Efeu - Die Kulturrundschau

Drama mit Reißwolfeffekt

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16.12.2019. Zum Tod von Anna Karina blicken die Feuilletons noch einmal der Nouvelle-Vague-Heroine in die Augen und sehen pure Kino-Poesie. Die Nachtkritik erlebt in Düsseldorf, wie David Bösch Heinrich VI. gegen die Realpolitik des Schwertes verteidigt. Der Standard huldigt Chris Ware, dem James Joyce des Comics. Zu Beginn der anstehenden exzessiven Beethoven-Feiern scheinen FAZ und SZ festen Willens, sich den Komponisten nicht madig machen zu lassen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.12.2019 finden Sie hier

Film

Sie war das weibliche Gesicht der Nouvelle Vague: Die Feuilletons trauern um die Schauspielerin Anna Karina. Marion Löhndorf erinnert sich in der NZZ an Karinas Meditation über die Liebe in Godards "Lemmy Caution gegen Alpha 60", bei der "die Kamera auf ein Auge der Schauspielerin gerichtet blieb, in Großaufnahme. Manchmal taucht ihr im Schwarz-Weiß-Dunkel verschwindendes Gesicht auf. So fragmentiert und tastend wie die Bilder ist der dazugehörige Text über die Schönheit und das Begehren, den Anna Karina spricht. ... Pure, transzendente Kino-Poesie. Diese Momente erinnern an Godards eigene Erklärung der Nouvelle Vague: 'Kino nannten wir die Filme, die wir nicht sehen konnten. Kino war das Unsichtbare.' Anna Karina gab diesem Mysterium ein Gesicht, eines der schönsten in der Geschichte des Kinos."



Für Tagesspiegel-Kritiker Rüdiger Schaper sticht vor allem Godards "Eine Frau ist eine Frau" heraus: "Godards charmantester Film, eine Pariser Beziehungskomödie, verdankt Anna Karina alles. Die verliebte Kamera geht immer wieder auf ihr Gesicht, sie blickt verliebt zurück. Junge Menschen, nett, chaotisch, mit einer fröhlichen Libido. Liebe tut nicht weh, sehr französisch."



SZ-Kritiker Fritz Göttler lässt die traurige Nachricht an "Die Außenseiterbande" denken, in dem für einen Moment lang "die reine Anarchie" herrscht - und zwar "in der berühmten Szene im Café. Anna Karina, in schwarz und mit Pferdeschwanz, versucht ihrem Freund Claude Brasseur mit den Fingern ein paar Tanzschritte zu erklären, schließlich schieben sie die Tische weg, ein weiterer Freund kommt dazu, Sami Frey, er setzt Anna seinen schwarzen Hut auf, und gemeinsam fangen sie an, die Schritte in Wirklichkeit zu tanzen, zwei zur einen, zwei zur anderen Seiten, mit den Fingern schnipsen, mit den Händen klatschen. Eine Freiheit wird spürbar, eine Zukunft, ein Glück."



Anna Karina hat mit "Vivre Ensemble" im Jahr 1973 auch einen eigenen Film gedreht, erinnert Bert Rebhandl in der FAZ. Wirklich gerecht werden könne man Karina nur, wenn man diesen Film nicht vergisst: Er ist schon im Titel "eine 'Antwort' auf Godards 'Vivre sa vie': Gegen die alte Konstellation vom Künstler und seinem Modell suchte Anna Karina nach einem 'Miteinander', das man im Weltkino wohl erst seit den Erschütterungen von #metoo so richtig zu begreifen und zu suchen beginnt."



Außerdem: Dominik Kamalzadeh spricht im Standard mit der Regisseurin Céline Sciamma über deren Film "Porträt einer jungen Frau in Flammen". Tobias Kniebe (SZ) und Dirk Peitz (ZeitOnline) schreiben Nachrufe auf den Schauspieler Danny Aiello. In der FAZ gratuliert Dietmar Dath Don Johnson zum 70. Geburtstag, den dieser am gestrigen Sonntag feiern konnte. Besprochen werden Quentin Dupieuxs lakonische Groteske "Die Wache" (Freitag, SZ, mehr dazu bereits hier) und Michaela Lindingers Biografie über Hedy Lamarr (SZ).
Archiv: Film

Bühne

Sonja Beißwenger, André Kaczmarczyk, Sebastian Tessenow in "Heinrich VI." Foto: Sandra Then / Düsseldorfer Schauspielhaus

David Bösch bringt in Düsseldorf Shakespeares Heinrich VI. in der schlanken Version Tom Lanoyes auf die Bühne, die den Kindkönig gegen die "Realpolitiker des Schwertes" verteidigt, wie Andreas Wilink in der Nachtkritik schreibt. Heinrich als "Kind des Jammers" geht dem Kritiker allerdings nicht tief genug, er hätte sich mehr ästhetische Radikalität gewünscht: "Schall und Wahn regieren, es würgt und wehklagt, Schurken sind Schurken, der Gegner wird entleibt, Köpfe rollen. Das Luder Margaretha di Napoli geht als Charakter zunächst ganz auf in ihrem roten Fummel und im Weiß der Braut, bevor sie sich zur Furie aufzäumt, den Weibsteufel aus sich gebiert und als Mater Dolorosa endet." In der SZ reicht Alexander Menden der gebotene Blut- und Machtrausch voll und ganz, zumal ihm der Fokus auf Margaretha von Napoli gut gefällt: "Tom Lanoyes furioses Textkonzentrat und Böschs kongeniale, als wirkungsvolles Crescendo der Gewalt angelegte Umsetzung haben aus 'Henry VI.' ein Drama mit Reißwolfeffekt gemacht: Alle, die der Macht zu nahe kommen, werden darin zerfetzt: Männer wie Frauen. Dabei deutet der Abend das historische Hinterland der Vorlage gerade so weit an, dass kein Zweifel bleibt: Früher war es genauso schlimm, und in Zukunft wird es wohl noch schlimmer.

Weiteres: Frederik Hanssen lässt sich im Tagesspiegel-Interview von Anna Netrebko und ihrem Mann Yusif Eyvazov erklären, wie man seine Opernkarriere clever angeht.

Besprochen werden Yana Ross' in die Psychiatrie verlegte Inszenierung von Tschechows "Kirschgarten" (die FAZ-Kritiker Simon Strauss wenig von Tschechows "traurig funkelnder Komik" übrig lässt, NZZ, Nachtkritik), Péter Eötvös' Oper "Der goldene Drache" in Dresden (NMZ) Toshiki Okadas Stück "The Vacuum Cleaner" über die japanischen Nesthocker, die trägen Hikkomori, an den Münchner Kammerspielen (taz), Mozarts "Don Giovanni" in Karlsruhe (FR), Alexander Eisenachs fortgesetzte Recherche zum "Prinzip Krull" am Berliner Ensemble (Berliner Zeitung, Nachtkritik).
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Kunst

Der Kunststandort Berlin hat sich als Potemkinsches Dorf erwiesen, konstatiert Kolja Reichert in der FAS nach dem Aus für die Kunstmesse Art Berlin. Nun sei das Fassadendorf zusammengestürzt: "Bis zu dieser Woche war es Berlin gelungen, das Bild einer Kunsthauptstadt zu halten. Auch wenn die Galerien ihre Umsätze woanders machen. Auch wenn man immer länger nachdenken muss, wenn Gäste fragen, welche Ausstellungen man gerade sehen sollte, weil die staatlichen Museen unter den Geldabsaugeglocken Humboldtforum und Museum der Moderne nicht mehr in der Lage sind, sich eine Ausstellung auszudenken, die über die Stadt hinausstrahlte (nehmen wir Jack Whitten im Sommer im Hamburger Bahnhof aus)."

Im Standard bringt Olga Kronsteiner Updates zu den Kunstdiebstählen von Gotha und Piacenza. Besprochen werden eine Schau des chinesischen Fotokünstler Ren Hang im C/O Berlin (taz), eine Brâncuşi-Retrospektive im Brüsseler Museum Bozar (FAZ) und die Theaster-Gates-Ausstellung "Amalgam" in der Tate Liverpool (Guardian).
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Literatur

Atemberaubende Konstruktionen: Chris Wares "Rusty Brown" (Randomhouse)

Tief versenken muss man sich in die vertrackt-verschachtelten, grenz-manisch strukturierten Comics von Chris Ware, den Kritiker schon mal zum James Joyce seiner Gattung ausgerufen haben. Im Standard porträtiert Karin Krichmayr den Künstler: Auch in seinem neuen Werk "Rusty Brown Pt.1" erzählt er seine Geschichte wieder "durch ein verblüffend ausgefeiltes Arrangement an Kästchen, orchestriert mit verschiedensten Textformen und -elementen, nur manchmal unterbrochen durch ein einzelnes ruhiges Bild, das dem Geschehen Raum und dem Leser Luft zum Atmen gibt. Denn die Inszenierung ist schlicht atemberaubend. Zeitsprünge führen vor und zurück, nur um immer wieder im fiktiven Jetzt zu enden, Gedanken und Erinnerungsschnipsel schweben in kleinen Blasen zwischen den Panels oder geben, abgehoben durch Schrift und Farbe, dem Geschehen eine weitere Dimension. Im Zusammenspiel mit meist hauchzarten Geräuschwörtern ergibt das ein synästhetisches Erlebnis."

Dazu passend: Die beiden Literaturwissenschaftler Joao Cezar de Castro Rocha und Hans Ulrich Gumbrecht verkünden in der NZZ, dass ihre Studenten das Lesen anspruchsvoller Literatur von Joyce bis Pynchon entgegen aller Aufweichung literaturwissenschaftlicher Standards in Richtung Cultural Studies als Akt des Widerstands für sich wiederentdeckt haben. Doch "'Widerstand' leisten die Texte nun nicht mehr im Sinn einer kritischen Funktion, ... vielmehr bezieht sich das Konzept jetzt auf das unmittelbare Erleben des Lesers. Wer liest - und zwar nicht nur gelegentlich oder zur Überbrückung leerer Momente, sondern mit einem Fokus im Sinne der literarischen Tradition -, hält sich einen Freiheitsraum offen, den ihm niemand streitig machen kann. ... In einer Gegenwart der Informationsflut, des Kampfs mit beständiger Entscheidungsnotwendigkeit und der Ablenkungen, die wir nicht auszublenden vermögen, stellt der Widerstandsakt der Lektüre den für unsere Existenz ersehnten Halt in Aussicht. Und dafür verdient die Literatur eine neue Aura."

Weiteres: Für den Standard unterhält sich Manfred Rebhandl mit der Schriftstellerin Daniela Emminger. Besprochen werden Rachel Kushners "Ich bin ein Schicksal" (Standard), Antje Schrupps Essay "Schwangerwerdenkönnen" (taz), Petina Gappahs "Aus der Dunkelheit strahlendes Licht" (Zeit), ein Band mit Gesprächen zwischen Anna Seghers und Achim Roscher (Freitag), Tina Brenneisens autobiografischer Comic "Das Licht, das Schatten leert"  (Tagesspiegel), Rachel Cusks "Lebenswerk. Über das Mutterwerden" (Freitag), Qiufan Chens Science-Fiction-Roman "Die Siliziuminsel" (Zeit), Ernst-Wilhelm Händlers "Das Geld spricht" (Standard), und neue Hörbücher, darunter Angelika Thomas' Lesung von Olga Tokarczuks Krimi "Gesang der Fledermäuse" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Hans Christoph Buch über Heinz Pionteks "Die Furt":

"Schlinggewächs legt sich um Wade und Knie,
dort ist die seichteste Stelle.
..."
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Musik

Joseph Karl Stieler: Beethoven mit dem Manuskript der Missa solemnis
1820, © Beethoven-Haus Bonn
Zwei Bonner Ausstellungen - eine große in der Bundeskunsthalle, eine kleinere in Beethovens Geburtshaus - läuten offiziell das Beethovenjahr 2020 ein. In beiden Häusern lernt man Beethoven als Mensch seiner Zeit kennen, es gehe dabei aber nicht um Dekonstruktionen, wie sie lange in waren, berichtet Jan Brachmann in der FAZ. Vielmehr möchte man "erzählen, wer Beethoven war, ihn aus seiner Zeit heraus begreifen, ohne ihn vorab zu überhöhen. Von Reinhart Kosellecks Begriff der 'Sattelzeit', des Übergangs von der Feudalgesellschaft zur bürgerlichen Epoche mit eigenen Formen der Repräsentation, des Personen- und Warenverkehrs, hat man sich leiten lassen. Ziemlich sinnfällig beschreibt die Ausstellung, wie Beethovens Musik in die alten Räume adliger Repräsentation einmarschiert, sie in Gestalt öffentlicher Konzerte besetzt und neue bürgerliche Versammlungsformen schafft, zu denen das interessierte Subjekt durch Geld, nicht durch Herkunft, Zugang erhält."

Ein Glücksfall ist es, meint Johan Schloeman in der SZ, der davon überzeugt ist, dass auch der zu erwartende Beethoven-Exzess des kommenden Jahres dem Komponisten langfristig nicht schaden wird, zumal beide Ausstellungen "nicht die übermächtige geistes- und musikgeschichtliche Wirkungsgeschichte in den Mittelpunkt stellen, wie das vielen Museumsmachern heute naheliegt, sondern sich erst einmal gegen diese Vermischung entschieden haben. ... Am Ende gewinnt dann aber doch der idealistische Überschuss: Man kann in Bonn in einen Beethoven-Rausch geraten, so dass man auch in einer gebrochenen, besorgten Zeit fast noch einmal an dessen Überzeugung glauben mag: 'Freyheit, weiter gehen ist in der Kunstwelt, wie in der ganzen großen Schöpfung, zweck.'" Außerdem führen Regine Müller (Tagesspiegel) und Manuel Brug (Welt) durch die Bonner Schauen. Im Dlf Kultur spricht René Aguigah mit Igor Levit über Beethoven.

Karl Fluch wirft für den Standard einen Blick in die südkoreanische Popszene, wo die Stars dem immensen Druck der Industrie derzeit gefühlt massenhaft in den Suizid entfliehen: "Fehlverhalten löst Liebesentzug aus, führt zu Cybermobbing und Hasspostings. Was Fehlverhalten ist, bestimmen die Verwertungsfirmen. Bis hin zum Beziehungsverbot ihrer Stars geht das. Sex? Drogen? Exzentrische Ansichten? Alles tabu. Sogar die Börsenkurse können unter Verfehlungen leiden. Fit gemacht für dieses Leben werden die Auserwählten in mehrjährigen Trainee-Programmen. Untergebracht sind sie in Gemeinschaftswohnungen, trainiert wird bis zu 13 Stunden am Tag, Zeit für ein selbstbestimmtes Leben ist nicht vorgesehen, die Kids müssen liefern. Das ideale Einstiegsalter liegt bei zehn, elf Jahren."

Weiteres: Für die NZZ porträtiert Adrian Schräder die Popsängerin Lizzo. Regine Müller stellt in der NZZ das italienische Label Odradek Records vor, das sich so sehr der künstlerischen Freiheit verschrieben hat, dass Einreichungen nur anonymisiert akzeptiert werden. Für die Jungle World zieht Maik Bierwirth das vor 40 Jahren erschienene Clash-Album "London Calling" aus dem Schrank. Besprochen werden das neue Album von The Who (NZZ), das neue Album der irischen Folkband Lankum (NZZ) und ein Auftritt der Young Gods (NZZ).
Archiv: Musik

Design

Messerschmitt, KR200 Cabin Scooter Bubble Top, 1959. © Louwman Museum Den Haag / V&A Museum

Die große Auto-Schau im Victoria & Albert Museum in London hat immensen Reiz, versichert Marion Löhndorf in der NZZ - zumal sich hier auch "Kritik in die Lust am Thema" mische, die vor Hinweisen auf die Auswirkung der Autoindustrie nicht halte mache. Im Vordergrund stehe allerdings schon merklich die Designgeschichte: "Da ist der erste massenproduzierte Wagen, Ford Model T, der knallgelbe 'massgeschneiderte' Chevrolet Impala von 1962, ein Mustang vor einem im Dauer-Loop gezeigten Ausschnitt von 'Bullit' (1968), in dem Steve McQueen am Steuer saß. Auf der anderen Seite verkündet eine Werbung der Energiefirma Humble aus den siebziger Jahren stolz: 'Jeden Tag liefert Humble genug Energie, um 7 Tonnen Gletscher zu schmelzen!' Das Beweisfoto eines solchen Gletschers liefert die Reklame gleich mit. Die Zeiten ändern sich. In Vergessenheit geriet auch die Inspiration, die das Auto dem Flugzeug zu verdanken hat. 'Auf merkwürdige Weise hat das Auto immer schon davon geträumt, ein Flugzeug zu sein', sagt Brendan Cormier, einer der Kuratoren."
Archiv: Design