Efeu - Die Kulturrundschau

Die Schreie von Paris

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.01.2020. Die Presse lässt sich gediegen von Sam Jinks provozieren, der die biblische Sara im Wiener Dommuseum ein Kind gebären lässt. Die SZ erlebt amüsiert, wie Checco Zalone in seinem Film "Tolo Tolo" einen Italiener nach Afrika flüchten lässt und ganz nebenbei italienischen Familiensinn zerlegt. Die FAZ bewundert die Ziegenköpfe von Emmanuel Boos.  Die taz lässt sich frische Muscheln von Marcel Prousts Concierge servieren. Und die SZ gratuliert Rimini Protokoll zum Zwanzigjährigen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.01.2020 finden Sie hier

Kunst

Franz Wilhelm Seiwert. Die Arbeitsmänner, 1925. Stiftung Museum Kunstpalast, Düsseldorf. Foto: Kunstpalast / ARTOTHEK

Die ganze Bandbreite von "Blütenträumen, Ängsten und dystopischen Visionen" des Maschinenzeitalters erlebt FAZ-Kritiker Hubert Spiegel in der Ausstellung "Der montierte Mensch" im Essener Folkwang Museum, die mehr als zweihundert Werke von hundert Künstlern zeigt und gleich zu Beginn ein mulmiges Gefühl bei Spiegel hinterlässt: "Der Futurist Umberto Boccioni zeigt einen Schreitenden, mit Gewalt vorwärts Strebenden, einen Körper, an dem Zeit und Geschwindigkeit zerren, dass es ihm schier das Fleisch zu sprengen scheint. 'Einzigartige Formen der Kontinuität im Raum', so der Titel der berühmten Skulptur aus dem Jahr 1913, deutet die Ambivalenz an, von der viele Arbeiten dieser Ausstellung geprägt sind: Der montierte Mensch ist nicht nur eine aus oft heterogenen Elementen zusammengesetzte Kreatur, sondern auch der fixierte, im Schraubstock der Technologien gefangene Mensch. Zugleich ist er ein vom Fortschritt vorwärts gepeitschtes Wesen, ein Spielball der Dynamiken, die er entfesselt hat."

Sam Jinks, Woman and Child, 2010. Courtesy of the artist and Sullivan + Strumpf, Sydney I Singapore. Foto: Lena Deinhardstein

Zu einer Familienaufstellung der besonderen Art hat sich Almuth Spiegler in der Presse vom Wiener Dommuseum in der Sonderausstellung "Family Matters" bitten lassen, die historische und zeitgenössische Familienmotive "gediegen provokant" gegenüberstellt. Etwa die hölzerne Thernberger Madonna, eine um 1320 entstandene konventionelle gotische Maria mit Kind und die "erschreckend realistisch" nachgebildete "Frau mit Kind" des Australiers Sam Jinks: "Diese Frau ist nicht näher bezeichnet, aber alt, älter jedenfalls als wir uns Mütter heute vorstellen. Verletzlich, im Nachthemd und mit geschlossenen Augen, steht sie in der Mitte des Raums und drückt sanft ein nacktes Baby an ihre Brust (das uns etwas verdrießlich von der Seite ansieht). Wo sollen wir hier beginnen? Mit den Großmüttern, die manchen Enkeln die wahren Mütter sind? Mit der Zukunft, in der Alter bei der Reproduktion keine Rolle spielt? Oder mit der Vergangenheit, als einmal, im Alten Testament war es, geschrieben stand von Abrahams Frau Sara, die mit 90 Jahren noch Isaak gebar. Und bei der Vorstellung darüber in seltenes biblisches Lachen ausbrach."

In der NZZ freut sich Marion Löhndorf, dass die Tate Britain mit ihrer Ausstellung "Rebel, Radical, Revolutionary" statt des "grellen" Nachwirkens vor allem das malerische Werk des Dichters und Schauerromantikers William Blake in den Vordergrund stellt: "Immer noch berührt die Fremdartigkeit, die keine kunsthistorische Betrachtung wegerklären kann, aber auch die Zartheit und Zerbrechlichkeit seiner Bilder, die Intimität der kleinen Formate. Blake formuliert sein rebellisches Anders-Denken und -Empfinden im Gestus des Understatements, als Selbstverständlichkeit."

Weiteres: Im Tagesspiegel rät Rüdiger Schaper den Berliner Museen zu einem Besuch im erweiterten und neu eingerichteten Museum of Modern Art, das ganz auf eine Hierarchie der Künste und Dauerausstellungen verzichtet. In der Berliner Zeitung porträtiert Julia Haak die chilenische Fotografin Irma Bernhard, die für ein Fotoprojekt die Flucht ihres Vaters aus Nazideutschland rekonstruiert hat. Voraussichtlich 2022 wird das Heidi-Horten-Privatmuseum in Wien eröffnen und vor allem kleine Spezialausstellungen beherbergen, meldet Sabine B. Vogel in der NZZ. Besprochen wird Alpin Arda Bağcıks Ausstellung "Apocrypha" in der Berliner Zilberman Gallery (taz).
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Musik

Michael Stallknecht erklärt in der NZZ die Bonner Schwierigkeiten, angemessen an Beethoven zu erinnern: "Dass man der auratischen Vergegenwärtigung Beethovens in Bonn momentan kaum entkommt, dafür sorgt aber vor allem die erschlagende Wucht wertvollster Handschriften, die als Leihgaben in der Bundeskunsthalle versammelt sind: Die Missa solemnis und die 9. Sinfonie sind darunter, das letzte Streichquartett op. 135, das Titelblatt der Dritten, auf dem Beethoven die ursprüngliche Widmung an Napoleon nach dessen Selbstkrönung regelrecht ausmerzte, und nicht zuletzt das Heiligenstädter Testament, das die Verzweiflung des Komponisten angesichts seiner fortschreitenden Ertaubung verdeutlicht."

Weiteres: Niklas Münch stellt in der taz das Münchner Technolabel Ilian Tape vor. Nach einem Artikel der Times of Israel hat das Streamingportal Spotify begonnen, Nutzerprofile mit den Namen von Nationalsozialisten zu entfernen, berichtet Nadine Lange im Tagesspiegel. Ljubiša Tošic hörte für den Standard, wie Georg Nussbaumer an der Wiener Musikhochschule bei den Tagen für zeitgenössische Klaviermusik seine Beethoven-Ideen als "Elisenschauer mit Ludwigslawine" präsentierte.

Besprochen werden eine CD des neuen Tenorstars Benjamin Bernheim (Presse), ein neues Album der Berliner Sängerin Balbina (Berliner Zeitung) und die neue CD von Mint Mind (taz).
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Literatur

Annabelle Hirsch blättert für die taz müde durch erstmals veröffentlichte Texte verstorbener französischer Autoren wie Françoise Sagan und Marcel Proust. Hätte man auch unveröffentlicht lassen können, denkt sie sich. Überhaupt: "Was sagt das über den französischen Buchmarkt? Erscheint die Gegenwart so matt und grau, dass man sich lieber in ein Früher rettet, in dem bekanntlich alles besser war - selbst die Autoren? Oder geht es dem Markt so schlecht, dass man es sich schlicht nicht mehr leisten kann, auf das Talent und den eventuellen Erfolg junger Autoren zu hoffen? Wie auch immer; daran, dass diese Werke so gut sind, dass man sie keinem Leser vorenthalten darf, liegt es meistens nicht. ... Das reizendste, amüsanteste Detail an diesem Buch [Prousts Erstling "Les Plaisirs et les Jours", die Red.] kommt lustigerweise gar nicht von Marcel Proust selbst, sondern von einem Concierge, einem gewissen A. Charmel, dessen Brief man in den angehängten Notizen und Entwürfen findet: Darin hat er für Herrn Proust (ob gebeten oder nicht, das weiß man nicht genau) die Schreie von Paris aufgezeichnet. Die klangen damals aufgeschrieben in etwa so: 'Guter cremiger Käse, guter Käse! Frische Muscheln, ahhhh frische Muscheln! L'Intran, l'inter, die Freiheit, Paris-Sport! Amüsieren sie sich, meine Damen, hier Vergnügen!"

Weitere Artikel: Gerrit Bartels hat für den Tagesspiegel untersucht, wie Suhrkamp auf Instagram Werbung macht

Besprochen werden Dorota Maslowskas Roman "Andere Leute" (Tsp), Lucia Berlins Erzählband "Abend im Paradies" (NZZ), Mischa Meiers Geschichte der Völkerwanderung (SZ), Hans Blumenbergs "Die nackte Wahrheit" (FAZ) und Sarah Milovs bisher nur auf Englisch erschienene politische Geschichte der Zigarette (FAZ).

Mehr in unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau. Alle besprochenen Bücher und viele mehr zum Bestellen finden Sie natürlich in unserem neuen Online-Buchladen Eichendorff21.
Archiv: Literatur

Film



Ein Flüchtlingsfilm, der politisch nicht korrekt ist? Das erhofften sich wohl einige italienische Kinobesucher, die den Trailer zu Checco Zalones Weihnachtsfilm "Tolo Tolo" gesehen hatten. Doch sie wurden enttäuscht, erklärt der amüsierte Ethnologe und Literaturwissenschaftler Ulrich van Loyen in der SZ: Der italienische Held des Films scheitert als Gastronom in Apulien, versucht es in Ostafrika und muss, als Rebellen vordringen, wieder nach Italien flüchten - diesmal mit anderen Migranten. "Italien, erklärt Checco den staunenden Mitflüchtlingen, sei für sie alle die schlechteste Lösung. Und man hat auch schon verstanden, warum: Checcos unvermutete Rückkehr beraubt die Familie der Entschädigung, die das angebliche Terrorismusopfer garantiert hatte. Exfrauen, Verwandte, selbst die Mutter, die angesichts der Todesnachricht kunstgerecht in Ohnmacht gefallen war, sie alle stehen nun vor dem Nichts. Dieses Kratzen an einem durch ökonomische Zumutungen brüchig gewordenen moralischen Zusammenhalt entfachte offenbar die Wut mancher Zuschauer. Die Legende von 'Italiani brava gente', vom unverbrüchlichen Familiensinn ... Hier wird es als kollektiver Selbstbetrug enttarnt. Zugleich bleibt eine Hoffnung."

Weitere Artikel: Jeremy Irons wird Jurypräsident der Berlinale, meldet die Berliner Zeitung. Dass die Oscars auch in diesem Jahr ohne Moderator verliehen werden, findet Andreas Busche im Tagesspiegel völlig in Ordnung. Jenny Hoch hat sich für die Welt mit Laetitia Casta über ihre Rolle in der Arte-Serie "Die Frau aus dem Meer" unterhalten ("eine Art Greta Thunberg der Meere") und über #metoo. In der SZ schreibt David Steinitz zum Tod des amerikanischen Komikers und Drehbuchautors ("Die Reifeprüfung") Buck Henry.

Besprochen werden Johnnie Tos "Chasing Dream" und Ping Lumpraploengs Horrofilm "The Pool" (beide im Perlentaucher), Rupert Goolds "Judy" (Zeit online), Patrick Vollraths Flugzeugdrama "7500" (Standard), Melina Matsoukas Film "Queen & Slim" (Tsp), Nicola Pesces Horrorfilm "The Grudge" (Tsp), Christian Alvarts Politthriller "Freies Land" (FAZ), Jessica Hausners "Little Joe" (Zeit online, SZ) und die Ausstellung "Brandspuren" mit im Zweiten Weltkrieg beschädigten Filmplakaten in der Deutschen Kinemathek Berlin (Tsp).
Archiv: Film

Design

Ein Bol für die königliche Milch: der Bol Sein von Jean-Jacques Lagrenée le Jeune und Louis-Simon Boizot
Bettina Wohlfarth hat für die FAZ die französische Porzellanmanufaktur in Sèvres besucht, wo derzeit der Keramiker und Glasurkünstler Emmanuel Boos für mehrere Jahre residiert, um mit der Werkstatt neue Designs auszuprobieren: "Das Museum zeigt, angefangen bei der Prähistorie, Keramik aus aller Welt, vor allem aber die eigene Geschichte bis hin zu den jüngsten Werken. Hier sind die legendären Sèvres-Werke zu sehen - wie der 'Bol-sein' auf seinem mit Ziegenköpfchen dekorierten Dreifuß, ein Geschenk von Ludwig XVI. an Marie-Antoinette. Angeblich wurde die von Jean-Jacques Lagrenée entworfene 'Busenschale' von deren Brüsten abgeformt; die Königin trank daraus ihre Morgenmilch."

Außerdem: Angela Schader verteidigt in der NZZ die weibliche Handtasche gegen ihre Kritiker.
Archiv: Design

Bühne

In der SZ freut sich Peter Laudenbach über die große Berliner Werkschau, die das Berliner Theater HAU zum zwanzigjährigen Bestehen von Rimini Protokoll inszeniert. Helgard Haug, Daniel Wetzel und Stefan Kaegi, die drei Rimini-Regisseure, haben mit ihrem "Realtheater" das Theater ganz neu erfunden, meint er: Sie "erfinden Formate, die ihre Protagonisten gleichzeitig schützen und zum Sprechen bringen, sie zeigen, aber nicht bloßstellen. Was so entsteht, ist eine seltsame Kombination aus Intimität der geteilten Erfahrung und Distanz der Beobachtung. Diese Formate sind oft gleichzeitig naiv und raffiniert. Naiv, weil einfach Menschen aus ihrem Leben erzählen. Raffiniert, weil das aus vielen Perspektiven mit anderen Erfahrungen kontrastiert wird. Oft ist das mindestens doppelbödig, irritationsreich und im Aufeinanderprallen der vielen Perspektiven auch von einer latenten Komik."

Weiteres: Mit 27,2 Millionen Euro Kartenerlösen und einer Auslastung von 91 Prozent verzeichnete der Berliner Friedrichstadt Palast die besten Ergebnisse seiner hundertjährigen Geschichte, meldet der Tagesspiegel.

Besprochen wird David Foster Wallace' "Schrecklich amüsant - aber in Zukunft ohne mich" in der Inszenierung des Ensembles Wunderbaum am Theaterhaus Jena (Nachtkritik), Claudia Bossards Inszenierung von Elfriede Jelineks "Das Werk" am Wiener Kosmotheater (Nachtkritik), die Performance "Becoming My Body" des afrobritischen Künstlers Bishop Black im Ballhaus Naunynstraße (taz), die Produktion "Independence in Space" der Costa Compagnie im Oldenburger Edith-Russ-Haus für Medienkunst (taz).
Archiv: Bühne