Efeu - Die Kulturrundschau

Alphabet des Weltgeists

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.01.2020. Als Triumph des poetischen Schauspiels feiern FAZ und Nachtkritik Johan Simons' "Iwanow"-Inszenierung mit Jens Harzer. In der Berliner Zeitung ertasten Ingo Schulze und Charly Hübner den geistigen Körper Ernst Barlachs. In der FR verneigt sich Adonis vor Hafez, dem Abtrünnigen und Weintrinker. Die Zeit porträtiert die isländische Komponistin und Cellistin Hildur Gudnadóttir.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.01.2020 finden Sie hier

Bühne

Gina Haller und Jens Harzer in Johan Simons' "Iwanow". Foto: Monika Rittershaus / Bochumer Schauspielhaus

Meisterwerk!, ruft Nachtkritiker Andreas Wilink zu Johan Simons' Bochumer Inszenierung von Tschechows Stück "Iwanow", das die Tragödie eines vergehenden Menschenlebens erzählt. Einen "strahlenden Siegesbeweis für das poetische Theater" erlebte auch FAZ-Kritiker Simon Strauss in dieser großzügigen und für ihn schon jetzt unvergesslichen Inszenierung: "Jens Harzer, der Iffland-Ring-Träger und zurzeit wahrscheinlich sensibelste Schauspieler deutscher Sprache, spielt diesen verlorenen Schuldiger in all seinen Facetten. Virtuos gibt er ihm stets ein neues Gesicht, wechselt unberechenbar die Stimmung und den Ton, mitunter sogar innerhalb desselben Satzes, und gibt komödiantische Einlagen. Harzers Spiel ist ein Ereignis. Seine innere und äußere Beweglichkeit zieht ganz in ihren Bann, gerade weil er von einem ebenso phantastischen Ensemble umgeben ist."

Devid Striesow und Angelika Richter in Karin Beiers Inszenierung von Tschechows Iwanow" am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Foto: Arno Declair

Grandios findet Irene Bazinger in der FAZ aber auch Karin Beiers spartanische Inszenierung des "Iwanow" in Hamburg, mit Devid Striesow in der Titelrolle: "Devid Striesow bleibt meistens in der darstellerischen Reserve, entfaltet seinen Iwanow nicht von innen, sondern umgarnt ihn von außen, was der Figur nicht schadet. Große Sprünge macht sie auf diese Art in der dreistündigen Aufführung natürlich nicht, stattdessen traurige kleine Verhängnisschritte." Auch Nachtkritiker Stefan Forth empfiehlt den Abend als "unbedingt sehenswert, ebenso lustig wie berührend". Vergleichende Kritiken der beiden Inszenierungen findet man im Dlf Kultur und im Spiegel.

Besprochen werden außerdem Ulrich Rasches hoch ästhetische Inszenierung von Sarah Kanes wütendem Stück "4.48 Psychose" am Deutschen Theater (im Tagesspiegel ist Christine Wahl begeistert von dieser zeitgemäßen Fassung des "In-Yer-Face-Theater, taz-Kritikerin Katrin Bettina Müller fühlte sich allerdings nach drei Stunden "so platt, als wären die Laufbänder über einen drübergerollt", Nachtkritik), Lars-Ole Walburgs Inszenierung von Brechts "Galileo", mit der das Düsseldorfer Schauspielhaus nach seiner Sanierung feierlich eröffnet wurde (SZ), Lukas Bärfuss' Stendhal-Adaption Stück "Julien - Rot und Schwarz" am Theater Basel (SZ), eine Bühnenfassung von Fatma Aydemirs Roman "Ellbogen" im Nationaltheater Mannheim (FR), Nikolaus Habjans Inszenierung von Richard Strauss' "Salome" am Theater an der Wien (Standard) und Oliver Frljićs Wiederbelebung von Heiner Müllers "Hamletmaschine" im Burgtheater-Kasino (Standard).
Archiv: Bühne

Literatur

Der syrische Dichter Adonis umkreist in der FR - in konsequenter Kleinschreibung - das Verhältnis zwischen dem iranischen Dichter Hafez und Goethe, der von ersterem "im herbst seines lebens beflügelt" war und in höchsten tönen von ihm schwärmte. "hafez ist in goethe eingewandert, und goethe hat ihn aufgenommen. mit dem alphabet des weltgeists nähert sich goethe unserem propheten. ... ich erinnere mich an die anfangszeit der islamischen revolution. plakate wurden an den geduldigen mauern teherans angebracht. darauf das konterfei vom schah und das von chomeini. darunter eine zeile von hafez: 'wenn der dämon verschwindet, erscheint der engel'. als dann die mullahs ihre macht mit einem beispiellosen terror gefestigt hatten, zeigten sie ihr wahres gesicht. sie griffen hafez an, den weintrinker, den abtrünnigen."

Schriftsteller Ingo Schulze hat sich mit Schauspieler Charly Hübner zusammengetan, um zusammen die Briefe des vor 150 Jahren geborenen Bildhauers Ernst Barlachs zu lesen. Im Gespräch mit Cornelia Geißler erzählen die beiden in der Berliner Zeitung, was sie an den Texten so reizvoll finden. Schulze: "Im Gegensatz zu Knausgard sind diese Texte überhaupt nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Ich liebe die Briefe von Uwe Johnson an Max Frisch sehr, aber das sind ausgearbeitete literarische Werke. Spätestens wenn man Barlachs Briefe laut liest, merkt man nicht nur die grammatikalischen Fehler, die ihm unterlaufen, sondern vor allem: Wie er das, was er ausdrücken will, aus der Sprache kratzt oder haut. Er benutzt kaum Redewendungen, sondern formuliert alles mit eigenen Worten, was einen als Leser zum Nachdenken zwingt. Im Vergleich zu den Dramen oder seiner Prosa, die wirklich außerordentlich sind, hat man bei den Briefen den Eindruck, hier regelrecht den geistigen Körper berühren zu können."

Im Tagesspiegel greift Gerrit Bartels die Debatte um den Twitter-Hashtag #vorschauenzählen (bei dem es um die Sichtbarmachung des Geschlechterverhältnisses in den Verlagsvorschauen geht) in der Literarischen Welt (unser Resümee) und in Folge auf 54books.de auf. Die im letzteren Beitrag von Johannes Franzen konstatierte Frontstellung zwischen literarischem Feuilleton und Twitter kann Bartels nicht ganz nachvollziehen: Er beobachtet einen "Kampf um Diskurshoheit, der insofern verwundert, als dass die Übergänge immer fließender geworden sind, die Grenzen, wenn es sie so hochsicherheitstraktmäßig überhaupt je gab, viel durchlässiger."

In der NZZ schildert Marc Neumann wie eine Jugendautorin, die sich von einer unglücklichen, aber lapidaren Formulierung einer studentischen Kritikerin auf den Schlips getreten fühlte, diese vor ihrer sechsstelligen Followerschaft auf Twitter an den Pranger stellte, was dazu führte, dass sich weitere Autorinnen mit beachtlicher Reichweite ebenfalls auf diese Studentin stürzten, die sich unter dem Druck komplett aus dem Netz zurückzog. Dass diese Aktion "völlig aus dem Ruder gelaufen war, dämmerte einigen Beobachtern schließlich doch noch. Es war eine Machtdemonstration von etablierten, scheinbar wohlmeinenden feministischen Autorinnen, die eine unbekannte Studentin in Grund und Boden mobben. ... Mit derlei Kritik konfrontiert, löschten die Cancel-freudigen Jugendbuchautorinnen leise ihre aufwieglerischen Tweets und ersetzten sie mit knappen Entschuldigungen."

Besprochen werden Ottessa Moshfeghs neuer Erzählband "Heimweh nach einer anderen Welt" (SZ), neue ungarische Bücher von János Térey und Szilárd Borbély (NZZ), Madame Nielsens "Das Monster" (Freitag), Sergio Ramírez' Kriminalroman "Um mich weint niemand mehr" (NZZ), Lisa Taddeos "Three Women" (Presse) und neue Hörbücher, darunter eine Hörspielbearbeitung des SWR aus dem Jahr 1982 von Vergils "Aeneis" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Frieder von Ammon über Deryn Rees-Jones' "Lied an den Lärm":

"Ich rufe dich in all deinen Formen.
Ich rufe deine Vierviertel, deine ganzen und doppelten Noten.
..."
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Kunst

Albrecht Dürer: Bildnis des Malers Michael Wolgemut, 1516, Germanisches Nationalmuseum
Kia Vahland empfiehlt in der SZ eine Ausstellung in Nürnberg zu Dürers Lehrer Michael Wolgemut, dem sein Schüler eines der berühmtesten Porträts der deutschen Renaissance widmete, der aber selbst ein Mann des Übergangs blieb: "Einerseits bedachte er Bürger und Kleriker mit der Tradition, andererseits gierte er nach Innovation - und ging in seiner Wissbegierde soweit, die Witwe eines Konkurrenten zu heiraten, um dessen Entwürfe zu bekommen. Dürer hätte im Fränkischen keinen besseren Zeitgenossen finden können, um erst zu lernen und sich dann vom Meister abzugrenzen."

Weiteres: In der Berliner Zeitung beneidet Ingeborg Ruthe das Schweizerische Riehen um seine Fondation Beyeler, die eine große Eward-Hopper-Schau im Programm hat. Guardian-Kritiker Adrian Searle begibt sich mit einer Fischli-Weiss-Schau bei Sprüth Magers in London auf eine "hypnotische Reise Richtung Nichtigkeit".
Archiv: Kunst

Film

Hier kommt der große Zampano, muss Gelsomina immer wieder  singen. Fellinis "Lied von der Straße"

Federico
Fellini wäre heute hundert Jahre alt geworden. In der FR entrinnt Arno Widmann ein großer Seufzer: "In einem Interview mit Wolfram Schütte erklärte Rainer Werner Fassbinder über Federico Fellini: 'Das sind die perfektesten Filme für mich, die es gibt. Da gibt es keine schwache Sekunde, nichts, und das ist das persönlichste Kino, das ich kenne.' Ich beginne mit diesem Zitat, weil ich mich inzwischen so einsam fühle mit meiner grenzenlosen Begeisterung für die Filme Fellinis. Es gibt so viele Menschen, die sie nicht mehr kennen, so viele, die das geflüsterte 'Guido, Guido', mit dem der Regisseur in 'Achteinhalb' in seinen Träumen gerufen oder das immer lauter werdende, mit dem er geweckt wird, nicht mehr im Ohr haben." Im Standard betont Bert Rebhandl, welchen Bruch Fellini für das italienische Kino bedeutete: "Fellini führte das Kino von den Landstraßen und den städtischen Winkeln zurück in das Studio: er vor allem war es, der den Traum von Cinecittá, von der großen, römischen Filmfabrik wiederbelebte." Dlf Kultur widmet sich dem italienischen Regisseur in einem halbstündigen Special." In der Welt schreibt Jan Küveler.



Handwerklich virtuos, aber auch ziemlich befremdlich findet FR-Kritiker Daniel Kothenschulte Sam Mendes' Kriegsfilm "1917", der den Eindruck entstehen lässt, in nur einer einzigen Einstellung gedreht worden zu sein: "Mit emotionaler Wucht orchestriert er eine Heldengeschichte, die man schon 1917 hätte erzählen können. Zwar nicht mit solch handwerklicher Brillanz, aber doch mit ähnlicher Begeisterung für die Macht des Kinos, uns der 'last minute rescue' entgegenfiebern zu lassen, wie sie schon Filmpionier D. W. Griffith kultivierte. Dieser Film spielt nicht nur im Ersten Weltkrieg, er erinnert auch an die Propaganda, die ihn begleitete. ... Hundert Jahre nach seinem Ende scheint die Desillusionierung, die den Ersten Weltkrieg zum Thema zahlloser Antikriegsgeschichten machte, wieder der 'großen Illusion' gewichen."

Besprochen werden der neue "Bad Boys"-Actionfilm mit Will Smith und Martin Lawrence ("ein Rückschritt auf allen Ebenen", schimpft Wolfgang M. Schmitt in der NZZ), Hermine Huntgeburths Biopic über Udo Lindenbergs frühe Jahre als Musiker (Freitag) und neue Heimmedienveröffentlichungen, darunter "Ein Froschmann an der Angel" mit Jerry Lewis (SZ).
Archiv: Film

Musik

Für die Zeit porträtiert Florian Zinnecker die in Berlin lebende isländische Komponistin und Cellistin Hildur Gudnadóttir, die im vergangenen Jahr erst mit dem Soundtrack zur HBO-Serie "Chernobyl" und schließlich mit ihrer Musik zur Comicverfilmung "Joker" (unsere Kritik), die auch für einen Oscar nominiert ist, einem breiteren Publikum bekannt wurde. Für den "Chernobyl"-Soundtrack reiste sie schon mal mit einem Toningenieur nach Litauen in ein stillgelegtes Atomkraftwerk, um dort im Schutzanzug Geräusche zu sammeln, die sie "in wochenlanger Arbeit zu Klangcollagen zusammenfügte. 'Faktenbasierte Musik' nennt Gudnadóttir selbst diese Arbeit - sie bildet ab und inszeniert, aber sie erfindet nichts. Der Soundtrack kommt fast völlig ohne Instrumente aus; das Einzige, was klingt, ist das Atomkraftwerk selbst. ... Und nicht nur dadurch, dass man keine Menschen, kein Leben hört, klingt die Musik so verloren. Sondern weil die Leerstellen spürbar bleiben: Man kann die Menschenferne fühlen, die Musik ist noch stiller, als es die Stille selbst sein könnte."



Vordergründig und insbesondere mit der Single "Darkness" wirkt das neue, überraschend veröffentlichte Eminem-Album "Music To Be Murdered By" eine Abrechnung mit Anschlägen wie dem vom Oktober 2017, als Stephen Paddock in Las Vegas von einem Hotelfenster aus ein Countryfestival unter Beschuss nahm, erklärt Nadine Lange im Tagesspiegel. Der Eindruck verflüchtigt sich allerdings im Nu, wenn man sich eingehender mit der Platte befasst: "Darauf wimmelt es nur so von Schüssen, Waffenklackern und Gewaltmetaphern, die keinerlei Raum für sozialkritische Interpretation zulassen." Und "es ist lächerlich, wie der 47-Jährige ständig behauptet, immer noch der Größte zu sein. Diesen Titel hält derzeit unbestreitbar Kendrick Lamar."

Weitere Artikel: Die Berliner Technoclubs drohen, nachdem sie lange Zeit ein Motor der Gentrifzierung und des boomenden Tourismus waren, Opfer des eigenen Hypes zu werden, berichtet Jana Weiss im Tagesspiegel. Hannah Bethke erinnert sich in der FAZ an Klavierstunden mit ihrem Vater, von dem sie lernte, wie Beethoven auch sein konnte: "ganz leicht, verspielt, gelassen - nicht Beethoven, der Bombastische." Für den Standard hat Ronald Pohl ein fiktives Interview mit Beethoven geführt.

Besprochen werden Mac Millers postumes Album "Circles" (Tagesspiegel, SZ), das neue Album des japanischen Noiserock-Projekts OOIOO (Jungle World), ein Schubert-Liederabend mit Philippe Jaroussky (Tagesspiegel), ein Konzert des Jazzsaxofonisten Joshua Redman mit der HR-Bigband (FR) und ein Konzert des Pianisten Jan Lisiecki (Tagesspiegel).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Oliver Camenzind über Gil Scott-Herons "The Revolution Will Not Be Televised":

Archiv: Musik