Efeu - Die Kulturrundschau

Angst vor den eigenen Schatten

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08.01.2020. Die FAZ lässt sich in Krefeld von Sonia Delaunay, Natalja Gontscharowa und Josef Albers vor Augen führen, wieviel die Avantgarde der Folklore verdankt. Die SZ baut für die Zukunft auf das fein duftende und quasi feuerfeste Lärchenholz. Der Standard porträtiert die Wiener Choreografin Elisabeth Bakambamba Tambwe. Der Filmdienst erkundet mit Bruno Dumont die Mechanismen der Ekstase. Extrem gut gestylt findet ZeitOnline Melina Matsoukas Film "Queen & Slim", eine schwarze Version von "Bonnie & Clyde".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.01.2020 finden Sie hier

Film

Selbstbehauptung und Revolte: "Queen & Slim" von Melina Matsoukas

Ziemlich hingerissen ist FAZ-Kritikerin Verena Lueken von "Queen & Slim", einer Art schwarzen Version von "Bonnie & Clyde" meets "Thelma & Louise", in der ein junges schwarzes Paar quer durch die USA flüchten muss, nachdem sie in eine Polizeikontrolle geraten sind, an deren Ende der Polizist tot am Boden liegt. Gedreht hat den Film Melina Matsoukas, die zuvor Videos für Beyoncé inszeniert hat. Die Spielfilmdebütantin "inszeniert butterweiche und knallharte Szenen in rhythmischer Folge, hält die Spannung mit fast ununterbrochen bewegter Kamera, findet dennoch immer wieder Ruhe und bleibt unsentimental, obwohl die Geschichte letztlich zum Heulen ist". Die Titelfiguren sind wie ihre Vorbilder Bonnie und Clyde Sinnbilder "für Freiheit und Liebe und Selbstbehauptung und Revolte und stehen dafür ein mit allem, was Menschen haben, ihrem Körper, ihrem Verstand, ihren Gefühlen, ihrer Angst und ihrer Lust. Aber der Blick, der sie durch die Kamera erschafft, ist der einer Schwarzen. Das ist ein Unterschied ums Ganze." Man müsse aber dazu sagen, dass dies "kein politischer Film in dem Sinne ist, dass er allzu ernst wäre oder aktivistisch", meint Jan Kedves auf ZeitOnline, der vielmehr einen "spannenden, unterhaltsamen, extrem gut gestylten Popfilm" gesehen hat, "der auf den Diskursen um Rassismus und Polizeigewalt in den USA gekonnt surft und gut zwischen 'Get Out' und 'The Hate U Give' passt. Roadmovie, Thriller, Romanze, Systemanklage, tolle Schauspieler, alles mit drin."

Im Interview mit dem Filmdienst spricht Regisseur Bruno Dumont über seine zwei Filme zu Jeanne d'Arc. Warum er den Musiker Igorrr, der gewöhnlich extremen Metal mit extremem Elektro-Gefrickel mischt, mit der Komposition des Soundtracks beauftragt hat, erklärt er so: "Ich suchte auf keinen Fall Musik, die das Mittelalter repräsentiert. In seiner Musik habe ich Äquivalenzen gefunden zu den Mechanismen der Ekstase. Mir ging es darum, Erklärungen für das Unerklärbare zu finden." Außerdem erfahren wir, dass "das Komische auf der Ebene des Fantastischen liegt. Ich bin davon überzeugt, dass das Fantastische an der Gnade teilnimmt. So ist auch das Komische im Spirituellen enthalten."

Außerdem: Die ekstatischen Filmblogger von den Eskalierenden Träumen veröffentlichen ihre ins Gigantomanische ausufernden Jahresbestenlisten für 2018 und 2019. Besprochen werden Jessica Hausners "Little Joe" (Tagesspiegel) und Rian Johnsons Krimi-Groteske "Knives Out" (das "Skript sprüht vor Wortwitz", freut sich Sofia Glasl in der SZ).
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Kunst

Josef Albers: Variant/Adobe, Blue Front, 1957. © The Josef and Anni Albers Foundation

Begeistert kommt FAZ-Kritiker Georg Imdahl aus der Schau "Folklore & Avantgarde", mit der das Krefelder Kaiser Wilhelm Museum (sic!) erkundet, wie sich die Moderne an das Brauchtum aus aller Welt anschloss. Gründlich recherchiert und klug arrangiert findet Imdahl das: So dokumentiert die Schau zum Beispiel , "wie die Leidenschaft eines Frank Lloyd Wright für lokale Prärie-Häuser im Mittleren Westen in dessen Ideenhaushalt für ein (nicht realisiertes) Projekt im Rahmen der 'Lake Tahoe Summer Colony' einging und sich Le Corbusier durch eine von ihm so bezeichnete 'Voyage d'Orient' zu seinem 'Cabanon', einer Art Urhütte, an der Côte d'Azur inspirieren ließ. In Mexiko machte die Adobe-Architektur der Pueblo Eindruck auf Josef Albers. Von bestechender Schönheit ist eine ornamentale 'Komposition mit Pferden und Sirin-Vögeln' von Natalja Gontscharowa von 1915 aus der Moskauer Tretjakow-Galerie, die auf die russische Volkskunst und volkstümliche Bilderbögen, die Lubki, zurückgingen."

Weiteres: Bettina Maria Brosowsky beobachtet in der taz, wie Andreas Beitins das Kunstmuseum Wolfsburg aus der Krise zu führen versucht. Auf Hyperallergic listet Dorian Batycka Vorfälle auf, bei denen 2019 Kunstwerke zensiert worden, worunter für ihn auch der Ausschluss von BDS-Aktivisten zählt.

Besprochen werden die Cyborg-Ausstellung "Der montierte Mensch" im Museum Folkwang (SZ) und eine Ausstellung der libanesischen Künstlerin Caline Aoun im Palais Populaire der Deutschen Bank (Tsp).
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Architektur

Soll sich die Betonindustrie doch schwarz ärgern, findet Tim Altenhof in der SZ, Holz ist beim Hausbau wieder gefragt. Es taugt nicht nur für schöne Oberflächen, sondern auch als Tragwerk und es duftet gut: "Die Lärche wurde als Bauholz entdeckt, als Cäsar ein widerspenstiges Alpendorf belagerte und dabei den gegnerischen Abwehrturm abfackeln ließ. Trotz brennender Reisigbündel erlosch das Feuer von alleine. Zur Überraschung der Belagerer stand der Turm wie eh und je. So schreibt es zumindest Vitruv in seinen 'Zehn Büchern über Architektur', dem ältesten Text westlicher Architekturtheorie. Vitruv ging beim Lärchenholz von einem geringen Mischungsanteil der Elemente Feuer und Luft aus, wodurch es das Feuer zurückzuwerfen imstande war. Im Brandfall bildet sich tatsächlich eine Holzkohleschicht, die den Kern der Balken vorübergehend vor Hitze schützt."

In der taz stellt Anselm Lenz das "Penthouse à la Parasit" vor, mit dem der Künstler Jakob Wirth seit dem Sommer dem Berliner Wohnungsmarkt Luft verschafft: "Wirth hatte ab Ende Mai 2019 auf mehreren Dächern Berlins eine winzige weitere Etage errichtet. Auf 3,6 Quadratmetern funkelte ein winziges verspiegeltes Häuschen erstmals im Neuköllner Ortsteil Rixdorf auf dem Flachdach eines fünfgeschossigen Mietshauses, das zuvor an einen neuen Eigentümer verkauft worden war."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Wirth, Jakob, Holzbau, Duft, Neukölln

Bühne

Elisabeth Bakambamba Tambwes Produktion "Flèche". Foto: David Visnjic

Im Standard stellt Helmut Ploebst die aus dem Kongo stammende Künstlerin und Choreografin Elisabeth Bakambamba Tambwe vor, die in der Wiener Tanzszene schon lange eine feste Größe sei: "Tambwe nimmt sich kein Blatt vor den Mund. Von Rassismus spricht sie trotzdem nicht, aber: 'Hier haben die Leute Angst vor ihren eigenen Schatten. Da geht es nicht um schwarze Menschen, sondern du zeigst als Projektion einen Teil ihrer Realität, die sie nicht loswerden und fürchten anzuschauen.' Die Österreicher fürchteten um den Verlust ihrer Lebensqualität: 'Sie lieben es, sich zu fürchten.' Als 'Schüler der Angst' erwiesen sich viele Künstler: 'Weil sie keine wirklichen Kämpfer sind, warten sie auf Geld, und das macht sie zu Sklaven des Subventionssystems.'"

Weiteres: Ljubiša Tošić blickt im Standard mit Roland Geyer auf seine bisherige Intendanz am Theater an der Wien. Außerdem meldet der Standard, dass in Olga Neuwirths "Orlando"-Oper nicht mehr das Kirchenlied "Danke für diesen guten Morgen" gesungen werden darf. Die Rechteinhaber wollen das so. Besprochen wird Milo Raus Drama "Familie" am NT Gent (FAZ).
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Musik

"Hasbro, die Spielzeugfirma, die unter anderem 'My Little Pony'-Pferdchen herstellt, besitzt jetzt Death Row Records, das legendäre Label, auf dem Tupac und Biggie veröffentlichten", erfahren wir von Juliane Liebert in der SZ-Popkolumne. Manuel Brug berichtet in seinem Klassikblog für die Welt weiterhin von seinem Aufenthalt in Kuba, wohin er der Hornistin Sarah Willis gefolgt ist, die für Plattenaufnahmen angereist ist. Besprochen wird das neue Album "Digital Technology" von The Chaps - und die sind "MusterschülerInnen des Meta-Pops", meint Julia Lorenz in der taz.
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Stichwörter: Tupac, Hasbro, Kuba

Literatur

Wilfried F. Schoeller war einer der ersten Literaturkritiker Deutschlands, die sich im Fernsehen um die Literatur verdient machten. Jetzt ist er im Alter von 78 Jahren gestorben. Mit seiner TV-Tätigkeit stellte er unter Beweis, dass das Medium "sich auf Augenhöhe mit niveauvoller Literatur befassen konnte", schreibt Oliver Jungen in der FAZ. Wer ihn aber live erlebte, "hatte einen leidenschaftlichen Literaturenthusiasten vor sich, der jederzeit zu mitreißenden Elogen, aber auch zu harten Verrissen ausholen konnte". Schoeller wusste um "die Eigenarten des Mediums" und bespielte es entsprechend, vor allem aber ging es ihm stets um den "Stoff der Literatur selbst", schreibt Gregor Dotzauer im Tagesspiegel, für den Schoeller ebenfalls tätig war. Von Wilhelm von Sternburg erfahren wir in der FR, dass "Literatur und Politik für Schoeller ein nie zu trennendes Gespann waren."

Weiteres: Für die Zeit porträtiert Thomas Mießgang den Verleger Albert Eibl, der sich auf die archäologische Freilegung von vom Vergessen verschütteter österreichischer Literatur spezialisiert hat, "darunter der famose Roman 'Der heilige Skarabäus' der Frauenrechtlerin Else Jerusalem, der mit forensischer Präzision das Prostitutionsmilieu im Wien um 1900 beschreibt, und zwei Werke von Marta Karlweis, der Ehefrau des Schriftstellers Jakob Wassermann." Paul Jandl blättert sich für die NZZ durch die Vorlagsvorschauen für den Frühling, "spürt die Nervositäten bei den großen Verlagen und merkt die Versuche, mit internationaler Literatur zu punkten". In der Welt berichtet der Schriftsteller Sven Lager von seiner Rückkehr nach Paris nach 30 Jahren: "Zu meinem Erstaunen ist es noch da, das Paris meiner Jugend." Die Agenturen melden den Tod der Schriftstellerin Elizabeth Wurzel, die einst mit "Prozac Nation" ihren Durchbruch feierte.

Besprochen werden unter anderem Rachel Cusks Memoir "Lebenswerk" (Tagesspiegel), Lukas Bärfuss' Erzählband "Malinois" (FR), Shelagh Delaneys "A Taste of Honey" (Tagesspiegel), Tristan Garcias "Das Siebte" (taz), der letzte Band der Gesamtausgabe der Tagebücher Erich Mühsams (FR), die Neuübersetzung von Margaret Mitchells im Zuge um ein "e" erleichtertem Klassiker "Vom Wind verweht" (Presse), Angel Igovs "Die Sanftmütigen" (taz), Lorenz Langeneggers "Jahr ohne Winter" (Standard), die erstmalige Veröffentlichung im deutschen Original von Ulrich Alexander Boschwitz' Roman "Menschen neben dem Leben" aus dem Jahr 1939 (SZ), Jon Fosses "Der andere Name" (NZZ) und die Autobiografie des Dichters Franz Michael Felder (FAZ).

Mehr in unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau. Alle besprochenen Bücher und viele mehr finden Sie natürlich in unserem neuen Online-Buchladen Eichendorff21.
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