Efeu - Die Kulturrundschau

So betörende Naturschauspiele

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.01.2020. Migrantische Kunst bedeutet nicht automatisch mehr Diversität, warnt die Zeit. Die SZ sucht multifunktionale Möbel auf der Kölner Möbelmesse. Die FR fühlt in Makoto Shinkais Animationsfilm "Weathering With You" Sehnsucht nach dem Regen. Foreign Policy hört mongolischen Metal mit Kehlgesang und fragt sich, warum chinesische Bands so selten etwas Originelles hinbekommen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.01.2020 finden Sie hier

Kunst

Der Kunstbetrieb liebt "migrantische" Kunst. Und Künstler mit Migrationshintergrund, die was mit Migration machen oder mit der Kultur ihres Herkunftslandes. Aber das ist genauso diskriminierend, wie sie ganz zu ignorieren, ärgert sich die Kunstwissenschaftlerin Larissa Kikol in der Zeit: "Viele Kuratoren, Jurymitglieder und Veranstalter vertrauen offenbar mehr auf Marktmechanismen und Imagekampagnen als auf Individualität und die Kunst selbst. Dahinter steckt oft die Angst vor zu wenig öffentlicher Beachtung, aber auch simple Bequemlichkeit. Stereotype lassen sich leichter verkaufen, besser jedenfalls als jene grenzgängerischen Künstler, die jede Art von Zu- und Einordnung vermeiden. So kommt es ausgerechnet unter den gut gemeinten Vorzeichen der Toleranz und Offenheit zu einer Diskriminierung, die niemand wollen kann. Und der Wunsch nach mehr Diversität führt dazu, dass die Gleichwertigkeit aller Herkünfte und Hautfarben im Kunstbetrieb eher verhindert als befördert wird."

Ausstellungsansicht aus "Artists & Agents". Foto: HMK


Georg Imdahl wandert für die FAZ staunend durch die Ausstellung "Artists & Agents. Performancekunst und Geheimdienste" im Hartware Medienkunstverein in Dortmund. "In Künstlerkreisen und der Kunstszene praktizierte die Stasi eine "performative Zensur" und setzte auch die Kunstwelt generell der "vorbeugenden Überwachung" aus", lernt er. Einige Künstler antworteten darauf mit eigenen Aktionen. Anderes hat erst mit der Zeit einen Kunstcharakter angenommen: "Unter einer Plexiglashaube präsentiert Daniel Knorr einige, zu einem Haufen aufgetürmte amorphe Klumpen, die der in Berlin lebende, in Bukarest geborene Künstler vom Leipziger Stasi-Museum erhalten hat: Papiere und Mikrofilme hatten die Geheimdienstler vor der Wiedervereinigung eilends geschreddert, zermahlen, mit Öl und Wasser versetzt, um das Gedächtnis von Akten und Archiv auszulöschen."

Weiteres: Marcus Woeller amüsiert sich in der Welt mit dem Dali-Tarot. Besprochen wird eine Ausstellung von 24 Klavieren aus der Sammlung Conz in den Berliner Kunst-Werken ("Ein Moment, als würde Fluxus wieder auferstehen und die Besucher wie damals in Wuppertal schlicht überrollen", verspricht Christiane Meixner im Tsp).
Archiv: Kunst

Film

Naturschauspiel über Wolkenkratzern: Makoto Shinkais "Weathering with You" (Universum)

Sehnsucht nach dem Regen befällt FR-Kritiker Daniel Kothenschulte nach Makoto Shinkais japanischem Animationsfilm "Weathering With You", dessen Macher er bereits in die Fußstapfen des Großmeisters Hayao Miyazaki treten sieht: "Und doch hat Makoto Shinkai seinen ganz eigenen Stil, den er von Film zu Film weiter vertieft. Seine Figuren mögen den Elementen trotzen, den Gefängnissen der Zeit oder sogar der eigenen Körperlichkeit entfliehen - aber sie tun dies in urbanen Kontexten. Schwer vorstellbar, dass eine Miyazaki-Hexe wie Hina ihre Dienste über ein soziales Netzwerk per Handy offerieren würde. Doch gerade diese Zeitgenossenschaft macht Shinkais Überwirklichkeit so kraftvoll. Und wohl kaum hat man in einem gezeichneten Großstadtdrama so betörende Naturschauspiele erlebt." Martina Knoben ist in der SZ hin und weg von den "überwältigend schönen Bildern mit wunderbaren Lichtstimmungen." Etwas schade findet sie allerdings, dass die Geschichte um einen jungen Mann, der nach langer Jobsuche bei einem okkulten Magazin anheuert, nicht so richtig überzeuge. Auch das Sujet des Klimawandels kriege der Film nicht so richtig zu fassen. Taz-Kritiker Fabian Tietke fühlte sich immerhin "fantasievoll" unterhalten.

Träumt in Paris von Palästina: Elia Suleiman in seinem Film "Vom Gießen des Zitronenbaums"

Mit "Vom Gießen des Zitronenbaums" setzt der arabisch-israelische, griechisch-orthodoxe Regisseur Elia Suleiman eine "Aneinanderreihung kluger Sketche vor, in denen eine unterschwellige Aggressivität vorherrscht", erklärt Philipp Stadelmaier in der SZ. Es geht um die Reibeflächen zwischen Juden, Muslimen und Christen in Suleimans Heimatstadt Nazareth - und um Palästina. Und mittendrin: Suleiman selbst, in Nazarath, Paris und New York. Und "auf der Suche nach Geldern für eine Komödie, die vom Frieden im Nahen Osten handeln soll. Niemand will diesen Film produzieren, als sei schon die ein Witz." Suleiman ist "ein Linker, ein Feind des fanatischen Nationalismus, der sich doch eine zukünftige Heimat Palästina erträumt", schreibt Ekkehard Knörer im Perlentaucher. "Er will kein politischer Filmemacher sein, vieles in diesem Film führt auch anderswohin, in Richtung Tati, in Richtung Melancholie und sanfte Absurdität."

Weiteres: Anke Sterneborg spricht für ZeitOnline ausführlich mit Regisseur Sam Mendes über dessen oscarnominierten (heute in FR und taz besprochenen) Kriegsfilm "1917" (mehr zu dem Film bereits hier). Für die NZZ spricht Lory Roebuck mit der Schauspielerin Sarah Spale, die im (hier besprochenen) Film "Platzspitzbaby" eine Heroinsüchtige spielt. Dem Wiener Publikum empfiehlt Standard-Kritiker Bert Rebhandl eine Reihe mit Skandalfilmen von Catherine Breillat und Marco Ferreri im Österreichischen Filmmuseum. Die Netflix-Erfolgsserie "The Crown" über die Geschichte der britischen Monarchie im 20. Jahrhundert ist weit weniger akkurat und bis ins kleinste durchrecherchiert, wie die Macher es gerne behaupten, schreibt Gina Thomas in der FAZ.

Besprochen werden Hermine Huntgeburths Biopic über Udo Lindenbergs frühe Jahre als Musiker (taz), der neue "Bad Boys"-Actionfilm mit Will Smith und Martin Lawrence (Tagesspiegel, Standard) und der deutsche Klamaukfilm "Go Trabi Go 2" aus dem Jahr 1992, der gemeinsam mit dem ersten Teil nun wieder in die Kinos kommt (Perlentaucher).
Archiv: Film

Design

Raumteiler von Schönbuch
Max Scharnigg hat für die SZ die Kölner Möbelmesse besucht, die sich noch vom Bauhausjahr erholen muss. Also: weniger Aussteller, weniger Käufer. Schöne Designs findet Scharnigg dennoch. Und einen Trend zu Möbeln für kleine Räume, die multifunktional sein müssen: "Was heute noch Platz in den beengten Räumen beansprucht, muss sein Dasein mehrfach rechtfertigen. So kann es auch geschehen, dass ein Hersteller wie Schönbuch - aus dem hintersten Franken und Experte für Diele und Garderobe - zum umschwärmten Fixpunkt wird. Wer schon immer raffiniert kleinste Grundrisse einrichtete, hat in Zeiten akuter Raumknappheit eben einen echten Wissensvorsprung."

Stefan Rebenich besucht für die FAZ den Heidelberger Garten von Max Weberl, denn: "Ohne die großartige Inszenierung der Natur, die künstlerische Ausgestaltung des Gartens und die intentionale Erinnerung an seine soziale Funktion wäre der spätere Mythos um den legendären Sonntagskreis nicht denkbar."
Archiv: Design

Bühne

Szene aus "Hereroland". Foto: Armin Smailovic


In der Welt berichtet Stefan Grund von der geplanten Performane "Hereroland" am Thalia Theater in Hamburg. Hintergrund ist der Mord an Tausenden Hereros, die von deutschen Soldaten 1904 in die Wüste getrieben wurden, wo sie verdursteten. Hamburg ist genau der richtige Hintergrund für so ein Stück, lernt er von den Regisseuren David Ndjavera und Gernot Grünwald. "Regisseur Grünewald: 'Die Stadt war der wichtigste Profiteur in der Kolonialzeit. Die deutschen Truppen reisten per Schiff vom Baakenhafen nach Namibia. Die Siedler, die Pferde, sogar die Häuser, alle Waren kamen über den Hamburger Hafen.' Der Spezialist für Dokumentartheater hält fest: 'Hamburg wurde reich durch den sogenannten Überseehandel, den Handel mit Importgütern, den Kolonialwaren - das ist im Stadtbild bis heute sichtbar und setzt sich in der Globalisierung bis heute wirtschaftlich fort. Das ist ein neuer Kolonialismus. Und Hamburg zählt zu dessen Gewinnern.'"

In der SZ berichtet Christiane Schlötzer von der Entlassungswelle an türkischen Staatstheatern: Schauspieler, "Kulissenschieber und Kostümbildnerinnen, Sänger und Souffleusen traf es, insgesamt rund 150 bislang in freier Tätigkeit an staatlichen Bühnen Beschäftigte, sind seit Jahresanfang arbeitslos. Einige waren nach eigenen Angaben 20 Jahre und mehr an Theatern und Opernhäusern tätig. Begründung für den erzwungenen Abgang? Erst mal keine. Die türkische Gewerkschaft für Kultur und Kunst äußerte die Vermutung, die Gefeuerten stünden auf einer 'schwarzen Liste', manchen sei informell mitgeteilt worden, sie seien bei einer 'Sicherheitsüberprüfung' durchgefallen. Damit war die Sache politisch."

Die Vereinigung von Theaterschaffenden in Deutschland hat in einem Offenen Brief an Senat und Staatsoper einen für heute geplanten Auftritt Placido Domingos in Verdis  - ausverkaufter - "La Traviata" kritisiert, meldet Petra Kohse in der Berliner Zeitung. Domingo wird der sexuellen Belästigung beschuldigt. "Mit Verweis auf das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz in Deutschland, das Arbeitnehmer unter Schutz stellt, fordert Pro Quote Bühne nicht nur ein Auftrittsverbot für Domingo auf deutschen Bühnen, sondern auch 'politische Konsequenzen für das Fehlverhalten von Intendant*innen, die gesetzliche Vorgaben missachten'." Die Staatsoper lehnt das Ansinnen ab.

Weiteres: Patrick Wildermann unterhält sich im Tagesspiegel mit dem Dramaturgen des Gorki Theaters Jens Hillje über die Frage, ""Was bedeutet es, im Jahr 2020 ein Mann* zu sein?" Dramaturgin Kerstin Grübmeyer unterhält sich für das Logbuch Suhrkamp mit der Schriftstellerin Fatma Aydemir, der Regisseurin Selen Kara und der Referentin für Diversität am NTM Sophie Kara über die Adaption von Aydemirs Roman "Ellbogen" am Theater Mannheim und über Diversität am Theater.

Besprochen wird Nicolas Stemanns Inszenierung von Ayn Rands "Der Streik" in Zürich (SZ).
Archiv: Bühne

Literatur

In der NZZ stellt Thomas Ribi ein Buch des ehemaligen NZZ-Feuilletonchefs Martin Meyer über dessen Vorgänger Hanno Helbling vor. In der Zeit verfasst die Schriftstellerin Anna Gien einen Nachruf auf die Wurst.

Besprochen werden Rachel Kushners "Ich bin ein Schicksal" (online nachgereicht von der FAZ), Katharina Hackers Essayband "Darf ich dir das Sie anbieten" (FR), Michail Prischwins "Tagebücher. Band I. 1917 - 1920" (SZ) und Walter Boehlichs gesammelte Titanic-Kolumnen (FAZ).

Mehr in unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau. Alle besprochenen Bücher und viele mehr zum Bestellen finden Sie natürlich in unserem neuen Online-Buchladen Eichendorff21.
Archiv: Literatur
Stichwörter: Titanic

Musik

Während in der wenig bevölkerten Mongolei bemerkenswert viele Rock- und Metalbands ihre Musik mit der traditionellen Musik ihrer Heimat verbinden und dabei interessante Ergebnisse zeitigen, liegt China mit seinen 1,4 Milliarden Einwohnern musikalisch ziemlich brach. Das hat mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu tun, erklärt Lauren Teixeira auf Foreign Policy: Während die Mongolei von der Sowjetunion dazu ermuntert wurde, die eigenen musikalischen Traditionen zu pflegen, sorgten in China Maos Kulturrevolution und die Niederschlagung der Proteste in den 80ern für einen weitreichenden Bruch, dessen Folgen bis heute zu spüren sind: "Die Kultur selbst wurde für eine Generation, die ihre Hoffnungen im Blut enden sah, zu einer Gefahr. In den 90ern interessierten sich die Chinesen mehr dafür, reich zu werden, statt ihre Wurzeln zu erforschen. Im selben Zeitraum verließen Millionen Menschen ihre Dörfer, um in den Städten zu arbeiten. Regionale Musik und Traditionen wurden verwässert oder gingen für immer verloren. Und auch obwohl der neue Wohlstand ein großes kommerzielles Bedürfnis nach Musik schuf, sollte diese alles andere als gefährlich sein. Stattdessen erlebten die 2000er-Jahre eine große Expansion musikalischer Banalität - gekünstelte Popnummern, nostalgische Revolutionslieder bis hin zu neuaufbereiteter ethnischer Musk, die eher als harmlose Grille statt als Ausdruck kultureller Leidenschaft durchging."

Hier eine Hörprobe mit den Metallern von The Hu. Wer davon angefixt wird, findet mehr Tipps zu mongolischen Metalbands in den Leserkommentaren zu diesem Guardian-Artikel:



Weiteres: Im Standard gratuliert Christian Schachinger Christian Anders - Schlagersänger, Trash-Filmer und Verfechter wirrer Ansichten - zum 75. Geburtstag. Besprochen wird das Comeback-Album der Jolly Goods (Tagesspiegel).
Archiv: Musik