Efeu - Die Kulturrundschau

Gold, Blau, Weiß, Rot und Grau

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09.01.2020. Die FAZ hört das Unheil im stummen Sound von Teiji Itos Musik für Jessica Hausners Horrorfilm "Little Joe". Die staatlichen Bühnen der Türkei werden offenbar politisch gesäubert, fürchtet der Tagesspiegel. Ähnliches geschieht in Polens Zentrum für Zeitgenössische Kunst, warnt die New York Times. Dort soll man künftig konservativ, patriotisch, familienfreundlich malen. Der Standard begutachtet Underground-Kunst in der Moskauer "Garage". War die Berufung des SPD-Politikers Florian Pronold zum Gründungsdirektor der Berliner Bauakademie nur Hinterzimmerpolitik, wie die FAZ meint? Zeit online protestiert und lobt Pronolds interdisziplinären Ansatz.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.01.2020 finden Sie hier

Kunst

Das Zentrum für Zeitgenössische Kunst im Warschauer Schloss Ujazdowski beherbergte neben Polens führenden experimentellen Künstlern internationale Stars wie Nan Goldin oder Karen Walker. Seit dem ersten Januar wurde vom Kulturministerium mit Piotr Bernatowicz für sieben Jahre und ohne Ausschreibung ein konservativer Direktor eingesetzt. Alex Marshall schwant in der New York Times nach einem E-Mail-Interview nichts Gutes: Die Kunstwelt werde von einer "'linken, genau genommen neomarxistischen Ideologie dominiert'. (Er lehnte es ab, persönlich befragt zu werden.) Von den Künstlern wird erwartet, dass sie Arbeiten über die Bekämpfung des Klimawandels und des Faschismus oder die Förderung der Rechte von Schwulen machen, fügte er hinzu. 'Künstler, die diese Ideologie nicht annehmen, werden an den Rand gedrängt', sagt er. Herr Bernatowicz will das ändern und Künstler fördern, die andere Ansichten haben: konservativ, patriotisch, familienfreundlich. Seine Pläne verwandeln das Museum in das jüngste Schlachtfeld der polnischen Kulturkriege, in denen die Liberalen gegen die regierende populistische PiS-Partei und andere konservative Gruppen antreten."

Fasziniert kehrt Standard-Kritikerin Herwig G. Höller aus der Ausstellung "Sekretiki" - zu deutsch: "Kleine Geheimnisse" im privaten Museum für zeitgenössische Kunst "Garage" in Moskau zurück, die ihr zeigt, wie sich Underground-Künstler in der späten Sowjetunion ihre Nischen in archäologischen Expeditionen, in der Konzeptkunst und in der Esoterik suchten. Aber: "Kleine Geheimnisse ist aber nicht nur eine gelungene Ausstellung über ein formal abgeschlossenes Kapitel der spätsowjetischen Geschichte. Sie ist auch ein subtiler Kommentar zu einem von autoritären Tendenzen geprägten Russland, wo gerade im staatlichen Ausstellungsbetrieb Zensur und Selbstzensur ein erschreckendes Ausmaß angenommen haben. War unter Breschnew die Beschäftigung mit der grauen Vorzeit unproblematisch, ist dies heute in ähnlicher Weise für die Erörterung der Sowjetzeit der Fall. Brisante Querbezüge zur aktuellen Situation gelten damals wie heute jedoch als unerwünscht."

Die Zehnerjahre standen auch für eine Rehabiliterung von DDR-Kunst, schreibt Ingeborg Ruthe in der FR: Während Ost-Kunst kurz nach der Wende als "Arbeiter- und Bauernästhetik" abgetan wurde, staunte man in den letzten Jahren, was sich dissidentische Künstler "trauten": "Der zeitliche Abstand lässt ohnehin nüchterner aufs Thema gucken, ohne persönlich oder emotional zu werden. Und die direkte Anschauung entwaffnet Klischees und Vorurteile, lässt sogar Entdeckungen zu. In der heutigen spätmodernen Kunst gibt es die einstigen ideologischen Grabenkämpfe - Abstraktion wider Realismus - nicht mehr. Die aktuelle Kunstproduktion, national wie international, macht dieses Kalte-Kriegs-Diktat nahezu lächerlich."

Weiteres: Sechs Bilder von Anselm Kiefer, die das Ludwig Museum in Koblenz für eine Ausstellung ins chinesische Shenzhen verliehen hatte und die dort verloren gingen, sind wieder aufgetaucht, meldet der Tagesspiegel.

Besprochen werden die Ausstellung "Stadt und Meer" in der Berliner Galerie Nierendorf (Tagesspiegel), Ausstellungen der Fresken von Giulio Romano im Palazzo Ducale und im Palazzo Te in Mantua (Tagesspiegel) und die Hans-Baldung-Grien-Ausstellung in Karlsruhe (Zeit).
Archiv: Kunst

Film

Szene aus Jessica Hausners "Little Joe"


In Jessica Hausners Film "Little Joe" kommt der Horror aus einer Pflanze, deren süße Düfte Glücksgefühle vermitteln. Dazu hat ein Team um die Pflanzenzüchterin Alice das Hormon isoliert, das nach der Geburt die Mutter-Säuglings-Bindung festigt. Die Pflanze war eigentlich als Antidepressivum gedacht, aber es kommt natürlich ganz anders. Auf critic.de zeigte sich Till Kadritzke, der den Film in Cannes gesehen hatte, angemessen beeindruckt, denn "Little Joe" geht "über den Psychofilm hinaus, der sein Publikum autoritär zur Unsicherheit verdammt. ... Wie die besten Horror- und Science-Fiction-Filmen fragt er nicht nach dem Menschlichen im Monster, sondern nach dem Monströsen im Menschen. Schon wird der Film in Cannes als Kritik an Antidepressiva missverstanden, aber entscheidend ist nicht die Manipulation, sondern die Beschaffenheit des Manipulierten. Es geht um Veränderungen, und wie man mit ihnen zu Rande kommt, um Gefühle und Wünsche, die sich immer nur vermittelt äußern, sich an Objekte haften, und schon steht ihre Beschaffenheit in Frage."

Neben seinen fantastischen Farben zeichnet sich "Little Joe" auch durch die minimalistische Musik des japanischen Komponisten Teiji Ito aus. "Hausner hörte sein Album 'Watermill', als sie ihr Storyboard für den Film erarbeitete", erzählt Maria Wiesner in der FAZ. "Die Avantgarde-Musik beeinflusste den Rhythmus des Films. Ito beschrieb 1972 während einer Ballettaufführung von 'Watermill' in New York, dass seine Musik auch aus 'stummem Sound' bestehe, also aus vier bis fünf Noten, die die Musiker 'nur in ihrem Kopf abspielten'. Das funktioniert auch im Film, man erwartet die Musik fast schon, bevor sie über die Szene hereinbricht und mit spitzen, abstrakten Tönen Unheil kündet, das doch nie zu sehen ist." In der taz unterhält sich Thomas Abeltshauser mit Hausner über ihren Film.

Weitere Artikel: Im Film-Dienst erzählt Josef Nagel, was sich in den Filmmuseen im Jahr 2020 tut.  Patrick Heidmann unterhält sich für die Berliner Zeitung mit dem britischen Regisseur Sam Mendes über dessen Weltkriegsfilm "1917". Tobias Kniebe führt ein Mendes-Interview für die SZ.

Besprochen werden Katrin Gebbes Horrorfilm "Pelikanblut" mit Nina Hoss (critic.de), Grímur Hákonarsons isländisches Bauerndrama "Milchkrieg in Dalsmynni" (Tagesspiegel, taz), Melina Matsoukas Roadmovie "Queen & Slim" (Standard), Nicolas Pesces Horrorfilm "The Grudge" (FR), Netflixs Miniserie "Dracula" (NZZ), Ladj Lys Film "Les misérables" (NZZ), Christian Alvarts Kinothriller "Freies Land" (SZ), die dritten Staffel der Netflix-Serie "Anne with an E"  (Berliner Zeitung) und Dirk Mantheys Filmdoku "Small Planets" (taz).
Archiv: Film

Architektur

In der FAZ warnt Niklas Maak davor, den SPD-Politiker Florian Pronold kommissarisch als Gründungsdirektor der Bauakademie in Berlin einzusetzen, obwohl ein Gericht eine Überprüfung der Wahl angeordnet hat: Schon jetzt sei das ganze Verfahren ein "Bilderbuchbeispiel für Hinterzimmerpolitik und Intransparenz" der Berliner Politik.

Auf Zeit online findet Peter Dausend die Aufregung über Pronolds Berufung total ungerecht: "Alle Empörung bündelte sich in dem immer gleichen Vorwurf: Da habe sich ein Politiker einen wunderschönen Versorgungsposten verschafft, aber das kenne man ja. Komisch ist nur, dass der Politiker, der sich da so schamlos selbst bedienen möchte, bereit ist, auf die Hälfte seines bisherigen Gehaltes zu verzichten. Und dass man nicht bis zum Renteneintrittsalter Gründungsdirektor der Bauakademie bleiben kann, wenn der entsprechende Vertrag auf fünf Jahre begrenzt ist. ... Kurioserweise spielt das, was Pronold mit der Bauakademie eigentlich will, womit er die Findungskommission überzeugt hat, in der Debatte um ihn keine Rolle. Keiner seiner Kritiker interessiert sich dafür, dass Pronold an die Tradition des interdisziplinären Ansatzes der Bauakademie anknüpfen will."

Außerdem: Im Tagesspiegel umreißt Frederik Hanssen die Diskussion, wie sich bei der Komischen Oper Berlin ein Sanierungsdebakel verhindern lassen könnte.
Archiv: Architektur

Literatur



Nicht immer ganz überzeugt, aber doch sehr angeregt wandert FAZ-Kritiker Tilman Spreckelsen durch die Ausstellung "Farben im Märchen" in der Grimmwelt in Kassel: Neben Schwarz und Weiß werden die Bedeutungen von Gold, Blau, Weiß, Rot und Grau im Märchen untersucht. "Für die Besucher werden optische Versuche mit Prismen, Spiegeln oder Nachbildern spielerisch erfahrbar, was zwar interessant, aber mit dem Märchenthema nur lose verknüpft ist, mit Ausnahme immerhin der Farbkreise und -kugeln von Goethe und Runge, die beide selbst als Märchendichter aufgetreten sind. Im Fall von Runge, dem Erzähler des wunderbaren Märchens 'Von den Fischer un siine Fru', ist sein Nachdenken über Farben unmittelbar mit dem hier geschilderten Meer verbunden, das sich im Verlauf der immer dreisteren Wünsche von Lichtblau zu Tiefschwarz einfärbt."

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel berichtet Gerrit Bartels vom Streit um eine abgesagte Lesung von Uwe Tellkamp. Eva Behrendt berichtet in der taz von einer einmaligen szenische Lesung von Maxim Billers "Kanalratten" am Deutschen Theater Berlin.

Besprochen werden u.a. Mischa Meiers Geschichte der Völkerwanderung (NZZ), ein Band von Stefan Weidner über die Literaturen des Orients (NZZ), Udo Hesses "Tagesvisum Ost-Berlin" (taz) und Fran Ross' Roman Oreo" (SZ).

Mehr in unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau. Alle besprochenen Bücher und viele mehr finden Sie natürlich in unserem neuen Online-Buchladen Eichendorff21.
Archiv: Literatur

Bühne

"Die staatlichen Bühnen der Türkei werden offenbar politisch gesäubert", glaubt Susanne Güsten im Tagesspiegel. Ohne Angabe von Gründen wurden 150 Mitarbeiter von Staatstheater und Staatsoper kurzfristig entlassen: "In Theaterkreisen wird vermutet, dass es um die Gezi-Proteste gegen die Regierung vor sechseinhalb Jahren geht, an denen sich auch Theaterschaffende beteiligt hatten: Offenbar wolle die Regierung das Theater von Künstlern säubern, die Sympathien für die Proteste äußerten. 'Wir sind im Schock', sagt eine Mitarbeiterin des Staatstheaters. Viele Theaterschaffende hatten eigentlich gehofft, nach jahrelanger prekärer Beschäftigung als Freiberufler im neuen Jahr endlich fest angestellt zu werden. Das hatte Kulturminister Nuri Ersoy im Dezember angekündigt."

Nach über zwanzig Jahren finden die Zürcher Festspiele in diesem Jahr zum letzten Mal statt: Der Zuspruch des Publikums war da, die finanziellen Mittel fehlten trotzdem, schreibt Thomas Ribi in der NZZ, wundert sich allerdings nicht: "Das thematische Band war locker, die Programmierung oft beliebig. Und mit großen Namen allein ist kein Staat mehr zu machen. Die sind in Zürich mittlerweile ohnehin zu Gast, auch wenn gerade keine Festspiele stattfinden." Es gebe inzwischen von vielem zu viel, meint ebenfalls in der NZZ auch Urs Bühler, der die Eventisierung des Kulturbetriebs für das Scheitern verantwortlich macht.

Weiteres: In ihrer Oper "Orlando" verwendet Olga Neuwirth das Kirchenlied "Danke für diesen guten Morgen" in einer Szene, die an klerikalen Kindesmissbrauch in viktorianischen Zeiten erinnert. Einer der Rechteinhaber hat ihr die Verwendung des Kirchenliedes jetzt untersagt. In der taz kann Joachim Lange es nicht fassen: "Es ist schwer nachvollziehbar, wie man Kunst und ihre Mittel derart missverstehen kann. Mit Blick auf den Kontext der Oper wird nämlich keineswegs das Lied denunziert, sondern das, was seine Verwendung beleuchtet."

Besprochen werden Lars Georg Vogels Inszenierung "Die Lehman Brothers" in der Berliner Vagantenbühne (taz), Alexander Simons Inszenierung von Ray Bradburys "Fahrenheit 451" am Berliner Ensemble (taz), eine szenische Lesung von Maxim Billers Stück "Kanalratten" am Deutschen Theater in Berlin (taz) und Milo Raus Drama "Familie" am NT Gent (Zeit).
Archiv: Bühne

Musik

Clemens Haustein besucht für die FAZ eine Probe Marek Janowskis mit der Deutschen Streicherphilharmonie, bevor sie zu einer großen Deutschlandtournee aufbrechen. In der FR erzählt Harrry Nutt, wie die Musikbranche klimafreundlicher werden will. Besprochen werden Marco Porsias Dokumentarfilm "Swans - Where Does a Body End?" über Michael Giras Band Swans (taz)
Archiv: Musik