05.02.2020. Ist die Berlinale noch ein A-Festival? Im Tagesspiegel verabschiedet sich Berlinale-Chef Carlo Chatrian vom Weltpremierendruck. Von Standard bis FAZ stellen sich die Kritiker hinter Roman Polanskis Dreyfus-Film "Intrige". Die taz gleicht in Frankfurt ihr Italienbild mit dem italienischer Fotografinnen ab. In der FR wünscht sich Christian Baron mehr Geschichten von ganz unten. In der Vogue gesteht Billie Eilish ihre Angst, sich eines Tages den Kopf zu rasieren.
Film, 05.02.2020
Für den Tagesspiegel haben sich Andreas Busche und Christiane Peitz mit der neuen Doppelspitze der Berlinale, CarloChatrian und MarianneRissenbeek, zur Lagebesprechung zusammengesetzt. Als künstlerischer Leiter spricht sich Chatrian für eine Loslösung vom Weltpremierendruck aus: Zwei der im Wettbewerb gezeigten Filme liefen zuvor bereits auf US-Festivals. Der festivaltypische "Ehrgeiz darf sich nicht gegen die Filme wenden", sagt er. "Für eine Regisseurin wie Eliza Hittman ist es ungemein wichtig, dass sie am Sundance-Festival teilnimmt. Warum sollte ich ihrem Film schaden und sagen, wir nehmen ihn nur, wenn er dort nicht läuft? Festivals sind für die Filme da, nicht umgekehrt." Aber kommt das nicht dem Abschied vom A-Status des Festivals gleich?
Wer klagt hier wen an? Roman Polanskis "Intrige" Alle Hände voll zu tun haben die Kritiker, im Fall von Roman Polanskis nach einer Vorlage und einem Drehbuch von RobertHarris entstandenen Film "Intrige" über die Dreyfus-Affäre Werk und Autor zu trennen oder auch nicht - zumal Polanski, dem seine Vergewaltigung einer Minderjährigen in den Siebzigern zuletzt wieder häufiger vorgeworfen wurde, sich in Interviews selbst in den Kontext der Dreyfus-Affäre gerückt hatte, solche Äußerungen aber wieder zurückgezogen hat. Diverse "Drehbuch-Bonmots verkomplizieren" die Lage noch, meintTagesspiegel-Kritiker Andreas Busche und auch dass Polanski sich die Schlagzeile 'J'accuse' zumindest im Originaltitel des Films aneignet, mache es nicht einfacher: "Polanski dienen die historischen Begebenheiten nur als Vorwand für eine persönliche Abrechnung. Indem sich Polanski implizit mit Dreyfus als unschuldig verfolgtem Juden vergleicht, wird auch der Antisemitismus im Film instrumentalisiert." In der SZrollt Kathleen Hildebrand die französischen Debatten um Polanskis Film auf.
Dennoch: "Man sollte diesen Film sehen, sehen können, nicht boykottieren, ganz egal, wie man zur Person Polanski steht", ruft Dominik Kamalzadeh im Standard, der es mitunter ironisch findet, "dass Polanski das Lied eines Patrioten anstimmt, der für die justiziable Gerechtigkeit kämpft. Als Film, der von der Beschädigung rechtsstaatlicher Institutionen durch Verschwörer erzählt, liefert 'J'accuse' viel Anschauungsmaterial, wie man die Demokratie beschädigt." In der tazstaunt Barbara Schweizerhof über die lakonisch-trockene Virtuosität des Films, der "dem Staunen Tür und Tor öffnet", was die dünne Beweislage der Dreyfuss-Gegner betrifft. Dennoch liegt auch für sie über dem Film der Schatten des Regisseurs und dessen Taten - ein zumindest kleineres Dilemma: "Die größere Schuld wäre nicht, es zuzulassen, dass Polanski Ende Februar Preise für einen guten, notwendigen Film bekommt, sondern dass man es ihm damals durchließ, die Vergewaltigung einer Minderjährigen kleinzureden."
Andreas Kilb hält in der FAZ allen Mutmaßungen darüber, ob Polanksi hier nicht etwa seine eigene Geschichte verklausuliert habe, entgegen, dass Polanskis Filme - mit Ausnahme von "Der Pianist" - noch nie autobiografisches Kino darstellten, sondern vor allem gediegenes Genrekino nach Buchvorlagen. Auch diesem Film gelinge - nicht zuletzt dank der Hilfe von Kameramann Paweł Edelman - so manches Kunststück, "dass man gar nicht merkt, wie einen der Film mit seinen Bildern einseift. Dieselbe abgebrühte Virtuosität spricht aus fast allen Filmen Polanskis, und sie markiert auch hier die Grenze seines Könnens. Eine Geschichte, die uns wirklich ergreift wie die des 'Pianisten', wird er wohl nicht mehr erzählen. Stattdessen setzt er die Tradition des französischen Qualitätskinos fort, das alle Angriffe der Nouvelle Vague überlebt hat."
Kunst, 05.02.2020
Giovanna Borgese: Le regazze di Prima Linea Das Fotografie Forum Frankfurt zeigt die Sammlung der Fotografin Donata Pizzi mit 150 Arbeiten ihrer italienischen Kolleginnen. Dass viele der Namen unbekannt sind, versteht sich sozusagen von selbst, meint Katharina J. Cichosch in der taz, es sind eben alles Frauen: "Terrorbräute, Mafia, italienisches Dolce Vita. Riten und Religion, die in Italien so stark mit dem Unheimlichen und dem Volksglauben verknüpft scheinen, wie in Marialba Russos rätselhaft eingefangenem Ritual eines nackten Jungen, der durch die Luft gehoben wird. Immer wieder wird man in dieser Ausstellung auf das eigene Italien-Bild gestoßen, das sich hartnäckig festsetzt wie wenige andere - denn natürlich hat die Italia-Sehnsucht vieler Menschen auch mit dem Bild einer homogenen Gesellschaft zu tun, in der selbst bitterste Armut noch schwer romantisch anzumuten vermag."
Weiteres: Max Hoppestedt erzählt in der SZ recht fröhlich, dass es dem Künstler Simon Weckertgelungen sein könnte, mit einem Bollerwagen voller Smartphones Googles Stauanzeige durcheinanderzubringen.
Besprochen werden die große Schau "Untold Stories" des Fotografen Peter Lindbergh im Düsseldorfer Kunstpalast (FAZ), eine Ausstellung zu Modell-Naturen in der zeitgenösssichen Fotografie in der Alfred-Erhardt-Stiftung (Tsp), die surrealistische "Theater Collection" des amerikanischen Außenseiters Robert Anton in der Galerie Capitain Petzel (Berliner Zeitung).
Bühne, 05.02.2020
Ersan Mondtag: "Der Schmied von Gent" an der Flämischen Oper. Foto: Annemie Augustijns Ersan Mondtag hat in seiner Opernregie Franz Schrekers "Schmied von Gent" in Antwerpen auf die Bühne gebracht. Zwar verhaken sich in der Inszenierung mitunter Ambition und Metaphorik, wie Joachim Lange in der tazeinräumt, aber das mindert für ihn nicht die ästhetische Stimmigkeit, mit der Mondtag belgische Kolonialgeschichte zeigt: "Wie aus der Geisterbahn auf dem Rummel. Gefletschte Zähne und einen Säugling in der Kralle. Himmel und Hölle auf Erden. Die fantasievollen Kostüme mäandern durch die Zeiten und Kulturen und ignorieren fröhlich den Geschlechterdresscode. Dazu eine choreografisch ausgefeilte Personenregie für ein fabelhaftes Ensemble. Am Pult sorgt Alejo Pérez für die suggestive Klangfülle und den ganz eigenen Sound zum Parlando, die die bewusst gesuchte Volkstümlichkeit im Orchestergroßformat so faszinierend machen."
Weiteres: Dorion Weickmann begutachtet für die SZ die Schäden, die Johannes Öhmann und Sasha Waltz mit der Aufkündigung der gemeinsamen Leitung beim Staatsballett angerichtet haben: "Betrieben hat sie Johannes Öhman, beschädigt ist Sasha Waltz. Aber Kosten und Langzeitfolgen trägt das Staatsballett." Der Standardmeldet, dass Künstler in Wien das Theater Brut besetzt haben, um seinen Auszug zu verhindern.
Besprochen werden Leoš Janáčeks Oper "Die Sache Makropulos" in dessau (die Roland Dippel in der NMZ als "Triumph des Ensembles des Anhaltischen Theaters und vor allem der Sopranistin Iordanka Derilova" feiert) Virginie Despentes' "Vernon Subutex" als Dreiteiler im Frankfurter Stalburg Theater (wie "einfach, lässig und ungemein kompakt alles wirkt", staunt Judith von Sternburg in der FR), Katie Mitchells Blaubart-Projekt an der Staatsoper in München (FR), Modest Mussorgskis "Boris Godunow" an der Staatsoper Stuttgart (FAZ) und Mozarts "Figaros Hochzeit" in St. Pölten (Standard).
Architektur, 05.02.2020
Westferry Printworks von plp architects Mit ihrem Antritt hat Boris Johnsons Regierung eine "Building Better, Building Beautiful commission" ins Leben gerufen, die für schönes und gutes Bauen in Britannien sorgen soll. Ach ja, stutzt Rowan Moore im Guardian, ist ja interessant: "Nicht einmal zwei Wochen später gab derselbe Robert Jenrick den Weg frei für ein milliardenschweres Entwicklungsprojekt namens Westferry Printworks in den Londoner Docklands, gegen die starken Einwände seines eigenen Planungsinspektors. Dieser, David Prentis, erklärte, die fünf Hochhäuser, von denen eines 44 Stockwerke hoch werden soll, zerstöre das Setting rund um die Tower Bridge und das Unesco-Weltkulturerbe von Greenwich. Das Projekt gefährde den Character und das Erscheinungsbild des Gebiets. Die Einbeziehung von 282 Sozialwohnungen bei insgesamt 1524 Wohneinheiten erreiche nicht den größtmöglichen vernünftigen Anteil."
Literatur, 05.02.2020
In seinem autofiktionalen Literaturdebüt "Ein Mann seiner Klasse" beschreibt der Freitag-JournalistChristianBaron seine Kindheit in Armut, die bis heute nachschwingt, da er im Beruf vor allem von Leuten aus der Mittelschicht umgeben ist. Im FR-Gespräch spricht er sich dafür aus, dass "mehr Verlage sich auf die Suche nach Autorinnen und Autoren begeben, die Geschichten von ganz unten schreiben. In der Politik und in den sozialen Medien scharen sich jetzt alle um die sogenannten einfachen Leute und tun ihre Meinungen kund. ... Man könnte damit beginnen, dass man nicht wie im Zoo eine Menschengruppe begutachtet und sich über sie auslässt, ohne mit denen jemals gesprochen zu haben. Empathiefähigkeit lernen heißt: Menschen verstehen wollen."
Weiteres: Für den Standardwirft Michael Wurmitzer einen Blick in Klassiker-Ausgaben, die in einfache Sprache umgeschrieben wurden. Besprochen werden unter anderem BovBjergs "Serpentinen" (ZeitOnline), die Wiederveröffentlichung von Ronald M. Schernikaus "Legende" (SZ), die wiederentdeckten Manga von ShigeruMizuki (NZZ), Sam Byers' "Schönes Neues England" (NZZ), ChristophBraendles "Aus den Augen" (Standard) und Marion Messinas "Fehlstart" (FAZ).
Musik, 05.02.2020
Das hatten wir gestern für die Magazinrundschau übersehen: Ein in Ausmaß und Bebilderung episches Vogue-Gespräch mit Billie Eilish, die darin auch über die Herausforderungen spricht, mit 16, 17 Jahren zum internationalen Superstar aufzusteigen, der zudem noch von Depressionen geplagt wird. "Auch wenn sich ihre Stimmung aufgehellt hat und die anstrengenden Tourneen für sie zunehmend ein Vergnügen darstellen, kann sich Eilish mit wachsendem Erfolg immer mehr vorstellen, unter die Räder der Pop-Maschinerie zu geraten - oder sich zumindest mit jenen zu idenfizieren, die der Ruhm verunstaltet hat. 'Als junger Fan dachte ich mir immer: Was zur Hölle ist eigentlich mit denen los', erinnert sie sich. 'All die Skandale. Der Britney-Moment. Man wächst auf und denkt sich: Die sind hübsch, die sind dünn. Warum richten die sich so zugrunde? Aber je älter ich werde, desto mehr bemerke ich: Oh mein Gott, natürlich blieb denen nichts anderes übrig. In meinen düsteren Momenten mache ich mir Sorgen, dass ich genau zu dem Klischee werde, zu dem jeder junge Künstler zu werden droht, wie ja alle meinen. Und warum schließlich auch nicht? Letztes Jahr, als ich auf meiner Tour durch Europa an meinem persönlichen Tiefpunkt angelangt war, hatte ich Angst davor, dass ich zusammenbreche und mir den Kopf rasiere."
Weitere Artikel: Für die NZZwirft Christoph Wagner einen Blick in die prosperierende Musikszene in Manchester, die sich rund um das Label Gondwana Records mit seinem Fokus auf Jazz, Soul und Electronica gebildet hat. Sebastian Leber reist für den Tagesspiegel ins schwäbische Bietigheim-Bissingen, aus dem Rapper wie RIN, Shindy und Bausa stammen.
Besprochen werden das neue Album von DevendraBanhart (NZZ) und neue Popveröffentlichungen, darunter die EP "Texas Sun" des Instrumental-Trios Khruangbin mit dem Soulsänger LeonBridges: "Für die texanische Landschaft mit ihren schnurgeraden Highways ist das quasi die optimale Fahrstuhlmusik", meintSZ-Popkolumnistin Annett Scheffel. Wir hören rein:
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