Efeu - Die Kulturrundschau

Bewegt euch mal ein bisschen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.12.2019. Die SZ erlebt die Unerbittlichkeit russischer Justiz in Kirill Serebrennikows Moskauer Inszenierung von Martin McDonaghs "Hangmen". Die NZZ beobachtet das Verschwinden der Galerien aus Zürichs Innenstadt. Der Standard beobachtet mit Naomi Rincón Gallardo den queeren Alexander von Humboldt beim Zerlegen eines Schwanzlurchs. Die FAZ erlebt im neuen Star-Wars-Film immerhin eine der zärtlichsten Männerszenen der Weltraumoperngeschichte. Hyperallergic schwelgt mit Pariser Mode in Fetischismus und Exzess.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.12.2019 finden Sie hier

Design

John Galliano für Christian Dior: Haute-Couture-Kollektion Herbst/Winter 2000-2001. Foto: Guy Marineau / FIT

In der Ausstellung "Paris, Capital of Fashion" im New Yorker Museum at FIT musste sich Angelica Frey kurz mit der Ökonomie beschäftigen, dann konnte sie sich ganz der Feier Pariser Couture überlassen, wie sie in Hyperallergic schwärmt: "Wenn man die wie ein Sanktuarium abgeschiedene Hauptgalerie betritt, fühlt man sich wie in einem Film von Sophie Coppola oder Baz Luhrmann, man erkennt in der Mode und ihrer visuellen Kultur das Erbe des französischen Hofes. Einige Kleider aus der Zeit von  Versailles stehen Kostümen aus den dreißiger Jahren gegenüber, Hosenanzüge für Frauen von Nicolas Ghesquiere und einem Kleid von John Galliano für die Herbstkollektion 2000/2001. 'Freud oder Fetisch' betitelt stand die Kollektion ganz im Zeichen von Fetischismus und Exzess, ein Hinweis auf die französische Aristokratie in ihre Blüte und ihrem Niedergang.""

Die Lederhose erlebt ein Comeback, fällt Tillmann Prüfer vom ZeitMagazin auf. Eigentlich verwunderlich, schließlich steht die Lederhose nicht unbedingt für modischen Feingeist, sondern eher für derbe Arbeiten und ausgestelltes Rebellentum. "Vielleicht befinden wir uns also erneut am Anfang einer Ära der Rebellen und Widerborstigen? Es wäre wünschenswert. Denn die Lederhose ist - wenn man moralisch darüber hinwegkommt, dass sie aus der Haut eines Tieres besteht - die nachhaltigste Hose überhaupt. Sie ist kaum kaputtzubekommen und hält ewig. Man muss sich eigentlich nie wieder eine Hose kaufen. Etwas Besseres kann man als umweltbewusster Träger von Kleidung kaum tun."
Archiv: Design

Kunst

Aktionismus, Punk und mexikanische Oper: Naomi Rincón Gallardo. Bild: Die Künstlerin

Sehr empfehlen kann Ivona Jelčić im Standard einen Abstecher in den Kunstraum Innsbruck, wo die mexikanische Künstlerin Naomi Rincón Gallardo gerade in einem Mix aus Aktivismus, Punk und Performance die Unterdrückung der Indigenen, Landraub und Korruption angeht: "Naomi Rincón Gallardo bezieht sich in ihren Arbeiten auch auf andere indigene Aktivistinnen und verrührt Fakten mit mythologisch unterfütterten Fiktionen und anarchischer Do-it-yourself-Ästhetik. Daraus entstehen ekstatische Videoperformances, aber auch herrlich opernhafte Inszenierungen wie jene namens Alex(ander) and Axol(otl): Ein queerer Alexander von Humboldt seziert darin - abgesehen vom Schwanzlurch mit dem aztekischen Namen Axolotl - auch das düstere Erbe kolonialer Ausbeutung."

In Zürich mussten in den vergangenen Jahren etliche kleinere und mittlere Galerien schließen. In der NZZ betrachtet Maria Becker den unverkennbaren Wandel auf dem Kunstmarkt: "Für kleinere Galerien ist es schlicht nicht mehr möglich, von den Einnahmen die Betriebskosten zu zahlen. Um bestehen zu können, versuchen sie sich mit günstigerer Kunst und setzen auf die Messen, wo per se mehr Publikum kommt und ein höherer Umsatz möglich ist. Auch Ratlosigkeit macht sich breit. Worauf soll man denn nun setzen im Programm der Galerie? Auf Klassiker, die stabile Werte bieten? Das können sich heute fast nur noch die Großen wie Hauser & Wirth leisten. Mehr auf heimische Künstler?" In einem zweiten Text versichert Philipp Meier die bleibende Vorzüglichkeit des Galeriestandorts Zürich.

Besprochen werden die prunkvolle Mittelalter-Ausstellung "Gold & Ruhm" im Kunstmuseum Basel (Tsp), eine Ausstellung des Industriefotografen Ludwig Windstosser im Museum für Fotografie in Berlin (Tsp) und Jasper Kettners Fotoband "Die Angehörigen", der sich den Hinterbliebenen von Opfern rechtsextremer Gewalt widmet (DlfKultur).
Archiv: Kunst

Film

Ärger im Hause Skywalker (Bild: Disney)

Dietmar Daths Kritik zum neunten, von J.J. Abrams inszenierten Teil der Star-Wars-Saga macht heute das FAZ-Feuilleton auf. Der Science-Fiction-Experte war mit dem Spektakel durchaus zufrieden und hält fest, "dass Daisy Ridley mit ihrem sehenswerten, gestisch, deklamatorisch und mimisch straffen, emotional dichten Spiel sich allmählich zur neuen Sigourney Weaver emporarbeitet, dass Adam Driver mit Harrison Ford in 'The Rise of Skywalker' eine der zärtlichsten Männerszenen der Weltraumoperngeschichte teilt und dass J.J. Abrams die große, von Lucas angehäufte Rumpelkammer voller Altertümer von Kurosawa über Riefenstahl, Alex Raymond ('Flash Gordon') und französische 'Valerian'-Comics bis hin zu Richard Wagner (alias John Williams, der noch einmal mit vollen Komponistenhänden in den imperialen Marsch greifen darf) erheblich aufgeräumter hinterlässt, als er sie vorgefunden hat. ... J.J. Abrams hat ein vierzig Jahre altes Megabiest über die Ziellinie gewuchtet. Es ist tot, aber es war schwanger. Die letzte Szene ist eine Art Kaiserschnitt mit Lichtschwert."

Netflix hat seine nach groben Regionen aufgeschlüsselten Abo-Zahlen bekannt gegeben, berichtet Peter Weißenburger in der taz. In Nordamerika stagniert der Markt, beziehungsweise sinken die Zahlen sogar leicht, also "muss Netflix weiter stark im Ausland expandieren, wenn es die Aktionär*innen mit Wachstumszahlen bei Laune halten will. Deutschland ist da ein Markt, der sich anbietet. ... Schätzungen gehen von 4 bis 5 Millionen deutschen Abonnent*innen aus, Tendenz steigend. Außerdem hat Deutschland bereits eine üppige Infrastruktur an Produktionsfirmen, die keine Lust mehr auf die bürokratischen Prozesse bei ihren alten Auftraggebern, den deutschen Sendern, haben."

Die Kritikerinnen und Kritiker von critic.de blicken auf die schönsten Kinomomente des letzten Jahres zurück, die in diesem Jahr vor allem für räumliche Verwirrung sorgten: Michael Kienzl war froh, sich im Popcorn- statt im Arthaus-Kino zu befinden, Robert Wagner bekam es mit der Höhenangst zu tun, Till Kadritzke befand sich mit einem Mal in den Augen der anderen und Lukas Foerster war sich nach der Sichtung des neuen Rambo-Films nicht mehr ganz sicher, ob er nach dem Film auch wirklich den Weg nach draußen finden würde.

Besprochen werden Quentin Dupieuxs absurde Komödie "Die Wache" (Standard, mehr dazu hier), Edward Nortons Verfilmung von Jonatham Lethems Roman "Motherless Brookyln" (Jungle World) und die Joyn-Serie "Dignity" (Welt).
Archiv: Film

Architektur

In der SZ rekapituliert Peter Richter, wie der Architekt Stephan Braunfels mit seinen Klagen gegen den Wettbewerb zum Umbau der Komischen Oper und des Checkpoint Charlies die Berliner Kulturpolitik aufmischt.
Archiv: Architektur

Bühne

In Moskau hat Kirill Serebrennikow sein erstes Stück nach Aufhebung des Hausarrests inszeniert, Martin McDonaghs "Hangmen", dessen Handlung Serebrennikow vom Großbritannien der sechziger ins Russland der neunziger Jahre verlegte. SZ-Kritikerin Silke Bigalke spürte die ganze Unausweichlichkeit der russischen Justiz in dieser Inszenierung: "In 'Palatschi', Henker, zeigt er dumpfe Befehlsempfänger, tödliche Dummheit, kollektive Schuld und ein immer wiederkehrendes, systematisches Unrecht, das bis ins heutige Russland überlebt hat. Von der schwarzen Komödie des Iren McDonagh ist viel Düsternis und wenig Komödie übrig geblieben."

Shermin Langhoff verlängert ihren Vertrag am Berliner Maxim-Gorki-Theater, und auch wenn Ulrich Seidler die Regisseurin sehr schätzt, wundert er sich in der Berliner Zeitung über diesen Wechsel ins Etablierte, zumal ihr Ko-Intendant Jens Hillje einen Schritt zurück in die zweite Reihe tritt: "Hilljes Rückzug ist eher ein Schritt zur Zentralisierung der Macht als zu ihrer Kollektivierung. Schade, denn auch hinsichtlich der Leitungsstruktur gibt es im deutschen Theaterbetrieb einigen Utopiebedarf. Auch hier hätte ein so agil geleitetes Theater wie das Gorki vorangehen können."

Weiteres: Im Skandal um die Wiener Ballettakademie, die Kinder mit ihrem Drill und ihren missbräuchlichen Methoden in Anorexie und Bulimie trieb, hat die Untersuchungskommission nun ihren Abschlussbericht vorgelegt. Im Standard fragt Stefan Weiss, wer denn nun die Verantwortung übernehme.

Besprochen werden Anne Lenks Doppelinszenierung von "Iphigenie in Aulis" und "Iphigenie auf Tauris" in Hannover (SZ), René Polleschs neues Stück "(Life on earth can be sweet) Donna" am Deutschen Tehater (taz) und James Sutherlands Choreografie zum "Sacre du printemps" im Pfalztheater (FR).
Archiv: Bühne

Literatur

In der taz stellt Christian Werthschulte die Kölner Lesereihe "Zwischen/Miete" vor. Die Comickritikerinnen und -kritiker von The Quietus resümieren das Comicjahr 2019. Besprochen werden unter anderem Miron Bialoszewskis "Erinnerungen aus dem Warschauer Aufstand" (NZZ), Bachtyar Alis "Perwanas Abend" (SZ) und Gerhard Altenbourgs Gedichtband "wald minotaurisch" (FAZ).

Mehr dazu ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau. Alle besprochenen Bücher und viele weitere finden Sie natürlich in unserem neuen Online-Bücherladen Eichendorff21.
Archiv: Literatur
Stichwörter: Ali, Bachtyar

Musik

Im Standard freut sich Christian Schachinger wie Bolle auf das morgige Wiener Konzert von Carsten Meyer alias Erobique, denn wer das "schon einmal live erlebt hat, wie er in einem Kellerclub schwer verkatert hinter seinem Alleinunterhalter-Keyboard steht und einen Saal rockt, während er aus einem Plastiknapf irgendetwas Indisch-Vegetarisches löffelt und dazwischen dem Publikum mit vollem Mund ein paar sachdienliche Hinweise gibt ('Bewegt euch mal ein bisschen'), ist dem Mann für immer verfallen." Zumal Meyer "als sizilianischer Disco-Punk Babyman schon einmal den Iron Man von Black Sabbath in einer Italo-Disco-Version aus den 1970er-Jahren gibt." Das wollen wir uns nicht entgehen lassen:



Weiteres: 2019 war ein gutes Popjahr, stellt Jens-Christian Rabe in der SZ-Popkolumne fest, "auch wenn es das eine visionäre Avantgarde-Pop-Album zum Niederknien, wie 2018 etwa 'Lamp Lit Prose' von den Dirty Projectors, eher nicht gab." In der NZZ blicken die beiden Schweizer Rapper Bligg und Stress gemeinsam auf Leben und Werk des jeweils anderen.

Besprochen werden ein Bruckner-Konzert des Deutschen Symphonie-Orchesters unter Robin Ticciati (Tagesspiegel), eine Aufführung von Georg Friedrich Händels Oratorium "Saul" in Münster (NZZ), Beatrice Ranas und Vladimir Jurowskis Frankfurter Konzert mit den Londoner Philhamonikern (FR) und ein Abend zu Ehren des Komponisten Gideon Klein (FAZ).
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