Efeu - Die Kulturrundschau

Beharrung und forsche Impulse

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.03.2020. Die SZ erlebt mit Isabelle Huppert und einem schwarzen Adler in Tennessee Williams "Glasmenagerie" großes Theaterglück in Paris. Die NZZ blickt mit Neri Oxmann in die ökologische Zukunft aus Seide und Poesie. Die FAZ erkundet das Erfolgsgeheimnis von Helsinkis Stadtbücherei Oodi. Der Tagesspiegel beobachtet, wie die Streamingportale von der Coronakrise profitieren.  Und die FR lauscht intensiv dem verrätselten Jazz des Trios Grünen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.03.2020 finden Sie hier

Kunst

Neri Oxman: Material Ecology. Bild: Museum of Modern Art

Die Zukunft hat NZZ-Kritikerin Sabine von Fischer in New York gesehen, und sie war schön: Die Medienkünstlerin und Architektin Neri Oxman zeigt im Moma, wie sich Naturmaterialien in hochtechnisierten Prozessen herstellen lassen und dabei Ökologie und Poesie verbinden: "Über Stahldrähte und ein feines Netz haben 17.000 Seidenraupen eine Schicht gelegt, die an Poesie alles andere im Raum übertrifft. Durchschimmernd weiß, ohne fragil zu wirken, umfasst der Seidenstoff ein Stück Raum. Um diesen Pavillon zu produzieren, musste keine einzige Raupe verbrüht oder anderweitig getötet werden (wie es in der traditionellen Seidenproduktion die Regel ist). Lebende Tierchen nämlich spinnen in wenigen Tagen auf einem rotierenden Drahtgestell einen riesigen flachen Stoff, weil ein drehender Zylinder ihren Orientierungssinn so austrickst, dass die Fäden nie zu einem Kokon werden."

Je genauer sich Forscher jetzt die Gründungsgeschichte der Documenta ansehen, umso dichter wird das Geflecht von NS-Spuren, stellt Ingo Arend in der SZ fest. Warum aber geht die Documenta die Aufarbeitung nicht offensiv und öffentlich an, fragt er sich und die Geschäftsführerin Sabine Schomann: "Zwar gibt Schormann inzwischen öffentlich zu Protokoll, dass 'der Mythos des Neuanfangs nicht aufrechterhalten werden kann'. Eine öffentliche Debatte zu der Frage will sie von sich aus vorerst aber nicht anstoßen."

Besprochen werden die bombastische Andy-Warhol-Schau in der Tate Modern, die im Oktober auch ins Museum Ludwig kommt (und die den Warhol zeigt, "den wir im Jahre 2020 brauchen", wie Adrian Searle im Guardian jubelt), eine Ausstellung der estnischen Künstlerin Kris Lemsalu in der Berliner KunstWerken (taz), die Schau zu Paul Klee in Nordafrika im Museum Berggruen (FR), eine Ausstellung der Berliner Senatsstipendiaten im Neuen Berliner Kunstverein (Berliner Zeitung) und die Ausstellung "Picasso und Papier" in der Royal Academy in London (FAZ).
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Literatur

Wer in diesem Jubliäumsjahr Hölderlin liest, lese auch immer dessen Rezeptionsgeschichte mit, schreibt Gregor Dotzauer im Tagesspiegel - und wer diese lesen wolle, sei gut beraten zu Karl-Heinz Otts Buch "Hölderlins Geister" zu greifen, denn darin zeige sich "die Breite der Interpretationen in ihrer ganzen Absurdität. Während die Nazis in Hölderlins vaterländischen Gesängen die ideale Begleitmusik für die Opfergänge auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs hörten, erklärten ihn die Umstürzler von 1968 zu einem der ihren."

Helsinkis Stadtbibliothek Oodi, erbaut von ALA Architekten. Foto: © Tuomas Uusheimo, courtesy of ALA Architects


Wie im Lesehimmel fühlt sich Benjamin Schweitzer in Helsinkis Stadtbibliothek Oodi. Das liegt aber nicht allein an der fantastischen Architektur oder dem grandiosen Panorama, wie er in der FAZ betont: "Zum Gelingen eines solchen Hauses gehört mehr als ein durchdachter Bauplan. In Finnland sind, anders als hierzulande, öffentliche Bibliotheken keine freiwillige Aufgabe. Ein Gesetz verpflichtet Staat und Kommunen, sie zu betreiben. Hinter den Erfolgen von Oodi steht, wie hinter denen des finnischen Bildungssystems insgesamt, die Überzeugung, dass Wissen und Bildung uneingeschränkt für alle gleichermaßen zugänglich sein müssen - für Asylsuchende und Konservative, Regenbogenteenager und Landeier."

Weiteres: Bernd Noack sucht für die NZZ den Prager Chotek-Park auf, in dem Kafka einst Zuflucht fand. Ein in Bulgarien aufgetauchtes, 2500 Jahre altes Buch aus der Etrusker-Zeit könnte unsere Vorstellung von der Geschichte der Codices und Buchbindung neu sortieren, schreibt Matthias Heine in der Welt.

Besprochen werden unter anderem László Földényis "Lob der Melancholie" (Tagesspiegel), Madeline Millers "Das Lied des Achill" (SZ), Benjamin Maacks "Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein" (Zeit), Robert Macfarlanes "Im Unterland" (NZZ), Gerhard Falkners Gedichtband "Hölderlin Reparatur" (Tagesspiegel), Simon Ravens "Almosen fürs Vergessen, Fielding Gray" (Freitag) und Michael G. Fritz' "Auffliegende Papageien" (FAZ).

Außerdem liegt der taz heute eine Literaturbeilage mit "Buchtipps für die Quarantäne" bei. Darin besprochen werden unter anderem Sibylle Bergs "Nerds retten die Welt", Abbas Khiders "Palast der Miserablen", Moritz von Uslars "Nochmal Deutschboden" und Anna Burnsʼ "Milchmann".
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Film

"Nicht mal 007 ist gegen das Virus immun", kommentiert Andreas Busche im Tagesspiegel die kurzfristige Verschiebung des neuen, vielsagend betitelten James-Bond-Films "Keine Zeit zu sterben" vom April in den Herbst dieses Jahres: Ein Präzedenzfall, der das behutsam ausbalancierte System der Blockbuster-Kinostarts ins Wanken bringt und zeigt, wie abhängig Hollywood von China mittlerweile ist. Aber auch in Europa droht jetzt das Risiko flächendeckend geschlossener Kinos: "Disney und Warner spielen schon mit dem Gedanken, im worst case scenario ihre kommenden Attraktionen gleich über die Streamingportale zu veröffentlichen. Es wäre eine Ironie des Schicksals, wenn ausgerechnet das Coronavirus im jahrelangen Streit zwischen der Kinobranche und den neuen digitalen Anbietern Fakten schaffen würde. In der Krise wartet immer auch eine Chance."

Für ZeitOnline hat sich Jens Balzer Stefan Ruzowitzkys Hesse-Adaption "Narziss und Goldmund" angesehen: Freunde der asketischen Selbstgeißelung erwartet hier "ein schön fotografierter Sexfilm für Katholiken wie auch für alle Menschen, die sich für Katholikensexfilmästhetik zu begeistern vermögen. Neben Raimund Harmstorf und Harald Reinl spürt man mithin den Einfluss von Pier Paolo Pasolini."
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Bühne

Tennessee Williams' "Glasmenagerie" mit Isabelle Huppert am Théâtre de l'Odéon in Paris

Großes Theaterglück hat SZ-Kritiker Joseph Hanimann gleich dreimal in Paris erlebt: Peter Handke und Yasmina Reza am Théâtre de la Colline fand er ganz superb, herausragend aber auch Isabelle Huppert in Tennessee Williams' "Glasmenagerie" im Odéon: "Laura huldigt ihren Glasfigürchen im Käfig ihrer Schizophrenie und springt, wenn sie sich mal unter ihrer Wolldecke hervortraut, katzenhaft über die Anrichte der Küche. Die narrativen Einlagen in diesem 'Memory Play' hat der Regisseur auf ein Minimum reduziert. Statt ihr die schließlich doch noch gelungene Flucht aus der Ferne zu erzählen, tanzt Tom mit seiner Schwester Laura am Ende zu Barbaras Lied vom 'Aigle noir', dem schwarzen Adler, durch die Wohnstube. Dieses kurze Glück bleibt mit seiner tiefen Traurigkeit als großer Theatermoment in Erinnerung."

Weiteres: Die Nachtkritik meldet, welche Bühnen im deutschprachigen Raum bis auf Weiteres geschlossen bleiben, der Tagesspiegel verschafft einen genaueren Überblick für Berlin.

Besprochen werden Giuseppe Verdis selten gespielte Oper "I Masnadieri" an der Bayerischen Staatsoper in München (die Laszlo Molnar in der FAZ als das reinste Sängerfest bejubelt) und David Bowies "Lazarus"-Musical in Gießen (FR).
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Musik

Schön verrätselt findet FR-Kritiker Hans-Jürgen Linke das neue Album "Disenjambment" des Trios Grünen, das zwar unter Jazz läuft, aber nicht unbedingt so bezeichnet werden muss: "Dazu ist alles scheinbar zu formlos, zu vieldeutig, rhythmisch zu wenig expressiv. ... Was aber bei diesem Trio-Spiel herauskommt an dichten und kompakten Prozessen, an musikalischen Ereignisfolgen und -konstellationen, an gleichgerichteten Überlagerungen und gegenläufigen Gesten und Bewegungen, an Beharrung und forschen Impulsen, das ist dann doch erstaunlich und manchmal geradezu atemberaubend. Und es belohnt intensives Zuhören reich." Ins erste Stück des Albums kann man auf Bandcamp hören:



In Paris hat Madonna ein Konzert im Grand Rex gegeben - wohl das letzte große Konzert vor dem coronabedingten Verbot von Veranstaltungen dieser Größendimension. FAZ-Kritikerin Wiebke Hüster war dabei und lässt sich zu einem einzigen großen Liebesbrief an die von Tourstrapazen und einer Erkältung belasteten Sängerin hinreißen: "Über den sattesten, wummerndsten Beats schweben die Soulstimmen ihrer unglaublichen Backgroundsängerinnen und klar und schön ihre eigene. Wer dieses Konzert mischte, muss ein Gott sein. ... Madonna ist immer noch Madonna, die erotischste Popsängerin des Universums, und sie wird es immer sein."

Außerdem: In der NZZ porträtiert Marcus Stäbler Paavo Järvis Zürcher Assistenten Felix Mildenberger. Für die taz plaudert Desiree Fischbach mit dem Hamburger Deutschpunk-Urgestein Slime unter anderem über alte Parolen und deren heutige Gültigkeit. Für die SZ hat Lothar Müller die DDR-Liedermacherin Bettina Wegner in Berlin-Frohnau für ein Gespräch über neue und alte Heimatbegriffe besucht. SZ-Popkolumnist Quentin Lichtblau empfiehlt all jenen, die sich langweilen, wenn sie sich beim Händewaschen zweimal im Geiste "Happy Birthday" vorsingen, die Seite washyourlyrics.com, wo man sich den Lieblingssong als Anweisung für die Corona-Hygiene umsetzen lassen kann. Wolfgang Sandner gratuliert in der FAZ Bobby McFerrin zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden das neue Album von CocoRosie (Standard-Kritiker Karl Fluch stößt hier auf "eine ramponierte, gekränkte, beleidigte, wütende, herzensgebrochene die ganze Welt umarmende Schönheit"), das neue Album von Soccer Mommy (Standard), das neue Album von Christine And The Queens (Freitag) und ein Auftritt von Marcus King (Presse).

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