Efeu - Die Kulturrundschau

Blüten auf den Ruinen des Kongo

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03.01.2020. Die taz porträtiert den verstorbenen kongolesischen Maler Roger Botembe und seinen Transsymbolismus. Mode war immer schon multikulti, lernt die begeisterte FAZ in einer Leipziger Ausstellung über 1500 Jahre Stickerei. In der NZZ erklärt der Schweizer Autor Luke Wilkins seinen selbst gewählten Status als "bewusster Paria". Die SZ lässt sich von Volker Löschs "Fidelio" nach Nordsyrien versetzen - keine Erholung für die Sonntagsseele. Die Zeit entwickelt eine ungewohnte Zärtlichkeit für Max Goldt. Die Filmkritiker feiern Renée Zellwegers Judy Garland.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.01.2020 finden Sie hier

Kunst

Roger Botembe, Clair obscur, 1992

In der taz porträtiert Dominic Johnson den verstorbenen Roger Botembe, den er den berühmtesten Maler des Kongo nennt. Doch die Politik hat Kunst im Kongo in den letzten Jahren kaum zugelassen, 2000 wurden ihm sogar seine Ateliers, in denen auch junge Künstler Zuflucht fanden, von einem libanesischen Unternehmer weggekauft. "'Transsymbolismus' nannte Botembe selbst seine Kunst, und seine Erklärung war viel einfacher als das Wort, das in mancherlei gelehrten Abhandlungen bis zur Unkenntlichkeit dekonstruiert worden ist. Transsymbolismus, sagte er, ist die Schaffung von Neuem auf der Grundlage bereits in Afrikas Kultur präsenter Symbole. Als Grundlage seiner Kunst nannte er die Maske, 'das zentrale Motiv, wie eine Obsession', dazu die Sonne, 'sie setzt die künstlerische Fantasie frei, sie nimmt die Energien des Künstlers auf und bewahrt seinen rituellen Reichtum'. Kunst, sagte er, war das, was gedeiht, wenn es kein Leben mehr gibt - die Blüten auf den Ruinen des Kongo."

Weitere Artikel: In der taz erzählt Bettina von Briskorn anlässlich der neuen Dauerausstellung im Übersee-Museum in Bremen, wie eine indische Waffensammlung der Jüdin Alba Franzius 1938 ins damalige Deutsche Kolonial- und Übersee-Museum gelangte. Im Guardian stellt Jonathan Jones uns Munchs Mutter vor, die Tracey Emin für das neue Munch Museum in Oslo gefertigt hat. Jonathan Fischer trifft sich für die NZZ anlässlich der Eröffnung von Theaster Gates' jüngster Installation, "Black Chapel", in München mit dem Chicagoer Künstler.

Besprochen werden die Ausstellung "Body Performance" in der Newton-Stiftung in Berlin (Berliner Zeitung) und eine Horst-Janssen-Ausstellung in der Sammlung Scharf-Gerstenberg in Berlin (Tsp).
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Film

Fabelhafte Zellweger, einzigartige Garland: das Biopic "Judy"

Renée Zellweger spielt in Rupert Goolds "Judy" die Schauspielerin und Sängerin Judy Garland in ihrer von Krisen geprägten Spätphase. "Man hätte die Fragilität der späten Garland noch eindringlicher spielen können, als es Zellweger tut, aber das hat auch sein Gutes", erklärt Daniel Kothenschulte in der FR: "Nie verfällt der Film in die Klischees des Verfalls, die Hollywood sehr früh neben dem Glamour gleichfalls zu Markte trug." Welt-Kritiker Manuel Brug kann zwar verstehen, warum Zellweger für diese Rolle im Gespräch für den Oscar ist, aber ganz zufrieden war er nicht - zumal Zellweger Garland auch singt, was "keine so gute Idee war." Außerdem: "Die echte Judy, die war viel fertiger und kaputter, verletzlicher, ordinärer und intensiver, schlicht einzigartiger, als dies jede Art von nachschöpfender Schauspielkunst zu evozieren vermag." Annett Scheffel hingegen findet in der SZ die Zellweger einfach "fabelhaft", sie ist eine "große Stärke" des Films, der "aber auch eine große Schwäche hat, weil der Regisseur Garland ziemlich einseitig porträtiert, nämlich vor allem als psychisches Wrack." In der Jungle World erkennt Stephan Ahrens derweil Anzeichen in dem Film dafür, warum Judy Garland später zur Ikone der Schwulenbewegung wurde.

Besprochen werden außerdem Rian Johnsons Whodunit "Knives Out" (NZZ, Tagesspiegel, ZeitOnline, mehr dazu bereits hier), Stanley Nelsons Dokumentarfilm "Birth of the Cool" über Miles Davis (Standard, mehr dazu bereits hier), der Actionfilm "Drei Engel für Charlie" mit Kristen Stewart, Ella Balinska und Naomi Scott (Tagesspiegel) und der von den "Sherlock"-Machern konzipierte, morgen auf Netflix landender "Dracula"-Dreiteiler (FAZ).
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Design

Teil eines Frauenmieders, Frankreich, um 1735, Seiden-und Silberstickerei auf Seide. Foto: Esther Hoyer
Mode war immer schon multikulti, lernt ein begeisterter Andreas Platthaus (FAZ) der im Grassimuseum in Leipzig auf 1500 Jahre Stickerei blickt. Und sie hat Traditionslinien, die durch die Jahrhunderte reichen: "Das Ausstellungsarrangement der Textilien nach Materialien und Stilen ist bezwingend, und wenn in einem Dunkelkabinett zwei schwarze Abendroben - eine von 1910, eine von 2014 - mit Silberpailletten beziehungsweise modernen LED-Lämpchen Restlichtakzente setzen, sieht man auch, dass eine Formulierung wie 'zeitlose Eleganz' kein leeres Gerede ist: Was sich geändert hat, ist bloß die Technik. Und selbst die nicht zwingend: Mit der in Litauen geborenen Jurate Ridziauskaite ist eine Leipziger Stickkünstlerin vertreten, die ihre Einstecktücher und Röcke traditionell fertigt: aber mit göttlich spöttischen Botschaften."
Archiv: Design

Literatur

Luke Wilkins kommt aus der Schweiz, verbrachte seine Kindheit in Deutschland, wurde TV-Schauspieler für eine Daily Soap, bis er sich daraus zurückzog, führte dann eine "Gespensterexistenz", die er zu einem Dasein als Schriftsteller bündelte und versteht sich nunmehr als "bewusster Paria" im Sinne Hannah Arendts, erzählt er in einem NZZ-Essay: "Der bewusste Paria bejaht seine Nichtexistenz und entwickelt aus den Bruchstücken dessen, was seit Generationen immer wieder an seiner Identität nicht anerkannt und oft genug verfolgt und vernichtet wurde, neue Formen des Denkens. Robert Walser, der bekannteste bewusste Paria von Biel, hat mir dann noch ein Wissen von unserer grausamen Sprachmutter mit auf den Weg gegeben, das in die Zukunft weist: Sie will uns von dem, was wir lieben, abschneiden, um aus uns Liebende zu machen. Ich glaube, aus dieser Sprache der Liebe, die im Abgeschnittensein von dem, was wir lieben, entsteht, entwickelt sich eine Literatur im Sinne Hannah Arendts, die der phallogozentrischen Literatur endlich zum Kehraus und den Gespenstern der Vatersprache zum Totentanz aufspielen könnte."

Weitere Artikel: Roman Bucheli staunt in der NZZ, dass die Leser von Le Monde bei einer Umfrage nach den beliebtesten Büchern die Harry-Potter-Reihe von J.K. Rowling auf die Spitzenposition gewählt haben. Der Schriftsteller Jaroslav Rudiš erzählt in der FAZ von seiner gemeinsamen Reise mit dem Illustrator Christian Thanhäuser mit der Mühlkreisbahn durch Oberösterreich. Und Dietmar Dath spricht in einem Videogespräch auf Youtube anlässlich der Veröffentlichung seines Sachbuchs "Niegeschichte" mit seinem FAZ-Kollegen Alexander Armbruster darüber, was eigentlich Science-Fiction ist.

Besprochen werden Lauren Groffs Erzählband "Florida" (SZ), Samuel Becketts Erzählung "Echos Knochen" (FR), Renée Naults Comicadaption von Margaret Atwoods "Report der Magd" (Tagesspiegel), Christoph Ransmayrs "Arznei gegen die Sterblichkeit. Drei Geschichten zum Dank" (Standard), und John Burnsides "Über Liebe und Magie" (NZZ).

Mehr dazu ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau. Alle besprochenen Bücher und viele weitere finden Sie natürlich in unserem neuen Online-Bücherladen Eichendorff21.
Archiv: Literatur

Bühne

Szene aus Volker Löschs Inszenierung von Beethovens Oper "Fidelio" am Theater Bonn. Foto: Theater Bonn/Thilo Beu


Michael Struck-Schloen (SZ) hat ganz schön zu schlucken an Volker Löschs Bonner Inszenierung von Beethovens "Fidelio". Lösch hat die Handlung nämlich ins von den Türken malträtierte kurdische Nordsyrien verlegt, wo die Menschen "vielleicht nie von Beethoven gehört haben, aber die Konflikte des Fidelio durchleben". Der Regieeinfall ist also nicht unplausibel, meint er, aber für die "Sonntagsseele" der Zuhörer ist das nichts: "Weil Volker Lösch ein Mann des deutlichen Appells ist, keilt er zwischen die Nummern von Beethovens Oper die Berichte von 'Zeitzeugen', die sich zu einer Art Tribunal versammeln. Der prominente Schriftsteller Doğan Akhanlı ist dabei; außerdem Süleyman Demirtaş, der Bruder der verhafteten Ex-Vorsitzenden der pro-kurdischen Partei HDP, sowie weitere Vertreter und Verwandte von Opfern der türkischen Justiz. Animiert von einem 'Regisseur' (Matthias Kelle), sprechen sie davon, wie sie im Gefängnis isoliert und gefoltert wurden, wie man die Frauen an den Haaren aufhängte oder den Männern mit einem Wasserstrahl das Genital verletzte."

Im Interview mit der Zeit erklärt Lösch zu seiner Inszenierung: "Wenn man mit Beteiligten spricht, wird einem bewusst, dass in der Türkei letztlich jede demokratische Rechtsprechung aufgehoben ist. Es liegt also auf der Hand, 'Fidelio' dort spielen zu lassen. Die Figur des Florestan ist jemand, der die Wahrheit gesagt hat, heute könnte es ein Journalist sein, der daraufhin ohne Prozess in Isolationshaft gesteckt und gefoltert wird."

Weiteres: Shirin Sojitrawalla besucht für die taz Anna Bergmann, neue Intendantin am Staatstheater Karlsruhe, wo seither eine totale Frauenquote herrscht.
Archiv: Bühne

Musik

Das Zeit-Feuilleton ist heute fast ganz Beethoven gewidmet. Wer jetzt schon genug hat vom Jubiläum des Komponisten, dem empfiehlt Thea Dorn im Aufmacher, doch noch mal hinzuhören: "Denn wer, wenn nicht Beethoven, der hochfahrende Geist, der 'dem Schicksal in den Rachen greifen' wollte und lernen musste zu erdulden, dass das Schicksal ihm nach dem Gehör griff, würde sich besser eignen, um die Paradoxien zu erkunden, in die sich der Mensch hineinmanövriert, sobald er es mit den Prinzipien der Moderne ernst meint? Sobald er von 'Gottes Hand' nichts mehr wissen will und nur mehr der eigenen Kraft, dem Verstand, der Technik vertraut?"

Sehr interessiert hört sich Jens Balzer durch die Kollektion "Draußen die herrliche Sonne. Musik 1980 - 2000", in der Max Goldt sein musikalisches Schaffen der Jahre 1979 bis 2018 resümiert. Am interessantesten findet der Zeit-Kritiker Goldts Schaffensphase in den 90ern, als er mit dem Kammermusikkomponisten Stephan Winkler zusammengearbeitet hat: "Unter Goldts Texte und um diese herum legt Winkler stolpernde Rhythmen und possierlich fiepende und sirrende Störgeräusche, manchmal trötet auch ein käsiges Saxofon vor sich hin und wird wieder verscheucht. Meist knickert und flickert und zischt es heiter schnurrend zwischen den Stereokanälen von links nach rechts und wieder zurück." Was im Großen und Ganzen Goldts musikalische Kunst auszeichnet ist ein mit den Mitteln des Kitsches erzielter Anti-Kitsch: "Man entwickelt beim Hören mithin eine ungewohnte Zärtlichkeit für den sonst so abweisenden Künstler. Was nichts daran ändert, dass man sich oft wünscht, zum betreffenden Lied von Max Goldt auch gleich einen fabelhaft formulierten, geistig und sprachlich überlegenen Verriss aus der Feder Max Goldts zu lesen." Das Titelstück der Kollektion steht auf Youtube Music:



Im SZ-Interview erklärt Goldt, dass ihn bei dieser Veröffentlichung nicht Nostalgie, sondern archivalische Gedanken antrieben. Auch um mögliche neue Musik mit Winkler geht es in dem Gespräch am Rande: "Ich bin seit Langem ein Freund des klassischen Holzbläserquintetts. Oboe, Klarinette, Fagott, Flöte und Horn, dazu lediglich Rummelplatz-Drums und Vocals. Zehn punkig kurze Stücke in homogenem Sound, vielleicht auch ein bisschen wie die David-Bowie-Stücke von 1967. Vielleicht produzieren wir das demnächst. Aber ob es je erscheint?"

Weiteres: In der Welt spricht Manuel Brug mit dem Pianisten Víkingur Ólafsson über Bach. Julia Neumann porträtiert in der taz das Trio Shkoon, das arabische und westliche Musik kombiniert und seinen Stil "Oriental Slow-House" nennt. Nadine Lange stimmt im Tagesspiegel auf das Popjahr 2020 ein. Welt-Redakteur Dennis Sand empfiehlt den mittlerweile zur Tradition gewordenen "Statusbericht", den der Rapper Private Paul alljährlich zu Silvester ins Netz stellt und die Stimmung damit ziemlich runterzieht: "Private Paul zu hören, ist wie auditiv verabreichtes Anti-Ketamin."



Besprochen werden das Neujahrskonzert des RIAS Kammerchors (taz, Tagesspiegel, FAZ), zwei wiederveröffentlichte Alben von Fernando Falcão (taz), ein Konzert von Stella Sommer und Fabian Altstötter in der Berliner Volksbühne (taz) und neue Popveröffentlichungen, darunter ein von Kanye West produziertes Gospelalbum des Sunday Service Choir (SZ).
Archiv: Musik