Efeu - Die Kulturrundschau

Mangel an Zwischentönen

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02.01.2020. Die SZ erkundet von der Elfenbeinküste aus den afrikanischen Musikmarkt. In der taz erklärt die Dokumentarfilmerin Valentina Primavera, wie verquer und roh in Italien Genderfragen diskutiert werden. Die FR vermisst die Musik in einer Doku über Miles Davis. Die FAZ liest drei Comics über das Leben nach dem Tod. Die Welt bewundert die Londoner It-Girls der 1920er. Und: die Feuilletons trauern um Harry Kupfer.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.01.2020 finden Sie hier

Film

Genderfragen in Italien: der Dokumentarfilm "Una Primavera"

Wie in Italien Genderfragen diskutiert werden, hält Valentina Primavera "für besonders problematisch", wie die in Berlin lebende Filmemacherin im taz-Gespräch bekennt. In ihrem Dokumentarfilm "Una Primavera" rückt sie die Biografie und Erfahrungen ihrer Mutter in den Mittelpunkt. In Italien sei "Diskursebene komplett verschoben", eine "verrohte Sprache zementiert patriarchale Rollenbilder in der kollektiven Mentalität und wirkt sich unmittelbar auf das Selbstverständnis von Frauen aus. ... Unter diesen Bedingungen ist es für Frauen schwierig, patriarchale Dynamiken und sogar Gewalt zu erkennen. Im Film wird meiner Mutter stets gesagt, sie habe die Freiheit, zu entscheiden, sie könne sich neu erfinden. Das stimmt so nicht, denn um selbstbestimmt zu agieren, bedarf es Mittel, die ihr weder von der Schule noch vom Fernsehen oder von der Gemeinschaft, in der sie lebt, vermittelt wurden."

Mangel an Zwischentönen: der Dokumentarfilm "Birth of Cool" (Bild: Piece of Magic Entertainment)

Stanley Nelsons Kino-Dokumentarfilm "Birth of the Cool" über Miles Davis" ist "ein Fest für Jazzliebhaber", freut sich Josef Engels in der Welt. Sehr anders sieht es FR-Kritiker Daniel Kothenschulte, der in dem Film die gegenwärtige Misere des Dokumentarfilms über Kunst erblickt: Selten geht es um die Kunst an sich, geschweige denn, dass sie angemessen gezeigt wird. Stattdessen erklären sprechende Köpfe, was an der Kunst, die man kaum sieht oder hört, so toll ist, klagt Kothenschulte. "Das janusköpfige Bild des Musikers, der seine wahren Empfindungen nur in der Kunst ausdrückt, zieht sich durch den Film. Angesichts all der ausgesparten Facetten seiner Biografie und seines Werks misstraut man freilich zusehends dem Mangel an Zwischentönen." Der Film" streift leider auch das Politische am Künstler Miles Davis nur oberflächlich. Das Werk dieses unvergleichlichen Musikers sprengte alle Schubladen, aber wie es aussieht, sind sie heute enger gefasst als je zuvor. Wenigstens in den einengenden, heute allgegenwärtigen Dokumentarfilm-Formaten."

Weiteres: Auf ZeitOnline gratuliert Anke Leweke Renée Zellweger zum oscarreifen Comeback, das der Schauspielerin mit ihrer Darstellung Judy Garlands in einem neuen (in taz und FR besprochenen) Biopic über die Schauspielerin geglückt ist. Carolin Weidner empfiehlt in der taz das Berliner Festival Unknown Pleasures, das neue Independentfilme aus den USA präsentiert. Anke Sterneborg schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Filmarchitekten Syd Mead, dem in Berlin gerade eine Ausstellung gewidmet ist. Christoph Twickel trauert auf ZeitOnline um den Schauspieler Jan Fedder.

Besprochen werden Bruno Dumonts Film-Diptychon über Jeanne d'Arc (taz, FAZ, mehr dazu bereits hier), eine DVD-Veröffentlichung von Alain Cavaliers "Thérèse" aus dem Jahr 1986 (taz) und Elizabeth Banks' Neuauflage von "Drei Engel für Charlie" (SZ).
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Bühne

Der Opernregisseur und langjährige Leiter der Komischen Oper Berlin Harry Kupfer ist gestorben. In der FR erinnert sich der Frankfurter Operndramaturg Norbert Abels an den Kollegen, der aus sein Freund war: "Das Musiktheater verliert mit Harry Kupfer einen Regisseur, dessen Profil seinesgleichen sucht. Die sogenannte Personenregie - heute so oft ersetzt durch Videoblendwerk, Bühnenbildmegalomanie und Effekthascherei - war für ihn das entscheidende inszenatorische Mittel, um einen Stoff wirklich glaubhaft zur Darstellung zu bringen. Der Mensch in seinem Leid, in seiner Sehnsucht, in seiner Gewaltbereitschaft, in seiner Freude - das allein zählte." In der SZ schreibt Wolfgang Schreiber den Nachruf, in der taz Joachim Lange, in der Berliner Zeitung Peter Uehling, im Tagesspiegel Udo Badelt, in der FR Judith von Sternburg, und

Besprochen werden "in the land of small details", eine vierteilige Choreografie des Kollektivs laborgras, im Radialsystem in Berlin (taz), Paul Abrahams Weihnachtsoperette "Dschainah, Das Mädchen aus dem Tanzhaus" an der Komischen Oper Berlin (nmz) und Dvoraks Märchenoper "Rusalka" bei den Tiroler Festspielen (nmz).
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Architektur

Zum Ende des Bauhaus-Jubiläums widmet sich auch die NZZ dem Ereignis: Für Werner Oechslin begann der "Sieg der Moderne" lange vor dem Bauhaus, nämlich 1898 mit Otto Wagner. Und Sabine von Fischer hat einige Bauhaus-Künstler bei den Würdigungen vermisst. Im Standard hält Maik Novotny Rückblick auf die Architektur-Trends der 2010er Jahre.
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Stichwörter: 2010er, Bauhaus

Kunst

Ambrose McEvoy, Mademoiselle de Pourtales (1921). Copyright Bradford Museums & Galleries
In der Welt freut sich Marcus Woeller über die Wiederentdeckung des Malers Ambrose McEvoy, der vor allem mit seinen Porträts der Londoner It-Girls der 1920er bekannt wurde. Jetzt hat ihn der Londoner Kunsthändler Philip Mould ausgegraben und mit mehr als dreißig Leihgaben eine kleine Ausstellung McEvoys in London organisiert. Museumskuratoren haben McEvoy bisher eher übersehen, weil er trotz einiger moderner Ansätze noch in der Tradition von Gainsborough, Whistler und Singer Sargent steht, meint Woeller. "Wie diese Vorläufer hat McEvoy hat nicht nur Figuren der Zeitgeschichte realistisch dargestellt, sondern ihr Lebensgefühl porträtiert. 'Seine Bilder studieren nicht das menschliche Fleisch, sie repräsentieren den Geist einer Person', schrieb der Rolls-Royce-Manager Claude Johnson in sein Tagebuch, nachdem er das überlebensgroße Bildnis der Tabakmillionärin Maude Lorillard gesehen hatte. Deren Ehemann Cecil Baring und Johnson wurden McEvoys beste Auftraggeber."

Besprochen werden außerdem in New Yorks New Museum of Contemporary Art eine Retrospektive Hans Haackes (dessen ökologische Arbeiten heute der Künstler Mathias Kessler fortsetzt, wie Claus Leggewie in der FR schreibt), eine Ausstellung des irakischen Künstlers Dia al-Azzawi im MoMA PS1 (NYT), die Doppelausstellung "Ultrasanity" in der ifa Galerie und Savvy Contemporary (taz), eine Ausstellung in der Alten Pinakothek in München, die Anthonis van Dyck als Unternehmer-Genie vorstellt, das mit seiner Maler-Werkstatt Hunderte von Porträts reicher oder berühmter oder adliger Herrschaften anfertigte (NZZ), die Ausstellung "The Illusions of a Photographer" des Fotografen Duane Michals in der Morgan Library & Museum in New York (lensculture), eine vierbändige Ausgabe der Briefe von Ernst Barlach (Berliner Zeitung, ) und eine Barlach-Biografie von Gunnar Decker (Tsp).
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Literatur

Andreas Nohls kürzlich in der taz geäußertes Statement, Margaret Mitchells Roman "Vom Wind verweht", den er gerade gemeinsam mit Liat Himmelheber neu übersetzt hat, sei kein rassistisches Buch (unser Resümee), kann Sonja Zekri in der SZ so nicht stehen lassen: Mitchell behandelt die Sklaverei "auf jene verführerische Weise, die Toni Morrison 'Romancing Slavery' genannt hat. Während der geschlagene Süden die Rassentrennung gerade gesetzlich verankerte, nahm Mitchells Buch den Weißen alle Schuldgefühle. Die Sklaverei strahlt im warmen Licht einer idealen Gemeinschaft. ... Der Ku-Klux-Klan kommt in ihrem Buch nicht deshalb schlecht weg, weil Lynchmorde an Schwarzen abzulehnen wären, sondern weil er die Yankees gegen die weißen Südstaatler aufbrachte."

Mit Tina Brenneisens "Das Licht, das Schatten leert", Nick Drnasos "Sabrina" und Luz' "Wir waren Charlie" sind im vergangenen Jahr "drei herausragende Comics erschienen, die thematisch eines eint: das Leben nach dem Tod", schreibt Andres Platthaus in der FAZ und meint dies "nicht im religiösen Sinne, sondern als Fallstudien über Hinterbliebene, Weiterlebenmüssende also." Die drei Autoren "haben Bücher geschaffen, die auch die Glücklichen, die keine derartigen Erfahrungen gemacht haben, verstehen lassen, was da geschieht. Sie bauen die Welt für die Leidtragenden ein Stück weit wieder auf."

Weiteres: Für die Zeit hat der Schriftsteller Clemens Meyer einen mäandernd-assoziativen Jahresrückblick geschrieben. In seiner "Lahme Literaten"-Kolumne in der Jungle World knöpft sich Magnus Klaue den Schriftsteller Martin Suter vor. In den online nachgereichten "Actionszenen der Weltliteratur" erinnert Wieland Freund daran, wie der Schriftsteller P.G. Wodehouse 1940 in die Hände der Deutschen geriet. Die Sternzeit des Dlf erinnert daran, dass der Science-Fiction-Autor Isaac Asimov heute vor 100 Jahren geboren wurde.

Besprochen werden unter anderem ein Gesamtausgabe der Briefe des Künstlers Ernst Barlach (FR), Hans Christian Andersens in Deutschland weitgehend unbekannter Roman "O.T." (online nachgereicht von der FAZ) und Samuel Becketts bislang unveröffentlichte Erzählung "Echos Knochen" (SZ).
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Musik

Für die SZ wirft Jonathan Fischer einen Blick in die boomende Musikszene an der Elfenbeinküste in Abidjan, wo sich rund um den "Coupé-Décalé"-Stil in den letzten Jahren ein zunehmend lukratives Starsystem gebildet hat. Auch die internationale Musikindustrie wittert längst Profite und eröffnet Filialen vor Ort, um sich Marktanteile zu sichern: "Wir haben jetzt schon 565 Millionen Afrikaner mit Smartphones. Sie alle wollen Musik über das Internet streamen", zitiert Fischer José da Silva von Sony. "In den letzten Jahren hatten nigerianische Superstars wie Wizkid oder Davido auch ein westliches Rhythm'n Blues Publikum erreicht. ... Die Gewinne kämen nicht mehr durch Plattenverkäufe zustande. Sondern durch Streaming, Werbeverträge, Copyrights und Live-Auftritte - sie seien heute selbstverständlicher Bestandteil jedes Künstlervertrags. 'Noch fünf Jahre', prophezeit da Silva, 'dann wird der Markt explodieren: Weil die afrikanische Mittelklasse wächst. Und die Kosten für das Internet sinken. Dann brauchen wir Europa nicht mehr.'" Ein aktuelles Video von Wizkid:



Weitere Artikel: In der FAZ erinnert sich Jan Brachmann, wie er im Alter von neun Jahren auf die Musik von Beethoven stieß, die ganz von ihm Besitz ergriff: "Kein Adorno, kein Thomas Mann hatte mir den Weg dorthin verbaut. Niemand hatte mir gesagt, dass diese Musik sperrig, rätselhaft und kühn sei." Die Zehnerjahre standen popmusikalisch ganz im Zeichen von Lady Gaga und, zumindest im deutschsprachigen Raum, von Helene Fischer, hält Harry Nutt in der FR fest. Stefan Schickhaus plaudert in der FR mit dem Posaunisten Uwe Dierksen vom Ensemble Modern, das dieser Tage sein 40-jähriges Bestehen feiert.

Besprochen werden das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker unter Andris Nelsons (Standard), das Silvesterkonzert im Konzerthaus Berlin (Tagesspiegel) und die Wiederveröffentlichung von Fleetwood Macs Album "Rumour" (SZ). Außerdem präsentiert das Logbuch Suhrkamp Thomas Meineckes 75. "Clip//Schule ohne Worte":

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