZ) und Ulrich Amling (Tagesspiegel) gratulieren.

Besprochen werden ein Abend mit Grigory Sokolov in Wien (Standard), ein Schostakowitsch-Konzert des Tonhalle-Orchesters unter Joshua Weilerstein (NZZ) und das Debüt der Schlager-Popband Yvon (Freitag).
Archiv: Musik