Efeu - Die Kulturrundschau

Zerbröselnde Ambientcoda

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07.02.2020. Die New York Times bewundert die Rundungen und Hügel der kubanischen Künstlerin Zilia Sánchez. Die FR entdeckt in Düsseldorf einen ganz neuen Peter Lindbergh. In der SZ beklagt der Schriftsteller Leonhard Hieronymi den Verfall des Erzählens und gibt den Amerikanern die Schuld. 54books denkt über Lesen und Schreiben in der Klimakrise und unterm Kapitalismus nach. Etwas mehr Ernst hätte sich die nachtkritik von Robert Borgmanns Inszenierung von "Schwarzwasser" erhofft, Elfriede Jelineks Bearbeitung der Ibiza-Affäre. Die taz plaudert mit Kevin Parker über Science-Fiction in der Disco.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.02.2020 finden Sie hier

Kunst

Zilia Sánchez, "Troyanas" (1967) aus der Serie "Módulos infinitos" ("Infinite Modules").


Jillian Steinhauer besucht für die New York Times eine Ausstellung der 93-jährigen kubanische Künstlerin Zilia Sánchez im New Yorker Museo del Barrio. In der modernen Kunst nimmt Sánchez eine Sonderstellung ein, erklärt Steinhauer: "Sie ist sich nicht bewusst, dass sie zwischen den Medien operiert, und ihre Arbeit stellt keine klugen formalen Fragen. Stattdessen verweisen ihre Rundungen und Hügel, Schwellungen und Vorsprünge auf erkennbare Quellen, vor allem auf die Landschaft, den Mond und den weiblichen Körper. Ihre malerischen Konstruktionen, von denen viele als 'topologías eróticas' oder erotische Topologien bezeichnet werden, sind nicht narrativ, sondern voller verborgener Bedeutungen, die etwas zutiefst Persönliches und grundlegend Körperliches zum Ausdruck bringen. Sie sind kontrolliert, mit einer kühlen Palette von meist Schwarz, Weiß und Grau, und doch so lebendig, dass sie oft den Eindruck erwecken, als wollten sie lebendig werden - oder, wie die Künstlerin es einmal formulierte, 'paintings with air that breathe'."

Eine ziemlich beeindruckte Sandra Danicke lernt in einer Ausstellung im Düsseldorfer Museum Kunstpalast, dass Peter Lindbergh nicht nur Models, sondern auch Mörder wie Menschen aussehen lassen konnte, bei denen man nicht über ihre Schönheit oder ihre Taten nachdenkt, sondern die individuelle Person. "Bemerkenswert an dieser Ausstellung", schreibt sie in der FR, "ist auch die Zusammenstellung einzelner Bilder-Blöcke, die ganz offensichtlich keinerlei Erzählung suggerieren, sondern sehr intuitiv aufeinander zu reagieren scheinen. Da ist dieser Stier in einer kargen Landschaft, daneben ein Paar Hände in Nahaufnahme. Ein nackter Frauenkörper, ein Pferderücken, Schatten, die aufeinander Bezug zu nehmen scheinen - und immer wieder Aufnahmen, die nach landläufigen Kriterien misslungen sind: unscharf, schlecht ausgeleuchtet, ohne zentrales Motiv. Die in der Kombination aber einen sehr eindrücklichen Zweck erfüllen - nicht nur, weil sie die Glätte in anderen Aufnahmen konterkarieren. Auch weil sie die Realität eines Gesamteindrucks komplettieren, in dem es das Nebensächliche gibt und den abschweifenden Blick."

Weiteres: In der NZZ stellt Angelika Affentranger-Kirchrath den Kunstsammler Werner Coninx vor. Die Art Basel Hongkong ist wegen des Coronavirus abgesagt, meldet Philipp Meier in der NZZ. Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Somuk, der erste moderne Künstler des Pazifik" im Musée du quai Branly in Paris (FAZ).
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Literatur

Grundsätzliches zur Realität gegenwärtigen Schreibens, Teil 1: Die SZ veröffentlicht einen langen Essay des Schriftstellers Leonhard Hieronymi, der aus dem Umfeld der "Ultraromantik" heraus arbeitet, zum Verfall des Erzählens in den Neunzigern und dessen Auswirkungen auf das Hier und Jetzt. Schuld daran seien die USA, die sämtliche Erzählsysteme von Literatur bis zum Film kolonisiert hätten. Als Säulenheilige widerständigen Erzählens identifiziert er Werner Herzog, Bruce Chatwin und W.G. Sebald und erkennt im Schreiben seines eigenen Umfelds "den Krieg um die ekstatische Wahrheit" zu dem Zweck, dass ein souveräner Erzähler "aus dem Schlamm der uninspirierten Erzählungen zurückkehrt. Dass wir wieder derbe, vulgäre und reine Erzählerinnen und Erzähler in die Literatur zurückholen, die aufschreiben, was sie erleben, die träumen und erfinden, die keine Konzeptliteratur machen, die keine wie von einem Roboter generierten Texte schreiben. Wenn heute Romane entstehen, dann schreiben sie bis heute selten das fort, was Chatwin und Herzog in der Ayatollah Drinks Bar in Ghana besprochen und zu Papier gebracht haben. Diese Fortschritte und das große Tristram-Shandyeske der Literatur wurden in den Neunzigern durch Hopkins und Foster und Clinton und die mächtige, alles zerstörende Hollywood-Kitschstruktur verleugnet."

Grundsätzliches zur Realität gegenwärtigen Schreibens, Teil 2: Auf 54books.de befasst sich Samuel Hamen mit der Frage, wie man als Schreiber und Leser auf die Klimakrise reagieren sollte, also wie es um eine Gegenwartsliteratur bestellt ist, "die sich im Rahmen eines epochalen Selbstverständnisses als Literatur im Anthropozän begreift." Eine Literatur, die sich zu den ökonomischen Bedingungen ihrer Möglichkeit paradox verhält: "Mit der Herausbildung einer Marktstruktur inkl. Produzierenden, Distribuierenden und Konsumierenden ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist die (europäische) Literatur zu einer ökonomischen Angelegenheit geworden. ... DerRuf nach einer neuen Imagination im Hinblick auf einen terrestrischen Notstand ist an dieser entscheidenden Stelle widersprüchlich: Das Prinzip, das die Klimakrise (mit-)verursacht hat, wird angewendet, um eben diese zu fassen zu kriegen. Die Argumentationen folgen einer Angebot-Nachfrage-Logik, laut der Literatur ein Service-Produkt ist, ein Bildgebungsverfahren, das ins Regal gehört."

Aber auch ansonsten gibt es viel Grundsätzliches: In der SZ berichtet Felix Stephan von einem Plagiatsstreit in den USA: Wendy C. Ortiz wirft Kate Elizabeth Russel vor, dass sie sich für ihren neuen Roman "My Dark Vanessa" in Ortiz' unveröffentlichten Memoir "Excavation" bedient habe: "Dass Kate Elizabeth Russell für die Geschichte einen siebenstelligen Vorschuss bekomme, habe Ortiz zufolge mit Hautfarbe zu tun: Von mehreren Lektoren habe sie damals zu hören bekommen, ihr Buch sei 'kraftvoll und komplex', es gebe aber keinen Markt dafür. Einer weißen Autorin hingegen werde der Stoff aus den Händen gerissen."

Derweil ist auch Ijoma Mangolds Bericht in der Zeit von der Tagung des Deutschen Literaturfonds online gegangen, von der auch schon andere Zeitung berichteten (unsere Resümees hier und dort). Ein Podium diskutierte in einhelliger Übereinstimmung über "politische Korrektheit", während sich die junge Generation im Publikum übergangen fühlte. Für Mangold grenzen deren Forderungen an "moralische Erpressung. Diese jungen Frauen werden die Schriftstellerinnen von morgen sein. Man darf gespannt sein, ob ihre Sensibilität die Ausdrucksnuancen ihrer Literatur erweitern oder einschränken wird." Und Gerrit Bartels berichtet im Tagesspiegel von einer Tellkamp-Lesung in Sachsen, bei der sich der Schriftsteller mit Blick auf den zu Boden geworfenen Blumenstrauß in Thüringen erst in Rage redet, dann aus seinem noch unveröffentlichten "Turm"-Nachfolger liest und schließlich auf die Politik zu sprechen kommt: Während Katja Meier trotz Punkvergangenheit weiterhin Justizministerin bleiben dürfe, wähnt sich Tellkamp, der ja nun weißgott kein übergangener Autor ist, gegängelt: "In dieser Form geht es noch Minuten weiter. Tellkamp scheint sich als mutig zu empfinden, als Rebell, wirkt aber ebenso obsessiv, ja traumatisiert."

Außerdem: Intellectures hat ein großes, bereits 2013 geführtes Gespräch mit dem französischen Comiczeichner Emmanuel Guibert online gestellt. Für Tell-Review holt Frank Hahn nochmals Peter Handkes "Die Obstdiebin" hervor, um es gegen Sieglinde Geisels Page-99-Test zu verteidigen: Man müsse das Buch mit "etwas aus der Mode gekommenen Muße" lesen, um es genießen zu können. Susanna Petrin staunt in der NZZ über die Ausmaße der Buchmesse in Kairo, wo sich etwa das zwölffache der Besuchermassen des Frankfurter Pendants einfindet.
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Bühne

Martin Thomas Pesl (Dlf Kultur) hat sich gut amüsiert in der Uraufführung von "Schwarzwasser", Elfriede Jelineks Bearbeitung der Ibiza-Affäre, die Robert Borgmann fürs Akademietheater in Wien inszeniert hat. Aber etwas mehr Tiefgang hätte er sich doch gewünscht: "Kluge Gedanken, etwa über die von rechter Seite geschickt praktizierte Täter-Opfer-Umkehr, wären im Text vorhanden, werden aber nicht fokussiert ausgearbeitet. Viel ist von Gewalt die Rede, doch der Zuschauer dieses Abends bleibt davon verschont. Er verlässt das Akademietheater gerade so gut unterhalten wie die anfangs parodierten oberflächlichen Kulturbürger und fragt sich, ob die Ibiza-Tragikomödie, nachdem sie vielfach in Memes und Gifs umgewandelt worden ist, wirklich auch noch durch den Jelinek-Reißwolf gedreht werden musste."

Auch nachtkritikerin Theresa Luise Gindlstrasser ist enttäuscht von Borgmanns Inszenierung: "Keine komplizierten Zusammenhänge, sondern immer Abbruch und Neustart. Seine Uraufführug von 'Schwarzwasser' ist Nummernshow, Vorhang auf, Vorhang zu, hastet die Inszenierung von Bild zu Bild. Bisschen Pistolenpantomime (siehe Ibiza-Video) hier, bisschen gesungener Text da, rosarotes Gorilla-Kostüm kaum fertig angeschaut, passiert eine ausufernde Demolierung der Papp-Wand oder jemand trägt ein Gemälde herum. Vor lauter Kunstschnee, Perücken und Pointen-Verausgabung wird das Nachdenken über Gewalt zum bloßen Soundtrack für die Bilder."

Bei Cargo erklärt Matthias Dell sehr ausführlich, warum er unzufrieden ist mit SZ-Kritikern und den deutschen Laudatoren des International Theatre Institute (ITI) zu den Theaterarbeiten der afrodeutschen Regisseurin Anta Helena Recke (sie ist mit "Die Kränkungen der Menschheit" zum diesjährigen Theatertreffen eingeladen): "Es ist vor diesem Hintergrund geistiger Flachschwimmerei dann eine, man muss es so hart sagen, Frechheit, wenn Christine Dössel nun die Auswahl der 'Kränkungen' für das aktuelle Theatertreffen gehässig damit abtut, Recke besetze in Berlin 'die Sparte Diversität und kulturelle Appropriation' - ganz so, als würde die Regisseurin wegen der Zuschreibungen von außen eingeladen (nur weil die SZ-Theaterredaktion Reckes Arbeit einzig dadurch zu fassen versucht) und nicht etwa wegen ihrer inszenatorischen Fähigkeiten." Zwei der beanstandeten Artikel in der SZ können Sie hier nachlesen: Eva-Elisabeth Fischers Besprechung von Reckes Inszenierung "Mittelerde" und Christine Dössels Kommentar zur Auswahl von Reckes Inszenierung "Die Kränkungen der Menschheit" für das Theatertreffen 2020. Egbert Tholls SZ-Kritik zu dem Stück finden Sie hier, allerdings hinter der Bezahlschranke.

Besprochen werden Pam Tanowitz' Choreografie zu Bachs Goldberg Variationen in New York (NYRB) und Ersan Mondtags Inszenierung von Franz Schrekers Oper "Schmied von Gent" in Antwerpen (FAZ).
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Film

Alle Feuilletons trauern um Kirk Douglas (siehe auch unsere gestrige Rundschau). Er hinterlässt "ein gewaltiges Werk", staunt Tobias Kniebe in der SZ. "Er hat Boxchampions und Jazzmusiker und Wikinger gespielt, er war Doc Holliday und General Patton, Vincent van Gogh und Reporter des Satans, Detektiv und Mörder, Doctor Jekyll und Mister Hyde, Widerstandskämpfer gegen Römer, Engländer und die Nazis, Leichtmatrose bei Käpt'n Nemo und Schwerenöter im Wilden Westen, Geiselbefreier in Entebbe und einmal, zur großen Zeit des Spaghetti-Antikenfilms, sogar Odysseus. Wenn etwas aus all diesen Filmen unvergesslich bleibt, dann wahrscheinlich die Leidenschaft, die er auf der Leinwand wie kein zweiter entfesseln konnte." Zwar spielte er oft Figuren mit "explosiv zynischen Temperament", schreibt ZeitOnline-Kritikerin Claudia Lenssen, aber an "Vielschichtigkeit" mangelte es ihnen dennoch nie. Er "war und bleibt der Inbegriff dessen, was Hollywood sich unter einem leading man vorstellt", schwärmt auch Daniel Kothenschulte in der FR: "Douglas brachte so viel schillerndes Leben mit, dass es einem fast unheimlich werden konnte."

Lory Roebuck von der NZZ kann sich den Reizen des Schauspielers kaum entziehen: "Sein kantig zulaufendes Kinn mit dem sanften Grübchen und seine leuchtend blauen Augen zogen sämtliche Blicke auf sich." Auf bloßen Machismo lässt er sich nicht reduzieren, meint Jan Feddersen in der taz: "Er war einer der letzten der ungebrochenen, tapferen Männer, dabei aber zugleich einer der körperlich am verletzlichsten wirkenden Virilisten." Weitere Nachrufe in Presse, Welt, Tagesspiegel und FAZ.

Die brasilianische Regisseurin Petra Costa wird in ihrer Heimat wegen ihres auf Netflix veröffentlichten, für einen Oscar nominierten Dokumentarfilms "The Edge of Democracy" von höchster politischer Stelle schwer angegriffen, berichtet Philipp Lichterbeck im Tagesspiegel. Der Film handelt vom politischen Umbruch der letzten Jahre in Brasilien. "Während progressive Brasilianer ihn als 'Meisterwerk' feiern, spricht Brasiliens Rechte von 'Müll'. ... Oft merkt man diesen Kritikern aber an, dass sie den Film überhaupt nicht gesehen haben. Denn anders als sie nun häufig behaupten, unterschlägt Costa nicht die Korruption der linken Arbeiterpartei."

Außerdem: Tobias Sedlmaier porträtiert in der NZZ die Schauspielerin Saoirse Ronan, die mit ihren 25 Jahren schon viermal für den Oscar nominiert war. In der Presse legt uns Katrin Nussmayr die Filme des japanischen Animationsfilmstudios Ghibli, die nun auf Netflix ausgewertet werden, wärmstens ans Herz.

Besprochen werden Cathy Yans Superheldenfilm "Birds of Prey" mit Margot Robbie als Superschurkin Harley Quinn, an deren "marodierendem Feminismus" Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche viel Freude hat (weitere Kritiken auf Dlf Kultur, Spiegel, Kinozeit), Agnès Vardas Vermächtnis "Varda par Agnès" (Zeit, SZ, unsere Berlinale-Kritik hier), der New-York-Thriller "Uncut Gems" der Safdie Brothers (taz, unsere Kritik hier), Ulrich Köhlers und Henner Wincklers "Das freiwillige Jahr" (Tagesspiegel), Veronika Franz' und Severin Fialas Horrorfilm "The Lodge" (Tagesspiegel, Standard, unsere Kritik hier), Marius Holsts Thriller "Congo Murder" (Tagesspiegel) und die dritte Staffel von "Babylon Berlin" (NZZ).
Archiv: Film

Musik

Für die taz hat sich Robert Mießner mit Kevin Parker getroffen, um über das neue Album "The Slow Rush" von Tame Impala zu plaudern. Zu hören gibt es darauf "Science-Fiction in der Disco, dem Tag entrückt und traumverloren. Funky ist ein Wort, das Parker als Kompliment betrachtet und für eigene Zwecke erst einmal soft einschmilzt." Auch "als eine Art Experimental-Easy-Listening" könne man das Album beschreiben, auf dem mancher Song "in eine sich seltsam zerbröselnde Ambientcoda" münde. Vor wenigen Tagen erschien ein neues Video mit einem programmatischen Titel:



Besprochen werden Makaya McCravens Überarbeitung von Gil Scott-Herons letztem Album (Pitchfork), ein Schostakowitsch-Abend der Geigerin Vilde Frang (NZZ), das neue Album von Halsey, die laut tazlerin Dagmar Leischow "ihren Status als Antiheldin des Pop nicht weiter ausbauen kann", ein neues Album von Green Day (Standard), ein Auftritt der Tindersticks (Tagesspiegel) und ein Konzert des Rappers RIN (FR).
Archiv: Musik