Efeu - Die Kulturrundschau

Das Weiß von Bonnard

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.12.2019. Die SZ badet mit Pierre Bonnard in Licht und Wärme. Die FR fragt, wozu wir Jurys und die Idee der Exzellenz brauchen: als Diskussionsgrundlage oder als Herrschaftsinstrument? Die Nachtkritik verbringt einen hinreißenden Abend mit René Pollesch im epischen Theater. Die NZZ jubelt über Lydia Steiers Inszenierung der "Indes galantes" in Genf, die  stahlhelmbewehrte Kriegertruppe durch Rameaus Barockwelt jagt. Die Welt fragt, wozu Düsseldorf das Deutsche Fotoinstitut braucht.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.12.2019 finden Sie hier

Kunst

Pierre Bonnard: Akt in einem Interieur, um 1935. © National Gallery of Art, Washington
Catrin Lorch feiert in der SZ die große Pierre-Bonnard-Ausstellunge nach Stationen in London und Kopenhagen nun im Bank Austria Kunstforum in Wien angekommen ist. Lorch badet geradezu in Schönheit, Wärme und sanftem Licht: "Zwischen den hohen Säulen ist die Wirkung der Gemälde atemberaubend. Vor allem das Kolorit ist überwältigend. Wie viele Künstler seiner Zeit, wie Van Gogh oder Gauguin, hat auch Bonnard japanische Farbholzschnitte studiert. Sein Werk hat allerdings weder die starken Konturen noch die offensichtlich effektvollen Kontraste übernommen, sondern die Farbigkeit aufgesogen und die fast mutwilligen Kompositionen und Perspektiven der fernöstlichen Bildsprache. Es ist vor allem das Weiß von Bonnard, das von Japan gelernt hat. Es wirkt nie leer auf der Leinwand, weil Bonnard es wie eine Farbe verwendet."

Beim britischen Turner-Preis haben die vier KandidatInnen in diesem Jahr die Jury ausgehebelt und sich selbst zu allesamt preiswürdig erklärt. In der FR findet Petra Kohse das durchaus sympathisch, hat aber einige Fragen: Ist Kunst dann noch diskutierbar? Oder wird nur die Evaluierung als Herrschaftsinstrument obsolet? "Eines jedenfalls lässt sich nicht ignorieren: Nach der publizistischen und kulturellen Selbst-Ermächtigung Ausdruckswilliger durch die Möglichkeiten des Internets, werden jetzt auch die Strukturen und Plattformen der analogen Kulturöffentlichkeit verhandelt. Ganz aufgeben wird man die Zugangsbeschränkung ressourcenbedingt nicht können. Aber mit nur ein paar äußerlichen Reformen werden die bisherigen Eliten sicher nicht davonkommen."

Welt-Kritiker Dankwart Guratzsch fühlt mit Dresden, das im Rennen um das Deutsche Fotoinstitut von Düsseldorf geschlagen wurde. Wieder einmal, bedauert er, geht ein wichtiges Bundesinstitut nicht in die neuen Länder, wieder einmal schüttet der Bund sein Füllhorn - 41,5 Millionen Euro - über dem Westen aus. "Waren die Sachsen womöglich zu schwach, um den großen Fisch ans Elbufer zu ziehen? Oder haben sie nicht laut genug 'Wir sind auch noch da!' geschrien?"
Archiv: Kunst

Bühne

René Polleschs "(Life on Earth can be sweet) Donna" am Deutschen Theater. Foto: Arno Declair

Witz, Intellektualität und Schauspielkunst auf allerhöchstem Niveau erlebte Nachtkritikerin Esther Slevogt bei René Polleschs Abend "(Life on earth can be sweet) Donna" im Deutschen Theater in Berlin. Besonders gut gefiel ihr, wie sich Martin Wuttke und Milan Peschel in Pappautos verwandelte, um Brechts Straßenszene vorzuführen: "Dabei wird hier über satte hundert Minuten lang so hinreißend Theater gespielt, dass sich zumindest die Frage nach dem richtigen Theater tendenziell als überflüssig erweist. Zumindest solange das Theater über Schauspieler wie Martin Wuttke und Milan Peschel verfügt, muss vielleicht einschränkend hinzugefügt werden. Als Spielzeugautos sind beide so perfekt unter ihrer Pappkarosserie zusammengerollt, dass sie ihr jeweiliges Gefährt so fast unsichtbar (und gänzlich CO2neutral) fortbewegen können. Dann wieder erheben sie sich zum Extemporieren von Polleschs beziehungsreich-versponnenem aber auch leicht schrulligem Textgeflecht, und alle Autoteile fallen an ihnen virtuos komponiert wie Kostümteile herab."

SZ-Kritiker Peter Laudenbach bescheinigt Pollesch eine "sehr lässige Großmeisterschaft". In der Berliner Zeitung frohlockt Ulrich Seidler, der sich von Pollesch freudig ins Dilemma von Schein und Sein, von Identität und Transformation stießen ließ: "Warum macht das so frei und glücklich?" Weitere Besprechungen in FAZ und Tsp.

Rameaus "Les indes galantes" am Grand Théâtre de Genève. Foto: Magali Dougados

Von einem aufregenden Opernabend berichtet Christian Wildhagen auf Genf, wo Lydia Steier mit Rameaus Barockoper "Les Indes galantes" das Publikum in Scharen aus dem Saal trieb. Dabei hatte alles schön harmlos angefangen: "Ja, denkt man noch, so schuldlos-sündig mag es zugehen im Paradies, zumal wenn der Hofcompositeur Rameau und sein himmlischer Kapellmeister Alarcón heißen. Doch wumms! Da stürmt Bellone, Handgranaten werfend, mit seiner schwarz uniformierten, stahlhelmbewehrten Kriegertruppe das Theater und macht sofort in brutalster Weise klar, dass ihm jeder Sinn für die Segnungen des Locus amoenus am Maschinengewehr vorbeigeht. Da wird die Schönheit zertrampelt, Menschen werden geschlagen, gedemütigt, gefoltert, dass es beim Zusehen wehtut. Steier aber hat uns schlagartig dort, wo jeder Regisseur sein Publikum haben will: mittendrin, anteilnehmend, mitleidend, hassend - in jedem Fall leidenschaftlich polarisiert."

Besprochen werden Stefan Puchers Inszenierung von Ronald M. Schernikaus epochalem West-Ost-Roman "legende" in der Volksbühne (dessen Naivität taz-Kritiker Tom Mustroph zu Herzen geht), "Zaungäste"-Monologe im Frankfurter Mousonturm (FR) und Stanisław Moniuszkos Nationaloper "Halka" im Theater an der Wien (der Ljubisa Tosic im Standard "schwermütigen Charme" attestiert, FAZ).
Archiv: Bühne

Film

Reinhard Kleber hat sich für den Filmdienst in der Branche umgehört, wie diese sich auf nachhaltigeres Filmemachen einstellen will. Im Tagesspiegel stimmt Andreas Busche auf das Ende der dritten "Star Wars"-Trilogie ein. Die Geschichte dieser Space Opera hat im Grunde schon Sophokles mit seinem "König Ödipus" erzählt, legt Jan Küveler in der Welt dar. In der taz blickt Detlef Kuhlbrodt auf 30 Jahre Simpsons zurück. Besprochen wird die Serie "Pure" (FAZ).
Archiv: Film
Stichwörter: Star Wars, Sophokles, Ödipus

Literatur

Die Agenturen melden, dass Peter Handke nach einem Telefonat mit Serbiens Präsident Vučić im kommenden Frühling nach Serbien reisen wird. Die NZZ gibt letzte Buchtipps für den Gabentisch - fündig werden Sie natürlich auch in Eichendorff21, unserem neuen Online-Buchladen.

Besprochen werden unter anderem Anne Carsons "Rot. Zwei Romane in Versen" (ZeitOnline), Ilsa Barea-Klucsars "Telefónica" (Zeit), Dietmar Daths "Du bist mir gleich" (taz), George Saunders' "Fuchs 8" (FR), neue Comicveröffentlichungen, darunter eine Neuauflage der "John Wayne Adventure Comics" aus den 50ern (SZ), Hermann Lenz' Nachlasserzählung "Die Geschichte vom Kutscher Kandl" (SZ) und Isidora Sekulićs "Briefe aus Norwegen" (FAZ).
Archiv: Literatur

Design

Im Tagesspiegel porträtiert Rolf Brockschmidt den finnischen Lichtdesigner Timo Niskanen.
Archiv: Design
Stichwörter: Lichtdesign

Musik

Jan Kedves erzählt in der SZ die schier unglaublich wirkende Geschichte von Beverly Glenn-Copeland, der 1986 ein Album namens "Keyboard Fantasies" auf Kassette aufnahm, das nach Veröffentlichung umgehend in der Versenkung verschwand, aber in den letzten Jahren via Youtube-Upload als Geheimtipp zu zirkulieren begann, bis es von den maßgeblichen Meinungsmachern aufgegriffen wurde. Jetzt ist auch ein Dokumentarfilm über den Musiker entstanden, der die Ursprünge in den Achtzigern beleuchtet: Damals "kamen die ersten erschwinglichen Synthesizer und Computer auf den Markt. Atari, Yamaha DX7, Roland TR-707: Mit diesen Instrumenten habe er in seinem Heimstudio zum ersten Mal genau die Musik aufnehmen können, die er tief im Inneren hörte, erzählt Glenn-Copeland in dem Dokumentarfilm. Sein Tagesablauf zu der Zeit habe aus Schneeschippen und Studiostunden bestanden. Dass zur selben Zeit Produzenten in Chicago und Detroit mit denselben Instrumenten die bis heute prägenden Musikstile Techno und House erfanden, davon bekam er da oben im Wald nichts mit. Das macht aber nun gerade einen nicht geringen Teil der Faszination aus: dass Beverly Glenn-Copeland eben mit denselben synthetischen Klängen, die im kollektiven Pop-Bewusstsein wohl auf ewig für Zukunft, Hypermobilität, für Party und Exzess stehen werden, damals eine Art spirituellen Entschleunigungs-Pop erfand."



In der SZ-Jazzkolumne blickt Andrian Kreye auf ein turbulentes Jazzjahr 2019 zurück, das eine reiche Ernte gestattete: "Die Post-Club/Hip-Hop-Szene brachte neue Energieschübe aus London (Yazz Ahmed, Theon Cross), Los Angeles (Jamael Dean, Flying Lotus) und Deutschland (das neue Label Kryptox, die Jazzrausch Big Band). Es gab Belege für die Zeitlosigkeit des Jazz (50 Jahre ECM) und für seine Repolitisierung (Matana Roberts, Terri Lynne Carrington). Die Flut der Wiederveröffentlichungen brachte Meisterwerke des Deep Jazz in Umlauf (Charles Brackeen, Horace Tapscott, The Tribe)."

Weiteres: Während in den goldenen Zeiten öffentlich-rechtlichen Fernsehformat-Erzählens die Sender den großen Komponisten zu ihren Jubiläen noch den roten Teppich in Form aufwändiger Mini-Serien und gründlich recherchierter Filme ausgerollt haben, lassen sich für ein Projekt wie Niki Steins Beethoven-Film, der derzeit für die ARD entsteht, kaum noch senderübergreifend Mittel einholen, ärgert sich Jan Brachmann in der FAZ. Frieder Reininghaus stellt in der taz die Initiative Beethovenbeiuns vor, die bundesweit Hauskonzerte und Musikprogramme im kleinen Format anbietet. Im ZeitMagazin träumt DJ Helena Hauff. Paul Gäbler freut sich im Tagesspiegel darüber, dass der Gitarrist John Frusciante nach zehn Jahren wieder zu den Red Hot Chili Peppers zurückkehrt.

Und ein Jahresrückblick-Rundumschlag: Die Popexperten von Pitchfork küren aus dem sich neigenden Jahrgang die besten Experimental-, Rock- und Electronic-Veröffentlichungen, sowie weiterhin die besten Rap-Songs, die 50 besten Alben und die 100 besten genreübergreifenden Songs. Hier auf der Spitzeposition: FKA Twigs, die auch im hiesigen Feuilleton in diesem Jahr deutliche Spuren hinterlassen hat.



Besprochen werden Daniel Lopatins Soundtrack zum Film "Uncut Gems" (Pitchfork) und ein Haiyti-Auftritt in Frankfurt (FR).
Archiv: Musik