Efeu - Die Kulturrundschau

Klarheit, Kontrast und Proportion

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13.01.2020. Der Tagesspiegel schlägt sich trotz des Pariser Streiks bis in die Vororte durch und erlebt mit Joël Pommerat in Nanterre Jugend und Intelligenz. Der Standard wohnt in Graz einer etwas halbherzigen Teufelsaustreibung bei. Die taz sieht in Hamburg, wie Schönheit in Ideologie umschlägt. Die FAZ amüsiert sich in den Uffizien über die "Edelfederpolemik" Pietro Aretinos.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.01.2020 finden Sie hier

Bühne

Jugend und Intelligenz: Joël Pommerats "Contes et Légendes" am Théâtre des Amandiers. Foto: Elizabeth Carecchio

Eberhard Spreng hat sich vom Pariser Streik nicht entmutigen lassen und dank eines Shuttles auch den Weg in die Vororte Nanterre und Bobigny geschafft, wo die wichtigsten Theater stehen, wie er im Tagesspiegel erzählt: "Vor der Aufführung in Nanterre nehmen ein paar Mitarbeiter des Théâtre des Amandiers auf der Vorderbühne Aufstellung, erklären sich beiläufig mit dem Streik solidarisch und beklagen die mangelnde Vorbereitung eines großen Sanierungsprojektes für ihr großes Vororttheater. ... Dann verzaubert 'Contes et Légendes', ein Stück über Jugend und künstliche Intelligenz, ein geradezu meisterhaftes, fast anthropologisch zu nennendes Menschentheater des Joël Pommerat, dessen Stücke in Deutschland gerne nachgespielt werden, vor allem sein letztes über die französische Revolution. Am Théâtre de l'Odéon hat das Publikum weniger Glück. Eine Voraufführung von 'Un conte de Noël' fällt dem Streik zum Opfer."

"In den Waldheimen und auf den Haidern". Thomas Bernhards Heldenplatz am Schauspielhaus Graz. Foto: Karelly Lamprecht

Franz-Xaver Mayr inszeniert in Graz Thomas Bernhards "Heldenplatz" und Margarete Affenzeller erinnert sich im Standard seufzend daran, welche Erregungszustände sich die Literatur einst gestattete. "Für eine Teufelsaustreibung war das Gesamtbild zu zaghaft", findet sie, aber immerhin hat die Inszenierung ihre Momente: "Die Familie Schuster trifft sich in der großbürgerlichen Wohnung nahe dem Heldenplatz, aus der sich das Oberhaupt, Prof. Josef Schuster, zwei Tage zuvor aus dem Fenster in den Tod gestürzt hat. Zu viele Nazis in der Stadt! Oder wie sein Bruder Robert sagen wird: '[E]s gibt jetzt mehr Nazis in Wien als achtunddreißig.'" In der Nachtkritik schreibt Reinhard Kriechbaum.

Besprochen werden außerdem Thomas Köcks "Kudlich in Amerika" am Wiener Schauspielhaus (Nachtkritik), Erich Maria Remarques "Im Westen nichts Neues" am Dresdner Staatsschauspiel (Nachtkritik)  die Jürgen-Möllemann-Show "Der Bundesbürger" des Autorenpaares Konstantin und Annalena Küspert am Theater Münster (SZ), Caner Teker und Lois Alexander bei den Tanztagen (Berliner Zeitung), das Jubiläumsprogramm von Rimini Protokoll mit "100 Prozent Berlin reloaded" (FAZ), eine Hommage an den Choreografen William Forsythe in Zürich (die NZZ-Kritikerin Martina Wohlthat voll kribbelnder Energie verließ), George Balanchines "Square Dance" in Duisburg (das FAZ-Kritikerin Wiebke Hüster zufolge die russische Herkunft des Balletts ebenso wie seinen amerikanischen Siegeszug in sich trage), Nachwuchsfestivals "Tanz Tage" in den Sophiensälen (taz) und Alistair Beatons "Macht, Moral und Mauschelei" in Frankfurt (FR).
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Literatur

Stefan Trinks (FAZ) amüsiert sich in den Uffizien prächtig mit einer Austellung über Pietro Aretino und die Kunst der Renaissance, die meterlang Vitrinen mit Publikationen und Briefen Aretinos bereit stellt. Es "langweilt kein einziger von ihnen. Selten wird die Kulturgeschichte dieses mehr als meist angenommen gespaltenen 'konfessionellen Zeitalters' lebendiger, etwa wenn der Edelfederpolemiker in einem Brief im November 1545 Michelangelo der Homosexualität zeiht, nur weil dieser es gewagt hatte, Aretinos brillante theologische Tipps für das Altargemälde des Jüngsten Gerichts in der Sixtina als Einmischung abzulehnen."

Weiteres: In der NZZ erinnert Reinhard Müller an Brechts Kaderakte in der Sowjetunion. Im Tagesspiegel schreibt Christian Schröder zum Tod des Autors Josef Reding.

Besprochen werden John Burnsides Buch "Über Liebe und Magie" (Berliner Zeitung), Carlos Sampayos und José Muňoz' Comic "Alack Sinner" (taz), Lisa Taddeos literarisierende Reportage "Three Women - Drei Frauen" (SZ), Naomi Kleins Streitschrift "Warum nur ein Green New Deal unseren Planeten retten kann" (SZ) und Anne Applebaums "Roter Hunger" (SZ).

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Film

Im Tagesspiegel meldet Andreas Busche anziehende Kinobesuche: 2019 wurden 15 Prozent mehr Kinokarten verkauft als im Vorjahr, allerdings verdankt sich der Anstieg allein den Blockbustern "Avengers, König der Löwen" und "Eisprinzessin". Unter anderem der Standard meldet, dass Quentin Tarantinos "Once Upon a Time in Hollywood" bei den Preisen der amerikanischen Filmkritiker, den "Critics' Choice Movie Awards" abgeräumt hat.

Besprochen werden Melina Matsoukas' Roadmovie "Queen & Slim" (dem Jenny Zylka in der taz bei allem politischen Sex-Appeal die arg konventionelle Liebesgeschichte ankreidet, Freitag), Hermine Huntgeburths Lindenberg-Film "Mach dein Ding" (Tsp) und Dan Krauss' "Kill Team" auf DVD (SZ).
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Musik

Corina Kolbe hört für die NZZ dem elektronisch verstärkten Klang im neuen Konzertsaal in Andermatt nach. In der FR schreibt Hans-Jürgen Linke zum Tod des Jazzers Wolfgang Dauner, in der SZ schreibt Norbert Dömling, in der FAZ Wolfgang Sandner.

Besprochen werden ein Konzert mit Josef Suks "Asrael"-Symphonie, gespielt von den Berliner Philharmonikern unter Kirill Petrenko (Berliner Zeitung), Georgia Barnes' Partyalbum "Seeking Thrills" (taz), Niels Freverts neues Album "Putzlicht" (FAZ), die CD "Imperfect Circle" von Hootie & The Blowfish (FAZ) und eine Aufnahmen von Beethovens op. 130  mit dem Danish String Quartet (FAZ).
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Kunst

Sagmeister und Walsh: "Schönheit". MKG
In der Ausstellung "Schönheit", die nach Wien und Frankfurt jetzt auch im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe gezeigt wird, stößt taz-Kritiker Falk Schreiber auf viele großartige Beispiele, in denen Ästhetik das Leben der Menschen verbesserte: São Paulo ohne großflächige Außenwerbung etwa oder Tirana nach einem Sanierungsprogramm. Aber die von Stefan Sagmeister und Jessica Walsh kuratierte Schau geht zu weit, meint Schreiber: "Sagmeisters Vision schlägt leider in Ideologie um: Alles an 'Beauty' ist Kampf gegen den Funktionalismus - und in der Behauptung von Funktionalismus als weltweit durchgesetztem Mainstream schwingt eine unangenehme Elitenfeindlichkeit mit. Und wenn Platon zitiert wird, als wahrscheinlich erster Philosoph, der mit dem Satz "Was gut ist, ist schön, und was schön ist, ist gut" eine Theorie der Schönheit formulierte, dann wissen Sagmeister und Walsh nur ein paar Schritte später, was schön ist: 'Symmetrie, Einfachheit, Balance, Klarheit, Kontrast und Proportion'."
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