Efeu - Die Kulturrundschau

Das Tränenfunkeln von Georgette Dee

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.03.2020. Die SZ erfährt im Düsseldorfer K20, welche Schaffenskraft Picasso zwischen zwei und vier Uhr nachmittags an den Tag legte. Im Standard fragt Elfie Semotan,  wie man junge, schöne Frauen unerotisch fotografieren kann. Die Welt wirft einen Blick in Uwe Tellkamps kommenden Roman, von dem ein Auszug in der rechten Postille Tumult erschien. Und alle trauen um Max von Sydow, der die somnambule Aura ins Kino brachte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.03.2020 finden Sie hier

Film



Große Trauer um Max von Sydow, der im gesegneten Alter von neunzig Jahren gestorben ist. Sein Schaffen umfasste das ganze Kino: Er spielte in hoher Filmkunst und campigen Science-Fiction-Filmen. Er adelte den Horrorfilm zur Oscarreife, spielte in "Star Wars", war ein Aushängeschild des europäischen Autorenfilms und spielte wie selbstverständlich auch im US-Mainstream immer wieder große Rollen. Er spielte Jesus, Petrus und den Bond-Schurken Blofeld, den interstellaren Bösewicht Ming und an der Seite von Sylvester Stallone, für Bergman und Spielberg - kurz: "Seine Filmografie ist völlig verrückt", wie Jan Küveler in der Welt schreibt. Aber Küveler weiß auch: In der Haut des "großen Düsterlings" fühlte sich von Sydow am wohlsten. Mit seinen Bergman-Filmen in den Fünfzigern schuf von Sydow  "eine Leinwandpersönlichkeit neuen Typs", schreibt Daniel Kothenschulte in der FR: "In die Zeit des Existenzialismus schien er zu passen wie eine männliche Juliette Greco. Natürlich hatte es auch schon früher Stars gegeben, die zugleich Charakterdarsteller waren. ... Doch Sydow schien seine Rollen mit einer gänzlich modernen Auffassung anzugehen, und auch wenn er einen mittelalterlichen Ritter spielte, so war er vor allem Zeitgenosse."

Für SZ-Filmkritiker Fritz Göttler sind "Fremdheit" und "Unbehaustheit" die zentralen Stichworte - so charakterisierte Figuren habe von Sydow immer wieder gespielt, "mit den Filmen Ingmar Bergmans angefangen, die ihn weltberühmt machten. ... Aber natürlich war es gerade andersherum, nicht die Sydow-Figuren waren Fremde, sondern die Gesellschaft, in der sie sich bewegten, hatte sich bis zur Unkenntlichkeit verändert. Und die Figuren haben darauf mit Verstörung und Verschlossenheit und Verhärtung reagiert, und sie haben davon eine somnambule Aura bekommen." Und Gerhard Midding mutmaßt auf ZeitOnline, dass "ein Schauspieler schon sehr in sich gefestigt sein muss, um die Last der Welt zu tragen. Die Verantwortung, die Max von Sydow in seinen prägenden Rollen auferlegt wurde, war unermesslich. Nicht selten lag das Schicksal der Menschheit in seinen Händen." Weitere Nachrufe in NZZ, Tagesspiegel und in der FAZ. Für Criterion sammelt David Hudson internationale Stimmen zum Tode von Sydows. Arte hat außerdem eine sehr schöne Hommage online gestellt:



Die Leitung der Berlinale protestiert gegen die Gefängnisanordung für den iranischen Festivalgewinner Mohammad Rasoulof, melden die Agenturen, etwa hier auf ZeitOnline: "Rasoulof selbst ließ über eine Filmagentur mitteilen, dass viele Aktivisten aus der iranischen Kulturszene im Gefängnis seien, weil sie die Regierung kritisiert hätten. Die Ausbreitung des Coronavirus in iranischen Gefängnissen gefährde ihr Leben. 'Diese Zustände erfordern eine sofortige Reaktion der internationalen Gemeinschaft', sagte der Regisseur."

Weiteres: Der Tagesspiegel empfiehlt ohne Autorenzeile mit "Black Light" im Berliner Kino Arsenal eine Filmreihe zur Geschichte des schwarzen Kinos. Christian Schachinger (Standard), Andrian Kreye (SZ) und Dietmar Dath (FAZ) gratulieren Actionstar und Internet-Ikone Chuck Norris zum 80. Geburtstag. In der taz erklärt Peter Weissenburger dazu passend das Prinzip des Chuck-Norris-Witzes. In die Geschichte des Actionkinos eingegangen ist dieses Duell mit Bruce Lee:

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Literatur

Peinlich berührt zeigt sich Christoph Schröder in der SZ von Christoph Ransmayrs Frankfurter Poetikvorlesung: Zu beobachten war demnach ein Autor, der vor Germanisten Häme über Germanisten ausgoss, über Debütanten spottete und sich selbst in Szene setzte: "Da vorne am Pult inszenierte sich ein echter Dichter, ein der Epoche enthobener Fürst der Sprache - der banalerweise einen permanenten Kampf mit der Mikrofonanlage im großen Hörsaal zu führen hatte. ... Ransmayr hat großartige Romane wie 'Morbus Kitahara' oder zuletzt 'Cox' geschrieben. Im Sinne dieses Werks und in Erfüllung seiner These, dass der literarische Text größer ist als alles, was darüber gesagt wird, wäre ihm zu wünschen, dass niemand auf die Idee kommt, seine Frankfurter Poetikvorlesung zu veröffentlichen."

Weiteres: Für die Welt hat Marc Reichwein den ersten Auszug aus Uwe Tellkamps kommendem Roman "Der Schlaf in den Uhren" - veröffentlicht in Tumult, einem der Neuen Rechten zugeordneten Magazin - gelesen: . Stefan Zweifel (NZZ) und Joseph Hanimann (SZ) erinnern an den Schriftsteller Boris Vian, der heute vor hundert Jahren geboren wurde, aus welchem Anlass die Literatengruppe Oulipo dessen Fragment "Kein Entrinnen" vervollständigt und in Frankreich veröffentlicht hat.

Besprochen werden unter anderem Marion Messinas "Fehlstart" (Standard), Lutz Seilers Wenderoman "Stern 111" (taz, FR), Sara Mesas "Quasi" (Freitag), Niklas Maaks "Technophoria" (Freitag), Birgit Birnbachers "Ich an meiner Seite" (Standard), Ingo Schulzes "Die rechtschaffenen Mörder" (Standard) und Marina Frenks "Ewig her und gar nicht wahr" (FAZ).
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Kunst

Pablo Picasso, Taube, 4.12.1942, Musée national Picasso-Paris
Das Düsseldorfer Kunstsammlung K20 zeigt Pablo Picassos Werk aus den Kriegsjahren von 1939 bis 1945, die der Maler in Paris verbrachte. Ein weiteres "Guernica" dürfe man aus dieser Phase nicht erwarten, warnt Alexander Menden in der SZ, dafür Porträts von Dora Maar: "All diese Werke sind aber privat ... er malt weiterhin Stillleben, wie die 'Meeraale', das noch vor seinem permanenten Umzug von Royan nach Paris entstand. Auch hier richtet sich das Maß, in dem man die Fische als Ausdruck der Entbehrung oder als monströse Symbole des Kriegs lesen will, ganz vom Betrachter selbst ab. Die Aale liefern in jedem Fall einen Beleg dafür, wie ungeheuer fruchtbar die Kriegsjahre für Picasso waren, wie rasch er arbeitete: Auf dem Keilrahmen des Stilllebens vermerkt er: '27.3.40, gemalt zwischen zwei und vier Uhr'."

Im Standard unterhält sich Dominik Kamalzadeh mit der Modefotografin Elfie Semotan über Erotik und Ausbeutung: "Es beruhte ja alles auf Einverständnis. Nichts, was die Mädchen machen mussten, war nicht okay. Es war auch nicht unser Ziel, erotische Fotografie herzustellen. Aber es ist schwierig, etwas anderes als erotische Fotografie zu machen, wenn Frauen jung und schön sind - und Unterwäsche tragen. Über die Reaktion der Feministinnen war ich jedoch nicht schockiert, ich bin ja prinzipiell ihrer Meinung. Was ich immer gehasst habe, waren diese Fotos von Frauen im Bikini, etwa auf Motorhauben."

Weiteres: Thomas Hummitzsch spricht für Intellectures mit dem Fotografen Andreas Rost über dessen Mitarbeit an dem von Jan Wenzel herausgegebenen Bild-Text-Collagenband "Das Jahr 1990 freilegen": "Für Fotografen ist das natürlich kein Fotobuch, genauso wenig wie es für Historiker ein Geschichtsbuch ist. Es ist eine experimentelle Form des Nachdenkens über die Zeit mit den Möglichkeiten von Text und Bild." Wenn Rom seine große Raffael-Schau abbläst, kann man sich zumindest die Berliner Madonnen in der Gemäldegalerie ansehen, erinnert Gabriele Walde in der taz.

Besprochen werden Francesca Woodmans erotische Fotografie " On Being an Angel" im C/O Berlin (Tsp) und eine Schau des Zeichners Aubrey Beardsley in der Tate Britain (elegant, bissig und gewitzt, findet ihn Laura Cumming im Guardian).
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Bühne

Kirill Serebrennikows "Decamerone"-Inszenierung am DT. Foto: Arno Declair 

Kirill Serebrennikows Inszenierung von Boccaccios Pestgeschichten "Decamerone" am Deutschen Theater in Berlin - aus dem Moskauer Hausarrest und via Skype - wird von den meisten Kritikern erst heute besprochen. In der taz verfolgte Katrin Bettina Müller fasziniert, wie Serebrennikow die Liebe durch die Jahrhunderte wandern ließ: "Von Liebe und Sex zu erzählen ist bei Serebrennikov wirklich Erzählkunst. Nicht die Bilder drängen ins Explizite, Pornografische, aber der ekstatische Rhythmus der Sprache findet sehr wohl seine Höhepunkte. Der Kampf um Jugendlichkeit, Fitness, Attraktivität bildet dabei einen Rahmen, alle Szenen sind in einem Trainingsraum verortet, das Alter wird bekämpft." In der FAZ staunt Kerstin Holm, dass Serebrennikows Theatersprache explizit und keusch zugleich sein kann, ganz wie Boccaccios Geschichten. In der Berliner Zeitung kam Ulrich Seidler allein schon mit dem "Tränenfunkeln von Georgette Dee" auf seine Kosten.

Bei aller Sympathie für Serebrennikow, der seine Produktion so beharrlich der russischen Justiz abtrotzte, ist SZ-Kritiker Peter Laudenbach gar nicht überzeugt: "Psychologische Raffinesse oder kompliziertere Charakterstudien interessieren die Wirkungsregie Serebrennikovs nicht sonderlich, was durchaus zum grob gezeichneten Figurenarsenal aus Boccaccios Schwänken und Grotesken passt. Schade nur, dass die Szenen und Einfälle bei aller Liebe zu plakativer Deutlichkeit so unbarmherzig zäh und lange ausgewalzt werden." Tagesspiegel-Kritiker Rüdiger Schaper ist das alles zu beliebig: "Ist das die Sartre'sche Hölle nach dem Tod, die geschlossenen Türen der Post-Sowjetunion? Kann sein. Serebrennikov fügt Albtraum an Träumerei, Glanznummer an Lachnummer, lange Monologe an Fickszenen mit knalligem Licht und Techno-Musik. Er reiht melodramatische Auftritte - wie Georgette Dees Erzählung vom geilen Wolf und seinen willigen Opfern - an Sadomaso-Chats. Ist Social Media die wahre Seuche? Kann auch sein."

Besprochen werden Giuseppe Verdis "I masnadieri" an der Bayerischen Staatsoper (SZ), Frederick Delius' Oper "Romeo und Julia auf dem Dorfe" als Wiederaufnahme in Frankfurt (FR), Wagners "Götterdämmerung" in Kassel (FR) und Damien Jalets Choreographie "Vessel" in Paris (FAZ).
Archiv: Bühne

Musik

Auf ZeitOnline stellt Daniel Gerhardt den christlichen Rapper Nathan Feuerstein vor. Besprochen werden das neue Album von Jonathan Wilson (Tagesspiegel), das Abschiedskonzert von Sookee (taz), ein Auftritt von King Krule (Tagesspiegel) und neue Afropop-Veröffentlichungen, darunter mit einer Veröffentlichung von Guiss Guiss Bou Bess aus Dakar, die laut SZ-Popkritiker Jonathan Fischer "dem leicht ins Schnulzige reichenden Mbalax-Schlager von Youssou N'Dour & Co ein paar kräftige Stromstöße versetzt und traditionelle Trommelkunst mit technoiden Beats paart." Wir hören rein:

Archiv: Musik
Stichwörter: Krule, King, Dakar, Popkritik, Afropop