Efeu - Die Kulturrundschau

Man muss einfach die eine Schulter freihaben

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21.12.2019. Im Interview mit dem Standard ist Friederike Mayröcker ein wunderbar junges Mädchen. Die abgenutzten Slogans zweier Diktaturen zu vereinen, das ist schon was: In der FAZ gratuliert Peter Nadas der AfD zu ihrer intellektuellen Hochleistung. Die Filmkritiker freuen sich über eine echte Filmperle zum Jahresende: Lulu Wangs "The Farewell". Die Deutsche Bank verkauft peu a peu ihre Kunst - aber warum so heimlich, fragt die SZ. Die taz hört Gospels von swingenden Arzthelferinnen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.12.2019 finden Sie hier

Literatur

Zum 95. Geburtstag von Friederike Mayröcker (unser Geburtstagsgruß) hat die Künstlerin Elisabeth von Samsonow die Dichterin für ein sehr persönliches Standard-Gespräch in deren schön chaotischer Wohnung besucht. Mayröckers wildes Schreiben erinnert Samsonow an die Rapper der Gegenwart. Die Autorin dazu: "Erfindungen mache ich, aber darüber denke ich nicht nach. Die kommen. Du weißt ja, wie das ist. Die kommen einfach. ... Ich fühl mich manchmal, so seltsam das klingt, wie ein junges Mädchen. Ich beobachte das, zum Beispiel wie die Mädchen im Sommer begonnen haben, sich eine Schulter frei zu machen. Das kann ich so nachfühlen, man muss einfach die eine Schulter freihaben. Lauter so Sachen!" Und sehr schön zum Literaturnobelpreis für Handke: "Na ja, jetzt krieg ich den Preis nimmermehr. Jetzt ist er weg. Aber ich gönn' ihm das schon."

Für die FAZ hat Thomas David derweil in Berlin den ungarischen Schriftsteller Péter Nádas getroffen, der mit Sorge auf die Gegenwart und das rückwärts gewandte Beschwören deutscher Kultur blickt: "Nationalistische Rückbindungen sind ohne Gefahren nicht zu haben. Nicht alle Populisten und Nationalisten der Welt zusammen scheinen doch eine derart großspurige Regression vorzuweisen wie die AfD. Denen ist gelungen, aus den abgenutzten Slogans zweier Diktaturen eine selbständige Sprache zusammenzuschustern. Glückwunsch! Eine intellektuelle Hochleistung. Ein beispielloses Angebot für die infantile Regression, die jeden Tag auch die erwachsenen Deutschen zwingt, in den Spiegel zu schauen und zu bekennen: 'Wir sind nicht nur das Versagen der SPD, nicht nur der verfahrene Konservatismus der CDU, nicht nur die Hoffnung an Grünen, wir sind nicht nur das Volk von Heisenberg, Goethe und Kant, wir sind, ob wir es wollen oder nicht, auch mit der gesamten Sozialgeschichte der DDR für alle Ewigkeiten vereint.'"

Weiteres: Kaspar Villiger berichtet in der NZZ von einer Begegnung mit einem Geparden. Andi Hörmann befasst sich im Literaturfeature für Dlf Kultur mit Heinrich Bölls Köln. Dlf Kultur bringt eine Lange Nacht von Tobias Barth, Lorenz Hoffmann und Hartmut Schade über Theodor Fontane. Immer mehr Second-Hand-Bücher landen im Zuge des Erfolgs von Online-Antiquariaten auf dem Gabentisch, stellt Hubert Spiegel in der FAZ fest.

Besprochen werden unter anderem Ken Krimsteins Comicbiografie "Die drei Leben der Hannah Arendt" (taz), Nicola Puglieses ursprünglich bereits 1977 veröffentlichtes Buch "Malacqua" (Freitag), die vom Autor selbst gelesene Hörbuch-Version von Deniz Yücels "Agentterrorist" (taz), Charles Bukowskis Band "Ein Dollar für Carl Larsen" mit bislang unveröffentlichten Texten (taz), der Briefwechsel zwischen Reinhart Koselleck und Carl Schmitt (Literarische Welt) sowie Paul Celans "Etwas ganz und gar Persönliches. Briefe 1934-1970" (FAZ).
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Film

Die Flexibiliät postnationaler Befindlichkeiten: Lulu Wangs "The Farewell"

Auf der Zielgeraden des Jahres kommt mit "The Farewell" noch eine echte Filmperle in die Kinos, freut sich die Filmkritik. Im Zentrum des Geschehens steht eine teils in den USA lebende chinesische Groß-Familie, die eine Abschiedsfeier für ihre Großmutter plant, die in absehbarer Zeit sterben wird. Kein Rührstück, keine Culture-Clash-Standardware macht die chinesische Regisseurin und Drehbauchautorin Lulu Wang aus diesem autobiografischen Stoff, sondern sie findet "einen eigenen Weg, melancholisch und lustig, künstlich wie der Schein von Leuchtstoffröhren und doch ganz wahr", versichert Martina Knoben in der SZ. Hollywood hat Aufholbedarf, was asiatische Diversität im Kino betrifft, meint Michael Pekler im Freitag: "Umso wichtiger ist es, dass mit 'The Farewell' nun ein Film vorliegt, der nicht nur Diversität bedient, sondern die Frage nach kultureller Identität und Zugehörigkeit in einer subtilen Storyline verhandelt." Auch für Artechock-Kritiker Axel Timo Purr ist das ein Film über die Lage chinesischer Auswanderer in den USA: So verdeutlicht die Filmemacherin "vor allem die schwer zu überbrückende Dissonanz zwischen traditionellen Erwartungen und einer liebevollen generations-übergreifenden Beziehung." Überhaupt ist dieser Film "auch ein schönes Beispiel für die Flexibilität von postnationalen Befindlichkeiteninsgesamt", freut sich Dominik Kamalzadeh im Standard. "Traditionen werden darin nicht über Bord geworfen, sondern gepflegt. Doch jeder schöpft daraus eben anders Sinn, wie Lulu Wang mit viel Komik demonstriert."

Weiteres: Der Filmdienst verkündet die besten Filme des Jahres. Die SZ-Kritiker haben ihre Magic Moments des Kinojahres online gestellt. Besprochen werden Michael Bays auf Netflix gezeigter Actionfilm "6 Underground" ("Kino als Autopsie am lebenden Objekt", schreibt Lukas Foerster in einer sehr begeisterten Filmkritik im Filmbulletin), Karim Aïnouz' "Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão" (taz, NZZ, Filmbulletin), die dritte Staffel der Serie "The Marvelous Mrs. Maisles" (Welt) und die "Batwoman"-Serie auf Amazon Prime (FAZ).
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Kunst

Die krisengeschüttelte Deutsche Bank verkauft peu a peu wertvolle Bilder aus ihrer Kunstsammlung, berichten Jörg Häntzschel, Michael Kläsgen und und Meike Schreiber auf den Wirtschaftsseiten der SZ. So wurde ein Triptychon von Gerhard Richter, das bisher in der Frankfurter Eingangshalle der Bank hing, verkauft. Für wieviel wollen die Kuratoren der Sammlung, Britta Färber und Friedhelm Hütte nicht sagen. Die Heimlichtuerei wundert die Reporter, denn die meisten Unternehmen gingen mit dem Verkauf eigener Kunst "offen" um. "Ein Auktionator, der namentlich nicht genannt werden will, sagt, die Bank habe 'irrsinnige Angst', die Reputation könnte Schaden nehmen, wenn bekannt würde, dass sie gerade massenhaft Kunst auf den Markt werfe. Es würde auch die Preise ruinieren. Auf diskrete Weise hat sich die Deutsche Bank in den vergangenen Jahren bereits von mehreren tausend Werken getrennt. ... Keine Frage, die Sammlung zöge sicherlich viele Käufer an. Doch würde bekannt, dass die Bank massenhaft Kunst verkauft, könnte der Eindruck entstehen, das Kreditinstitut müsse ihre letzten Vermögenswerte zu Geld machen. Das könnte den ohnehin schon schwachen Aktienkurs weiter belasten und im schlimmsten Fall sogar die Kreditwürdigkeit in Zweifel ziehen."

Besprochen werden die Ausstellung "Inside Rembrandt" im Kölner Wallraf-Richartz-Museum (SZ), die Ausstellung "Direct Reflections" des Künstlers Evan Robarts im Kunstverein Bremerhaven (taz), Karikaturen von Manfred Deix im Karikaturmuseum in Hannover (taz) und eine Rodin und Bruce Nauman gegenüberstellende Ausstellung in der Modernen Galerie in Saarbrücken (FAZ).
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Bühne

Bild: Deutscher Freundeskreis europäischer Jugendorchester e.V.


Im Berliner Radialsystem haben sich Anna Peschke und Derek Gimpel für "Der Ring des Nibelungen - Pekingoper trifft auf Musiktheater" an einer Zusammenführung von Wagner und Pekingoper versucht. Ihr sei es um eine neue Perspektive auf den 'Ring des Nibelungen' gegangen, sagte Anna Peschke gestern im dlf Kultur. "Original-Klänge aus Richard Wagners berühmtem 'Ring' wird man dabei nicht hören: Eine chinesische und eine usbekische Komponistin haben neue Musik geschrieben. Auf der Bühne wird deutsch und chinesisch gesprochen und gesungen - jeweils mit Übertiteln."

Bei den Proben ließ sich der kulturelle Graben allerdings kaum überbrücken - zumindest was Schauspieler und Sänger angeht, erzählt im Tagesspiegel Jakob Bauer: "Für die deutschen Schauspieler ist es kaum möglich, authentisch in der komplexen Sprache der Peking-Oper zu spielen. Die chinesischen Darsteller hätten sich dagegen mit der Arbeitsweise ihrer europäischen Kollegen grundsätzlich schwer getan, erzählt Mattis Nolte, der vier Rollen spielt. 'Man merkt, dass die Kollegen so stark von ihrem System geprägt sind, dass ein mögliches Abweichen in der Probe ganz fremd für sie ist. Die tradierten Formen zu bewahren, ist unbedingte Pflicht.' Anders in der Musik. Aziza Sadikova, die die Vertonung von deutscher Seite betreut hat, nutzt Vierteltöne und ungewöhnliche Instrumente wie die Glissandoflöte, um Wagners Leitmotive an die traditionellen Peking-Opern-Nummern ihrer Kollegin Qiu Xiaobo anzudocken. Chinesische Klänge und Neue Musik strömen in einem Fluss."

Weiteres: Christian Gohlke stellt in der NZZ die "graue Eminenz des internationalen Opernbetriebs" vor, Dominique Meyer, derzeit Leiter der Wiener Staatsoper, ab März Nachfolger von Alexander Pereira an der Mailänder Scala. In der taz gratuliert Katrin Bettina Müller zum 20. Geburtstag von Rimini Protokoll, im Tagesspiegel schreibt Patrick Wildermann.

Besprochen werden Kay Voges' Inszenierung des Musiktheaterstücks "Dies Irae" an der Burg (Standard, nachtkritik, FAZ), die Uraufführung von Peter Kastenmüllers Doppelabend "Kassandra/Prometheus" am Münchner Residenztheater (SZ) und Christoph Fricks Persiflage "Fifa - Glaube, Liebe, Korruption" am Konzert Theater (nachtkritik).
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Architektur

Laura Weißmüller stellt in der SZ zwei Architekten vor, die günstige, aber schöne Unterkünfte für Obdachlose bauen: "'Die beiden Architekten vertreten zwei unterschiedliche Positionen', sagt Giovanna Borasi am Telefon. Die Italienerin ist Chefkuratorin vom renommierten Centre Canadien d'Architecture (CCA) in Montreal, das sie ab 2020 leiten wird. Borasi hat den Film 'What It Takes to Make a Home' gemacht, in dem sie die Arbeit von Maltzan und Hagner vergleicht und der nächstes Jahr auch in Europa zu sehen sein wird. 'Michael Maltzan möchte eine Architektur machen, die das Thema möglichst sichtbar macht. Alex Hagner will kein besonderes Haus, sondern eines, dass sich in seine Umgebung einfügt.' Auch damit den Nachbarn die Akzeptanz leichter fällt."

Besprochen wird eine "fulminante" Bauhaus-Ausstellung zur 1919 von den Gymnastinnen Louise Langgaard und Hedwig von Rohden gegründeten Frauenbildungsstätte Loheland im Vonderau Museum Fulda (Tsp).
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Musik

Für die Jungle World fühlt Eiken Bruhn Magne Furuholmen von A-ha auf den Zahn, warum seine Band in 40 Jahren Bandgeschichte eigentlich nie politische Songs aufgenommen hat. Er selbst sieht sich zwar in der "pazifistischen, romantisch-anarchistischen Ecke. Dass A-ha nie eine Protestband war, lag daran, dass wir drei politisch sehr weit auseinander lagen. Mein Herz hat immer links geschlagen, Morten war der Konservative. Ohne groß darüber zu sprechen, war klar, dass A-ha keine Band ist, um Politik zu machen."

Außerdem: Vor hundert Jahren wurde das Theremin erfunden, schreibt Christoph Wagner in der NZZ. Ljubiša Tošić gratuliert dem Gitarristen Karl Ritter im Standard zum 60. Geburtstag. Besprochen werden das neue Bushido-Album (Welt) und zwei neue Gospel-Compilations, deren "fantastische Musik" den verzückten taz-Kritiker Julian Weber "demütig durch den Tag gehen" lässt. Zum Reinhören stehen beide glücklicherweise auf Bandcamp:



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Stichwörter: A-Ha, Gospel