Efeu - Die Kulturrundschau

Verzweiflungsschrei im Textildickicht

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04.02.2020. Telepolis wirft den Machern der ZDF-Reihe "Das Boot" Geschichtsklitterung vor. Die FR erklärt sich die Causa Alfred Bauer nicht mit Ignoranz, sondern mit dem zwanghaften Willen zur Entideologisierung. Von der Religion lässt sich die SZ im Stuttgarter "Boris Godunow" nicht trösten, wohl aber von Adam Palkas betörend zartem Bass. Die taz verfolgt, wie sich die Mode in eine Reihe von Insider-Jokes auflöst. Und: Lässt die Welt am Sonntag einen Skandal zu Uwe Tellkamp herbeidiskutieren?
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.02.2020 finden Sie hier

Bühne

Adam Palka als Boris Godunow. Foto: Matthias Baus/ Staatsoper Stuttgart

An der Staatsoper Stuttgart wurde Modest Mussorgskis dunkle Oper "Boris Godunow" - um Sergej Newskis Komposition zu Swetlana Alexijewitschs "Secondhand-Zeit" erweitert - aufgeführt, und SZ-Kritiker Reinhard Brembeck ist ganz betört von Adam Palkas Bass, der "um keinen Ausbruch und keine Zartheit verlegen" ist. Umso verstörter kommt er aus dieser Welt der Finsternis: "Boris ist ein schäbiger Gewaltmensch mit dem Verlangen nach familiärer Idylle, die ihm verwehrt wird. Seine Machtclique ist feige und hinterlistig, das Volk ist desillusioniert bösartig... Die sechs Leidensmenschen aus 'Secondhand-Zeit', allesamt frei vom trügerischen Trost der Religion im 'Boris', schreiben dieses Unglück fort bis ins Heute. Das Ganze grenzt geradezu an ein Russland-Bashing, was angesichts eines Potentaten wie Vladimir Putin auch nicht verwunderlich ist. Der Regisseur Paul-Georg Dittrich, neuerdings sehr als Opernmacher begehrt und bejubelt, gibt sich allerdings nicht mit politischen Statements, Realismus und Neudeutung zufrieden. Er und sein Bühnenteam feiern in einem fantastischen Bildersturm die Poesie des Untergangs und des Unheils."

Elfriede Jelinek hat aus dem Ibiza-Video ein Theaterstück gemacht. Am Donnerstag wird "Schwarzwasser" aufgeführt, mit einem rosa Gorilla im Mittelpunkt, wie in der SZ Peter Münch verrät, der die Proben unter Regisseur Robert Borgmann besuchen durfte: "So steht der Ibiza-Skandal für Robert Borgmann heute 'zeichenhaft dafür, wie sich in der Politik die Idee von Integrität aufgelöst hat', mehr noch: 'für die vollkommene Obszönität', mit der auch andere wie Donald Trump, Viktor Orbán oder Jair Bolsonaro ihre Macht ausüben."

Besprochen werden außerdem Christian Weises "Hamlet"-Inszenierung (mit dem sich SZ-Kritiker Peter Laudenbach zufolge das Maxim-Gorki-Theater als das "vitalste, anarchistischste, spielfreudigste Theater Berlins erweist, Tsp, FR, taz) Rossinis "wunderschöne" Oper "La gazzetta" in Frankfurt (FR), Andreas Homokis Inszenierung von Glucks "Iphigénie en Tauride" mit Cecilia Bartoli in Zürich (NZZ), Wolfgang Rihms Kammeroper "Jakob Lenz" in Bremen (NMZ) und die Choreografie "Duels" von Erna Omarsdottir und Damien Jalet in Oslo (FAZ).
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Literatur

Die Welt am Sonntag veröffentlichte am Sonntag eine Seite mit einer Umfrage unter Autoren zur Frage, "ob Suhrkamp weiterhin die verlegerische Heimat von Uwe Tellkamp sein soll". Hintergrund ist, dass das Erscheinen des neuen Romans von Tellkamp mit dem Titel "Lava" offenbar von Herbst auf Frühjahr verschoben wurde. Laut Welt und Welt am Sonntag soll das für eine Entfremdung zwischen Suhrkamp und Tellkamp sprechen. Die Welt am Sonntag hat die Seite mit der Umfrage bisher nicht online gestellt. Hannah Lühmann hofft im Editorial, dass die Umfrage "das geistig verkantete Diskussionsklima hierzulande etwas aufzulockern" vermag. Der Journalist Alexander Wendt zitiert auf seinem Blog publicomag ausführlich und erlaubt so, dass sich das Publikum ein Bild machen kann. Er zitiert etwa Monika Maron: "Welcher Skandal soll hier eigentlich herbeidiskutiert werden? Niemand kennt das Buch, über dessen Zumutbarkeit wir hier urteilen sollen. Mir ist von einem Dissens zwischen Autor und Verlag nichts bekannt. Wo sind wir gelandet, daß Sie mir diese Fragen stellen? Darf man Tellkamp verlegen? Vielleicht demnächst: Darf man Michel Houellebecq verlegen? Ich nehme an der Umfrage nicht teil." (Die Antwort Marons ist nicht in der Welt, sondern bei Alexander Wendt erschienen.)

Ganz anders sieht es Aleida Assmann, der schon der Titel reicht: "Wenn er tut, was der Titel des neuen Romans verspricht, nämlich glühende Lava über das Land zu gießen, dann wird man ihn daran nicht hindern können… Man muss sich allerdings fragen, durch welchen Vulkan, sprich Verlag, diese Lava sich ergießen soll. Es sollte nicht der Suhrkamp-Verlag sein, denn auch Verlage haben ihre Identität und ein Gesicht zu verlieren. Zu einem Zeitpunkt, wo sich in der Gesellschaft Hass, Antisemitismus und Gewalt mit der Geschwindigkeit des Coronavirus ausbreiten, muss der Suhrkamp-Verlag keinen Brandbeschleuniger auf den Markt werfen." Wendt dazu: "Hier hätte die Redaktion beziehungsweise Chefredaktion der WamS zwingend eingreifen müssen. Denn diese Art der Verdächtigung hat mit Literaturdebatte nicht das Geringste zu tun."

Sehr unbefriedigend fand tazler Jens Uthoff die Paneldiskussion zum Thema Political Correctness, die beim Deutschen Literaturfonds in Leipzig stattfand (siehe dazu auch schon hier): Zu einig war ihm das Panel in seiner Befürchtung, die PC drohe, die Literatur zu erschicken. "Erst mit den Publikumsbeiträgen wird deutlich, wie verhärtet die Fronten sind. Als es um das Sensitivity Reading geht, eine Form des Prüfens von Texten auf 'schädliche oder missverständliche Darstellungen' (Beschreibung einer Berliner Agentur, die diesen Dienst anbietet), empört sich eine junge Frau über das Gelächter auf dem Podium: 'Warum lachen Sie das weg? Nehmen sie das Thema bitte ernst.'" Sehr ausführlich berichtet auch Wolfgang Tischer im Literaturcafé.

Nicole Seifert ärgert sich in einem Essay auf 54books.de über Ausflüchte vieler Verleger, man würde beim Zusammenstellen der eigenen Programme zu allererst auf Qualität achten und nicht auf ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis: "Wieder und wieder dieselbe Formulierung, da kommt man um die Schlussfolgerung kaum herum, dass hier wohl tatsächlich jemand glaubt, Männer schrieben die besseren Bücher."

Weitere Artikel: Wer wissen will, warum Literatur fesselt, sollte zu Ilse Aichinger und insbesondere zu ihrer Erzählung "Der Gefesselte" greifen, meint Bernadette Gruber auf ZeitOnline. Ronald Pohl erinnert im Standard an die vor 25 Jahren verstorbene Schriftstellerin Patricia Highsmith.

Besprochen werden unter anderem Bov Bjergs "Serpentinen" (NZZ, FAZ), Monika Helfers "Die Bagage" (FR), Jonathan Franzens Klimawandel-Essay "Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen?" (ZeitOnline, SZ), Joachim Kalkas Essay "Staub" (FR), Miljenko Jergovičs "Ruth Tannenbaum" (NZZ) und Angel Igovs "Die Sanftmütigen" (FAZ).
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Film

Dass die Biografie des ersten Berlinale-Leiters Alfred Bauer, trotz durchaus vorhandener Hinweise auf seine Tätigkeiten als ranghoher Kulturfunktionär im Nationalsozialismus, zu dessen Lebzeiten nie aufgearbeitet wurde, hat auch viel mit einer "Atmosphäre der historischen Entspannung" zu tun, meint Harry Nutt in der FR. In dieser Atmosphäre "erschien es nicht zuletzt einer jüngeren Generation von Filmexperten opportun, sich anerkennend mit der Filmästhetik von Hitlers Regisseurin Leni Riefenstahls zu befassen" und zwar unter der Maßgabe "eines kühlen zweiten Blicks, der für sich in Anspruch nahm, ein nüchtern-unideologisches Gesamtbild zu präsentieren". Doch "wie die Affäre um die Person Alfred Bauer nun zeigt, ging diese Einschätzung auch mit Selbsttäuschungen einher." Unseren Überblick zur Causa Bauer finden Sie hier.

Mit seiner als "Event-Serie" lancierten Produktion "Das Boot" betreibt das ZDF vor allem in Zeiten von Fake News grob fahrlässig das Geschäft von Verschwörungstheoretikern und des Querfront-Milieus, ärgert sich Rüdiger Suchsland auf Telepolis. Suggeriert werde nämlich, dass die Materialschlachten des Zweiten Weltkriegs überhaupt erst durch Investitionen der amerikanischen Hochfinanz möglich gewesen wären: "Krieg sei halt ein Geschäft, 'und ihr, meine Freunde, seid die Opfer', sagt der Amerikaner den Deutschen - so etwa stand es seinerzeit auch im Völkischen Beobachter über 'angloamerikanische Finanzjuden'. Der historische Haken: Solche 'Reichsanleihen' an der Börse gab es gar nicht. ... Ein zusätzliches Geschmäckle bekommt das Ganze, weil Kritik an Wall-Street und Finanzhaien ja nicht nur eine Kritik an Amerika ist, sondern bis heute gern auch unter deutschen Linken als verkappte antisemitische Kritik an Juden geübt wird."

Weitere Artikel: Joaquin Phoenix sprach sich der Verleihung des BAFTA-Preises gegen Rassismus aus, berichtet Cornelia Geißler in der FR. In Hamburg wurde Jean-Luc Godards Rarität "Allemagne année 90 neuf zéro" gezeigt, jedoch - anders als angekündigt - in Abwesenheit des Regisseurs, berichtet Willi Winkler in der SZ.

Besprochen werden Terrence Malicks "Ein verborgenes Leben" (FAZ, unsere Kritik hier), die letzte Staffel der Animationsserie "BoJack Horseman" (Freitag) und die Serie "Gentleman Jack" über Anne Lister, eine der ersten Frauen, die offen lesbisch lebten (FAZ).
Archiv: Film

Design

Das Modedesign hat auf der verzweifelten Suche nach einen bisschen Rest-Distinktion die von nutzlosen Ornamenten durchsetzte Ästhetik des Ramschs für sich entdeckt, erklärt tazlerin Katharina J. Cichosch, die sich beim Anblick mancher aktuellen Kollektion wieder in jene Zeit zurückversetzt sieht, als Mutti die Kleidung mangels finanzieller Mittel aus dem Wühlkorb holte: "Manche Farbschöpfungen der letzten ein, zwei Jahre erschienen tatsächlich als regelrechter Verzweiflungsschrei im Textildickicht: ungesund schimmerndes Orange und ätzendes Grün, kaum knallig genug, um jemals Neon gewesen zu sein, das jegliche Aussicht, irgendwann einmal ernst zu nehmender Trend zu werden, schon mit dem Eintritt in die Warenwelt selbst zu Grabe getragen hat." Doch wenn im Zuge fortlaufender ironischer Manöver "alles nur noch eine endlose Reihung von Insider-Jokes bleibt und nichts eine gewisse Durchschlagskraft erreicht, spricht man dann überhaupt noch von Mode? "

Dazu passend stellt Patrick Wagner die Arbeiten des Modedesigners Jonny Banger vor, der sich schamlos bei den Logos und Designs anderer Marken bedient, seine Entwürfe dann für Schleuderpreise auf den Markt wirft und sich damit bislang erstaunlich wenig Probleme eingehandelt hat.
Archiv: Design

Kunst

Fritz Lang: Hirsch, 1932. Foto Frank Kleinbach / Kunstmuseum Stuttgart
Verdienstvoll und lehrreich findet Hans-Joachim Müller in der Welt die Ausstellung "Der Traum vom Museum schwäbischer Kunst" im Kunstmuseum Stuttgart, die rekonstruiert, was von den Nazis, aber auch davor von einem italienischen Marchese an schwäbischer Heimatkunst zusammengetragen wurde: "Trostbilder, aber kein oder kaum Propagandamaterial. 'Ährenfelder', 'Landschaft mit Kapelle', 'Sommerabend' - eigentlich ist immer Sommer, auch wenn über den heißen Farben das verdorrte Braun nach akademischer Vorschrift liegt. Wohl gibt es auch das: Georg Lebrechts völkischen Aufruf 'Nach Ostland woll'n wir reiten'... Materialreicher und eindrücklicher ist selten gezeigt worden, wie der ewige Heimataffekt, diese stille Sehnsucht nach der kleinräumigen Geborgenheit, zwar vom populistischen Nationalismus immer wieder missbraucht werden kann, aber eben auch ganz ohne Wortführer und Sprücheklopfer vital bleibt."
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Musik

Andrian Kreye berichtet in der SZ von der Halbzeit-Performance beim Super Bowl, die in diesem Jahr von Shakira und Jennifer Lopez bestritten wurde und im US-Wahljahr von deutlich politischen Signalen geprägt war. Hat sich denn damit die Prognose bewahrheitet, dass Trumps Präsidentschaft den Pop wieder rebellisch machen würde? Nicht wirklich, meint Kreye: "Die Ära Trump hat nicht den Pop politisiert, sondern die Popstars. Das schlägt sich seltener in den Werken nieder als vielmehr in Gesten. Die Songs, die Shakira und Jennifer Lopez in ihrem musikalischen Sperrfeuer verarbeiteten, waren ja keine Protestlieder, sondern inhaltlich traditionelle Pophits, deren rhythmische Quellen in den Einwandererkulturen bisher nicht als politische Botschaft verstanden wurden, sondern als Impulse für die Tanzflächen." Hier die Performance in voller Länge:



Auf ZeitOnline befasst sich Sebastian Reier mit der Musik, die die türkischen Communitys in die alte Bundesrepublik gebracht haben, ohne dass die übrige Bevölkerung - auch mangels Berücksichtigung in den Charts - davon je Notiz genommen hätte. Dabei war das vom Germanistikstudenten Yılmaz Asöcal 1968 gegründete, bis heute existente Kölner Label Türküola mit mehr als 1000 Veröffentlichungen die "erfolgreichste unabhängige Plattenfirma der Republik. ... Anfangs presst Asöcal Schallplatten von bekannten türkischen Sängerinnen und Sängern, doch schnell baut er auch eigene Stars auf, wie den Ford-Arbeiter Metin Türköz, der auf 13 Alben und 72 Singles die Sorgen und Wünsche der ersten Gastarbeitergeneration besingt. Eine Figur tritt in seinen Texten immer wieder auf: der Mayistero, der deutsche Vorarbeiter am Fließband. Und der kriegt gehörig sein Fett weg. Mitbekommen hat es der 'Meister' wohl kaum." Wir hören rein:



Weitere Artikel: Beate Scheder resümiert in der taz das Berliner CTM Festival. Für FAZ-Kritiker Jan Brachmann stellt die von Tabea Zimmermann geleitete Beethoven-Woche in Bonn "schon jetzt einen Höhepunkt des Beethoven-Jahres" dar. Christian Schröder schreibt im Tagesspiegel einen Nachruf auf den Gitarristen Ivan Král, der unter anderem mit Iggy Pop und Patti Smith zusammenarbeitete. Für Smith schrieb er das Stück "Dancing Barefoot":



Besprochen werden neue Klassikveröffentlichungen, darunter eine "mitreißende Einspielung" des Kuss Quartetts von Kompositionen Mieczysław Weinbergs (SZ).
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