Efeu - Die Kulturrundschau

Quellformen der Wolken

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.01.2020. Die SZ rettet mit Jan Derksen bedrohte Geräusche. FAZ und Tagesspiegel liegen einem erstaunlich zärtlichen Daniel Barenboim zu Füßen. Die NZZ lernt die Zukunft des Museums im neu erweiterten MoMA kennen. Der Tagesspiegel staunt, wie Lois Alexander bei den Berliner Tanztagen schwanengleich die Klimakrise tanzt. In der Literarischen Welt stört sich der Kulturhistoriker Wolfgang Schivelbusch an der hohen Moral in der Neuübersetzung von Margaret Mitchells "Vom Wind verweht". Und die SZ sehnt sich nach einem Plan für die Berliner Bauakademie.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.01.2020 finden Sie hier

Literatur

Marc Reichwein unterhält sich für die Literarische Welt mit dem Kulturhistoriker Wolfgang Schivelbusch über Margaret Mitchells neu ins Deutsche übersetzten Roman "Vom Wind verweht". Der Versuch, den immer wieder durchschimmernden Rassismus zu bändigen, überzeugt Schivelbusch nicht so ganz: "Aktuell wird der Roman vor allem als Dokument wiederentdeckt. Mit hoher Moral sorgt die Neuübersetzung dafür, dass der Rassismus rückwirkend bewusst gemacht und im historischen Artefakt gereinigt wird. Hier wurde eine Neuübersetzung aufs Gleis gesetzt, um eine, wie mir scheint, aktuelle moralische Konjunktur zu stärken. Natürlich sind sich alle einig, dass Rassismus und N-Worte heute nicht mehr zeitgemäß sind. Und dennoch kann man die historische Situation nicht aus diesem Roman verbannen."

Ebenfalls in der Literarischen Welt berichtet Martina Meister von einem Enthüllungsbuch, das in Frankreich für einen Skandal sorgte: Vanessa Springora erzählt darin, wie sie als 13-Jährige von dem damals 50-jährigen Schriftsteller Gabriel Matzneff verführt worden war, der jahrzehntelang über Sex mit Minderjährigen schrieb, ohne das jemand nachhakte: "Mit Jahrzehnten Verspätung bringt Springoras Zeugnis einen Pädophilie-Skandal ans Licht und enthüllt die Mitwisserschaft eines ganzen Milieus, das Matzneff nicht nur geduldet, sondern bis zum Schluss nach allen Regeln der Kunst gefördert und hofiert hat."

Weitere Artikel: Golo Maurer, Direktor der Bibliotheca Hertziana in Rom, reflektiert in der FAZ über den Brenner als Grenze. In der Frankfurter Anthologie widmet sich Rüdiger Görner einem Gedicht von Rilke:

"Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Siehe, wie klein dort,
siehe: die letzte Ortschaft der Worte, und höher,
aber wie klein auch, noch ein letztes
Gehöft von Gefühl. Erkennst du's?
..."

Besprochen werden Dorota Masłowskas Roman "Andere Leute" (SZ), die Gedichte Adolf Endlers (SZ), die Neuauflage von Klaus Theweleits "Männerfantasien" (Tagesspiegel), Retif de la Bretonnes "Die Nächte von Paris" (Tagesspiegel), Esi Edugyans Roman "Washington Black" (taz), John Burnsides "Über Liebe und Magie" (FR), George Saunders "Fuchs 8" (FAZ), Heide Helwigs "Unsere Wünsche" (FAZ) und zwei russische Bücher aus dem ersten Jahrzehnt der Sowjetunion: Olga Forschs Roman "Russisches Narrenschiff" und die Tagebücher von Michail Prischwin (FAZ). Mehr in unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau. Alle besprochenen Bücher und viele mehr zum Bestellen finden Sie natürlich in unserem neuen Online-Buchladen Eichendorff21.
Archiv: Literatur

Architektur

Der Streit um die Berufung des SPD-Politikers Florian Pronold zum Gründungsdirektor der Berliner Bauakademie hat sein Gutes, meint Jörg Häntzschel in der SZ. Denn Pronold habe "mit seinen Interviews unfreiwillig klargemacht, wo das eigentliche Problem der Bauakademie liegt: Es gibt kein klares Programm für diese Institution. Jeder darf sich davon etwas anderes erträumen. ... Eine anspruchsvolle Kulturinstitution, einen Showroom für die Baubranche oder eine Event-Location mit Galerie? Die frühere Bauministerin Barbara Hendricks ließ Pronold einen Ideenwettbewerb veranstalten, um das zu beantworten. Er reichte die Entscheidung an den zukünftigen Direktor weiter. Und der ist nun er selbst - ohne es sein zu dürfen."

Weitere Artikel: Die Olympischen Spiele werden Japan nicht bei der Lösung der Probleme helfen, die die Überalterung der Gesellschaft für den urbanen Raum bedeuten, meint Laura Weißmüller in der SZ. In der Welt möchte Dankwart Guratzsch das Bauhaus als "architektonischen Kampfbegriff" gern ganz verabschieden.
Archiv: Architektur

Bühne

Bild: Gerhard Ludwig.

Von einem gelungenen Auftakt der Berliner Tanztage - den letzten unter der Leitung von Anna Mülter - berichtet Sandra Luzina im Tagesspiegel. Als "Entdeckung" würdigt sie etwa die amerikanische Choreografin und Tänzerin Lois Alexander, die in ihrer Performance "Neptune" die unter an Ketten hängenden Eisblöcken die Klimakrise tanzt: "Man kann dabei zusehen, wie das gefrorene Wasser schmilzt und sich Pfützen und Rinnsale bilden. (...) Wasser ist für die Choreografin ein weibliches Element, und das Solo ist eine Selbstbefragung, in der sie sich mit ihrer Position als Woman of Color auseinandersetzt. Sie sitzt in der Mitte der Bühne und hält einen runden Spiegel in den Händen. Zunächst lenkt sie das reflektierte Licht auf einzelne Zuschauer. Dann tritt sie selbst in das Spiegelstadium ein: Sie platziert den Spiegel so, dass ihr Kopf nicht mehr zu sehen ist. Dafür wird ihr Arm verdoppelt, der wie ein Schwan anmutet. Oder ein abgewinkeltes Bein wächst plötzlich mit seinem Spiegelbild zusammen. Es sind groteske Anatomien, die sie hier entwirft."

Mit der Entlassung von 150 Mitarbeitern der staatlichen türkischen Bühnen (Unser Resümee) untermauert die AKP weiterhin ihre Macht, schreibt Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne: "Die erste Reaktion auf die Kündigungen kam von Necat Birecik, dem früheren Generaldirektor der Staatstheater, den Erdogan ins Amt gehievt hatte. Seine Äußerungen machen klar, welche Art von Theater sich der Präsidentenpalast wünscht: 'Wir öffnen unsere Bühnen nur für türkische Stücke, um das Gemeinschaftsgefühl im Heimatland zu stärken.' Theaterstücke aus anderen Sprachen schaden also offensichtlich diesem Gemeinschaftsgefühl."

Besprochen werden Lars Georg Vogels Inszenierung "Die Lehman Brothers" in der Berliner Vagantenbühne (Tagesspiegel), Alexander Simons Inszenierung von Ray Bradburys "Fahrenheit 451" am Berliner Ensemble (Berliner Zeitung), Richard Wagners "Lohengrin" unter dem Dirigat von Valery Gergiev an der Wiener Staatsoper (Standard), die Performance "Banana Island" des Theaterkollektivs "Die apokalyptischen Tänzer*innen" in der Hamburger Schwankhalle (taz), Caner Tekers Performance "Kırkpınar" bei den Berliner Tanztagen (taz) und die Adaption von David Foster Wallace' Kreuzfahrtreportage "Schrecklich amüsant - aber in Zukunft ohne mich" durch das niederländische Schauspielkollektiv "Wunderbaum" am Theaterhaus Jena (FAZ) und Ruth Messings Inszenierung von Annalena und Konstantin Küsperts Stück "Der Bundesbürger (the jürgen w. möllemann story)", das Dorothea Marcus im Dlf auch als "provozierenden" Kommentar auf den Rechtspopulismus versteht. Weitere Besprechung in der Nachtkritik.
Archiv: Bühne

Film

Der Netflix-Film "A Primeira Tentação de Cristo" der brasilianischen Gruppe "Porta dos Fundos", der in Brasilien einen Skandal ausgelöst hatte und nach einem richterlichen Entschluss von der Plattform entfernt wurde, weil dort ein schwuler Jesus dargestellt wird, darf nach einem zweiten Urteil wieder gezeigt werden, meldet Niklas Franzen in taz: "'Der Gerichtsvorsitzende des Obersten Gerichts, José António Dias Toffoli, annullierte das Urteil nun mit der Begründung, eine Filmkomödie sei nicht in der Lage, 'die christlichen Werte zu schwächen, die seit mehr als 2.000 Jahren bestehen'. Durch die Verbreitung des Films werde nicht der Respekt vor dem christlichen Glauben missachtet."

Besprochen werden Katrin Gebbes "Pelikanblut" (critic.de) Melina Matsoukas' Film "Queen & Slim" (SZ) und Hermine Huntgeburths Spielfilm über Udo Lindenberg "Lindenberg! Mach Dein Ding", ein "meisterliches" Biopic, das laut FAZ-Kritiker Jan Wiele "volle Kirmes" mit dem Panikorchester verspricht und sich dennoch Zeit für Lindenbergs Werdegang nimmt.
Archiv: Film
Stichwörter: Netflix, Biopic, Filmkomödie

Kunst

Die "unerschöpflichen Illusionsmöglichkeiten" der Fotografie lernt Ingeborg Ruthe (Berliner Zeitung) in der Ausstellung "Modell-Naturen in der zeitgenössischen Fotografie" in der Berliner Alfred-Ehrhardt-Stiftung kennen, in der fünf FotografInnen ganz ohne digitale Nachbearbeitungen künstliche Naturen erschaffen. Die israelische Künstlerin Shirley Wegner etwa, die für ihre Arbeit "Nacht Explosion" aus Bricolagen Landschaften ihrer Heimat baute: "Die Lichter der nächtlichen Ortschaften unter den explosiven rot-lila-orange-gelben und weiß-schwarzen Wolkenformationen sind nur noch helle Farbreflexe, die ein System menschlicher Behausungen ahnen lassen. Leben da unten Israelis? Juden, Christen, Araber? Und was richten die Quellformen der Wolken an, was besagen sie? Dass Aufnahmen wie diese vor allem die Realität ins Künstliche kippen, dass man dann irritiert ist, weil es womöglich auch umgekehrt sein kann, liegt an der starken Metaphorik der Aufnahmen."

Überwältigend und wegweisend erscheint der Kunsthistorikerin Mechthild Widrich in der NZZ die Erweiterung des New Yorker MoMA, was aber keineswegs an der zurückgenommenen Architektur von Diller, Scofidio und Renfro liegt, sondern an der inhaltlichen Neuordnung durch Chefkurator Martino Stierli, der die Dauerausstellung künftig zirkulieren lassen und die Hierarchien zwischen den verschiedenen Museumsabteilungen aufbrechen will und dabei auf "gewagte" Gegenüberstellungen setzt: "Wie neu solches Denken in einem Museum von der Größe des MoMA ist, lässt sich schon in den ersten Räumen sehen: Bekannte Kreidezeichnungen von Odilon Redon hängen neben Medardo Rossos seltsam abstrakt anmutenden Wachsskulpturen, und Mary Cassatt hält mit ihren einmaligen Kaltnadel- und Aquatintadrucken mit Ölbildern aus derselben Zeit ausgezeichnet mit. Mondaufnahmen und Mikroskopie von Pflanzen erinnern die Besucher daran, dass die Wissenschaften den Künstlern ab dem 19. Jahrhundert neue Arten der Sichtbarmachung anboten."

Weiteres: Schmuckstücke aus dem Dresdner Juwelenraub sind einer israelischen Sicherheitsfirma offenbar für einen Betrag von neun Millionen Euro in Bitcoins zum Kauf angeboten worden, meldet der Tagesspiegel. Die nächste Kunst-Biennale in Venedig wird von der Italienerin Cecilia Alemani kuratiert, meldet ebenfalls der Tagesspiegel. Die fünf Bilder, die seit dem mysteriösen Kunstraub 1979 als verschollen galten und im Jahr 2018 weder auftauchten, werden ab Januar in Gotha zu sehen sein, meldet der Tagesspiegel. In der Berliner Zeitung stellt der Autor und Regisseur Thomas Martin das von ihm initiierte Medienkunst-Projekt "Modell Berlin" vor, "ein kommunikatives medienkünstlerisches Graswurzelprojekt", wie er schreibt, das mit Unterstützung der Senatsverwaltung für Kultur und Europa zahlreche Berliner Institutionen zusammenbringen will, die über die kulturelle Zukunft von Berlin debattieren. Stefan Trinks besucht für die FAZ zwei Ausstellungen von Norbert Bisky mit Bildern "zu seinen Erfahrungen mit deutsch-deutscher Teilung, Wiedervereinigung und Folgen" in der Potsdamer Villa Schöningen und der Matthäuskirche am Berliner Kulturforum.

Besprochen werden Saâdane Afifs Ausstellung "Das Heptaeder" in der Berliner Galerie Mehdi Chouakri (Tagesspiegel) und die Ausstellung "Canova Thorvaldsen. Die Geburt der modernen Skulptur" in der Mailänder Gallerie d'Italia (Tagesspiegel).
Archiv: Kunst

Musik

In der FAZ erzählt Daniel Barenboim in einem schönen Text von seinen Erfahrungen mit Beethoven, den man sehr wohl schon als Kind spielen könne: "Ich habe sehr früh angefangen, die Sonaten im Konzert zu spielen, einige schon mit acht Jahren, die 'Hammerklavier-Sonate' und die Sonate op.111 dann mit dreizehn oder vierzehn. Mein Vater, der mein einziger Klavierlehrer war, ist damals oft dafür kritisiert worden, doch er war der Meinung, man solle sich so früh wie möglich mit den großen Werken auseinandersetzen, auch wenn man noch nicht unbedingt die notwendige Reife besitzt, denn - so sagte er - die Reife kommt nicht, wenn die Noten im Schrank liegen."

Einen überraschend "introvertierten", geradezu "zärtlichen" Barenboim vernimmt auch Frederik Hanssen im Tagesspiegel. Bei den Berliner Philharmonikern hatte Barenboim am Donnerstag seine Interpretation von Beethovens 3. Klavierkonzert gegeben: "So privat ist dieses Tastenspiel, so intim, dass man meinen könnte, der Virtuose habe die 2400 Menschen um ihn herum völlig vergessen, musiziere überhaupt nicht für den Saal, sondern einzig allein für sich selber."

Annika Säuberlich unterhält sich für die SZ mit Jan Derksen über dessen Webseite "Conserve the Sound", ein digitales Archiv vom Aussterben bedrohter Geräusche - Telefone mit Wählscheibe zum Beispiel, Modems oder Flipperautomaten - die auf Derksen die selbe Wirkung haben, wie der Geschmack einer in Tee getunkten Madeleine auf Proust: "Zunächst wollten wir nur Gegenstände aufnehmen, die ausgestorben sind, wie zum Beispiel das Wählscheibentelefon. Dann haben wir gemerkt, dass Sounds im Laufe der Jahre auch durch eben diese Faktoren geformt wurden: Rasierer aus den Fünfzigen klingen anders als Rasierer heute. Das ist zunächst mal materialabhängig. Aber auch das Thema Sounddesign spielt eine Rolle. Dinge werden heute verstärkt auch auf ihren Klang hin gestaltet, das war früher noch nicht so."

Weiteres: Der Jazzmusiker, Pianist und Komponist Wolfgang Dauner ist im Alter von 84 Jahren gestorben, meldet der Tagesspiegel. In der FR spricht Stefan Schickhaus mit Christian Hommel vom Ensemble Modern. In der taz freut sich Thomas Mauch auf die experimentellen Musik-Festivals "Ultraschall" und "CTM". In der NZZ schreibt Michael Stallknecht über klassische Musik und Klimaschutz.

Besprochen werden werden Pablo Helds neues Jazz-Album "Ascent" (FR), Balbinas Album "Punkt" (taz) und ein Prokofjew-Konzert von Riccardo Muti und dem Chicago Symphony Orchestra in Köln (FAZ).
Archiv: Musik

Design

Ein wenig erschöpft kommt Katharina Rustler (Standard) aus der großen Thonet-Ausstellung im Wiener Mak, die ihr nur wenige Überraschungen bietet: "Der Schaukelstuhl Erlkönig zum Beispiel, den Sessel in Form eines Schuhs von Birgit Jürgenssen oder der eines Kleiderständers von Uta Belina Waeger durchbrechen die irgendwann ermüdende Abfolge von Sitzmöbeln."
Archiv: Design
Stichwörter: Thonet