Efeu - Die Kulturrundschau

Laberverblödete Kulturvollzeitstädter

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23.12.2019. Wir entstammen dem Schwarz, verkündet der Maler Pierre Soulages in der SZ. Die nachtkritik feiert Thomas Melles wütende "Ode" gegen das eigene Milieu am Deutschen Theater, auch die FAZ freut sich über ein bisschen Weltbilderschütterung. Der Standard verweigert den feierlichen Beethoven-Ton und nimmt das Zornbinkerl aufs Korn, den Auszucker in Werk und Welt. Die taz frischt mit den Wellpappn ihre Bayrischkenntnisse auf.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.12.2019 finden Sie hier

Bühne

Laberverblödeten Kulturvollzeitstädter oder metafiktiven Krankheitsvermarkter? Thomas Melles "Ode" am Deutschen Theater

Schön wild und unordentlich findet Nachtkritikerin Sophie Diesselhorst Thomas Melles wütende "Ode" am Deutschen Theater, die weniger ein Stück ist als eine Suada gegen das eigene Milieu: "Die Stärke von 'Ode' liegt nicht in der Analyse und auch nicht in der sperrigen lehrstückartigen Konstruktion. Die Stärke des Texts liegt in seiner Freiheit, Anlauf zu nehmen zu battlerap-artigen Passagen, in denen aller Konflikt im Sound geballt ist. In denen in alle Richtungen ausgeteilt wird, an die "transnationalen Gauleiternazis", die 'youtubeverblödeten Neoneunazis', an die 'selbstgerechten Dümmlichkeitstwitterer', die 'durchfinanzierten Arztsohnsekttrinker', die 'laberverblödeten Kulturvollzeitstädter', und Melle disst sich en passant auch selbst, wenn er die metafiktiven Krankheitsvermarkter in die Liste aufnimmt." Auch in der FAZ konnte Simon Strauß tief durchatmen: "Plötzliche Windströmung durchs stickige Zimmer, in dem die Diskurswächter sitzen und auf ihren Fingernägeln kauen. Ein bisschen Weltbilderschütterung."

Hans Abrahamsens "Schneekönigin" an der Bayerischen Staatsoper. Foto: Wilfried Hösl

In München hat Andreas Kriegenburg mit seiner Inszenierung von Hans Abrahamsens Oper "The Snow Queen" nach dem Märchen von Hans Christian Andersen die Kritiker nicht sonderlich begeistern können. In der SZ hadert Reinhard Brembeck mit der Verlegung der Märchenhandlung in die Psychiatrie, wo sich wiederum der Plot - junge Frau rettet ihren Geliebten aus den Klauen der Schneekönigin - dann recht realistisch abspielte: "Abrahamsen misstraut zutiefst den Verlockungen der Bühne. Was soll auch der Schneefall auf der Bühne, wenn es sowieso ständig aus dem Orchester heraus schneit? Sich singende Blumen vorzustellen, kann eine reizvolle Utopie sein. Sängerinnen, die Blumen spielen, oder einen Mann, der ein Rentier singt - das ist selbst in München ein bisschen läppisch. Opern und Realismus gehen grundsätzlich immer nur eine knirschende Beziehung ein. Diese 'Schneekönigin' jedoch wird durch den Realismus kleingerechnet zu einer Schneeflocke, die im Handumdrehen schmilzt." In der FAZ bleibt Laszlo Molnar kalt. In der NMZ betont Wolf-Dieter Peter allerdings die große Leistung der Solisten.

Weiteres: In der taz unterhält sich Nina Hoffmann mit Leyla Ercan, "Agentin für Diversität" am Staatstheater Hannover. In der Berliner Zeitung meldet Ulrich Seidler für das kommende Jahr bessere Arbeitsbedingungen für SchauspielerInnen. In der FAZ gratuliert Gerhard Stadelmaier dem Regisseur Werner Düggelin zum Neunzigsten und feiert ihn als "Grandseigneur der Feinheitstheaterkünstler".

Besprochen werden Peter Lichts Molière-Überschwreibung "Der eingebildete Kranke" am Münchner Residenztheater (die Claudia Bauer als "wilde, schräge, schnelle Schussfahrt" inszenierte, wie sich Nachtkritiker Christian Muggenthaler freut, SZ), Yasmina Rezas Publikumsschlager "Gott des Gemetzels" in Heidelberg (den FR-Kritikerin als "unfreundlich, aber licht" beschreibt), das Solo "Souls in the Sea" des Butho-Tänzers Tadashi Endo im Frankfurter Gallus-Theater (FR), Chaplins "Großer Diktator" am Theater Bern (NZZ) und Kay Voges' Endzeitoper "Dies Irae" im Burgtheater (die Standard-Kritiker Ronald Pohl "sterbenslangweilig" fand).
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Film

Im Guardian unterhält sich Alex Moshakis mit dem Schauspieler Robert Pattinson über dessen neuen Film "The Lighthouse" und das Schauspielern, das Pattinson gerade in eine Krise zu stürzen scheint: "'I only know how to play scenes, like, three ways,' he says. Three! That's all. Despite more than a decade in the industry. 'I'm nervous on, like, every single movie.'"

Besprochen werden drei Making-of-Bände zu Klassikern von Stanely Kubrick (SZ) und Tom Hoopers Filmmusical "Cats" (Berliner Zeitung, Tagesspiegel).
Archiv: Film
Stichwörter: Pattinson, Robert

Kunst

Schädelmaske. Foto: Linden Museum / Gliserio Castañeda, D.R. Secretaría de Cultura - INAh
In der großen Schau zu Kunst und Reichtum der Azteken kann SZ-Kritiker Harald Eggebrecht ermessen, wie den spanischen Eroberern der Schrecken und die Gier gleichermaßen durch die Glieder gefahren sein muss, als sie die Pracht des Goldes erblickten, von dem er einiges im Linden-Museum bewundern konnte: "Etwa bestechende Goldschmiedearbeiten wie eine neungliedrige Halskette, bei der jedes Glied in drei hängenden Tropfen endet oder ein Anhänger, den ein stilisierter Adlerkopf von Sonnenstrahlen umgeben im Schnabel trägt. Oder die herrliche Vogelkopfmaske, deren Holzkern der Künstler mit einem kleinstteiligen Mosaik aus Türkis, Perlmutt, Malachit und Stücken der Spondylusmuschel so überzogen hat, dass der Vogelkopf vor Lebendigkeit geradezu schockiert."

Heiligabend wird der französische Maler Pierre Soulages hundert, der Louvre widmet ihm eine große Ausstellung. In der SZ spricht Heinz-Norbert Jocks mit ihm über das Schwarz, dem Soulage alles entspringen lässt : "Bei der Geburt eines Menschen sagt man: 'Er hat das Licht der Welt am Tag X erblickt.' Was heißt das? Dass vorher alles schwarz war. Wir entstammen dem Schwarz. Für die Malerei, die vor Hunderten Jahren gemacht wurde, stiegen die ersten Menschen hinab in das absolute Schwarz. In den Höhlen, wo kein Licht leuchtete, haben sie mit schwarzer Farbe gemalt. Für sie war das die Farbe der Erde."

Weitere Artikel: Anlässlich der Ausstellung zur "Gitagovinda" im Zürcher Rietberg Museum erzählt Maria Becker in der NZZ, wie das Versepos über die Liebe zu Krishna die Malerei inspirierte. Marco Stahlhut berichtet in der FAZ von der Singapur Biennale. Und der Guardian berichtet wie etliche andere von Banksys neuem Coup in Bethlehem, bei dem kein Stern über der Krippe prangt, sondern ein Einschussloch.

Besprochen werden eine andächtige Zusammenstellung von "Raffael-Madonnen" in der Berliner Gemäldegalerie (Berliner Zeitung) und Joan Jonas Ausstellung "Vertical Roll, Left Side Right Side, Double Lunar Dogs, Brooklyn Bridge" im Neuen Berliner Kunstverein ("klein aber sehr sehenswert", betont Julia Gwendolyn Schneider in der taz).
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Architektur

Falk Jaeger berichtet im Tagesspiegel vom wachsenden Widerstand gegen die Ernennung des fachfremden SPD-Politikers Florian Pronold zum Gründungsdirektor der Berliner Stiftung Bauakademie: "Das merkwürdige Verfahren wirft Fragen auf. Wie konnte ein mit der Organisation des Verfahrens betrauter Insider auf die Idee kommen, sich selbst zu bewerben? Welche Strippen hat er gezogen, welche Entscheidungsgänge intern kanalisiert? Warum wurde die fachfremde (und sündhaft teure) Agentur Kienbaum mit dem Verfahren beauftragt, die dann eine Vorauswahl von nur vier Bewerbern traf? Die Empörung in der Fachwelt ist groß und wächst weiter an."
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Literatur

Besprochen werden Botho Strauß' neue Bücher "Saul" und "Zu oft umsonst gelächelt" (SZ), Ken Krimsteins Comic-Biografie "Die drei Leben der Hannah Arendt" (FR), Ronald D. Gerstes Präsidentenporträts "Trinker, Cowboys, Sonderling" (FR) und Shen Fus chinesischer Klassiker "Aufzeichnungen aus einem flüchtigen Leben" (Tsp).

Mehr dazu ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau. Alle besprochenen Bücher und viele weitere finden Sie natürlich in unserem neuen Online-Bücherladen Eichendorff21.
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Musik

Stefan Ender hat für den Standard die Ausstellung "Beethoven: Menschenwelt und Götterfunken" besucht, will aber partout nicht in den Feierton einstimmen: "Beethoven also. Der taube Titan der Tonkunst. Der Klassiker, der eigentlich ein Romantiker war. Der Musenkönig und Menschenfeind. Der Wutbürger avant la lettre, das Zornbinkerl, der Aggressor, der Auszucker in Werk und Welt: Ludwig van Tourette. Und: der Mann mit Bad-Hair-Days ohne Ende. ... Wie ein Schneepflug räumte er mit den klingenden Galanteriewaren seiner Zeit auf. Der Komponist als Ich-AG mit einem Vier-Ton-Motiv als Weltmarke: Ratatataaaaa!!! In Bachs Schaffen spiegelt sich die Weite des Kosmos wider, in Mozarts Musik findet die Gesellschaft des Rokoko mit ihren Neckereien und Tändeleien Resonanz. Bei Beethoven bietet das widerständige Individuum dem blöden Schicksal und den noch viel blöderen Mitmenschen die zornesadernpralle Stirn: Nicht! Mit! Mir! Schatzi!"

In der taz stellt Dominik Baur die Wellbappn vor, Nachfolger der Biermösl Blosn, die mit "Didl-Dudl" gerade ihr drittes Album herausgebracht haben: "Sicher, rudimentäre Bairisch-Kenntnisse schaden beim Genuss dieser Scheibe nicht unbedingt. Das erste Lied etwa heißt 'Hättat waarat, dadaat' (frei ins Norddeutsche übersetzt: 'Fahrradkette') und endet mit einem wortspielerischen Exzess, der selbst bairischen Muttersprachlern besondere Aufmerksamkeit abverlangt: 'Aba wann a Araba am Arba arbatat, frogat a: Is Lam a Bad?'"

Weitere Artikel: Die Zeit hat einen Text von Christine Lemke-Matwey online nachgereicht, der sich mit der Berliner Staatsoper nach der Barenboimkrise befasst. Christian Dittloff resümiert auf Zeit online das letzte Jahrzehnt in der Popmusik.

Besprochen werden ein Weihnachtskonzert des Berliner Rundfunkchors mit einem Auftragswerk von Owain Park (Tsp), eine CD von Maria Keohane und Camerata Kilkenny mit Bach-Arien und Schwedischen Folklorechorälen (FR), ein Konzert von Saba Lou Khan in der Neuköllner "Heiners Bar" (taz), ein Freiburger Konzert mit Mahlers Neunter, gespielt vom SWR Symphonieorchester mit Teodor Currentzis am Pult (nmz) und ein Konzert der türkischen Heavy-Metalband Pentagram im Berliner SO36 (Tsp)
Archiv: Musik