Efeu - Die Kulturrundschau

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24.03.2020. Die FAZ berichtet aus Mailand vom kulturellen Widerstand der Pinakothek Brera gegen Traurigkeit und Sorgen. Die NZZ fürchtet dennoch den großen kulturellen Aderlass, im Standard fürchtet Albertina-Direktor den Rückfall in provinzielle Zustände. In der taz erzählt Milo Rau, wie er Antigone am Amazonas inszenieren wollte. Der Corriere della Sera trauert um die unvergleichlich elegante Lucia Bosé, die nun auch an Corona gestorben ist. ZeitOnline erinnert anlässlich des Todes des DAF-Musikers Gabi Delgado an die wesentlichen Dinge im Leben.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.03.2020 finden Sie hier

Kunst

Ziemlich begeistert berichtet Karen Krüger in der FAZ aus Mailand, wie dort die Pinakothek Brera mit den Appunti per una resistenza culturale gegen "Panik, Traurigkeit und Sorgen" antritt: Sie stellt online auf Videos die Schätze ihrer Sammlung vor: "Das Faszinierende: Auf einmal sieht man die Gesichter hinter den Kulissen des Museums, die dem Besucher normalerweise verborgen bleiben. Obwohl ein realer Besuch gerade in weiter Ferne liegt, stellt diese persönliche Öffnung eine Nähe zum Museum her, wie man sie zuvor nicht kannte. Das Gleiche gilt für die übrigen italienischen Institutionen, die jetzt mit einem Sonderprogramm auf die Krise reagieren. Das Angebot ist reich und vieles noch in Arbeit. #UffiziDecameron ist der Hashtag, unter dem die Uffizien in Florenz der Krise begegnen."

Im Standard möchte Albertina-Direktor Klaus Schröder überhaupt keine Chance in der Krise sehen, solche Reden brandmarkt er als reine Beschönigung. Er rechnet mit Einnahmeausfällen von fünfzig Prozent für das Jahr und kann einer neuen Bescheidenheit nichts abgewinnen: "Sind 200.000 Besucher glücklicher, wenn sie Matisse oder van Gogh nicht sehen können? Wenn sie nicht mit einer Monet-Ausstellung belästigt werden? Ohne den entsprechenden Besucherrückhalt finden diese Ausstellungen auch für Österreicher nicht statt, weil sie nicht finanzierbar sind."

Weiteres: In der FR meldet Ingeborg Ruthe, dass Verpackungskünstler Christo im Herbst den Pariser Arc de Triomphe verhüllen will: Die Vorbereitungen laufen unverdrossen. Franz Zelger feiert in der NZZ die neu eröffnete und wieder geschlossene Dresdner Gemäldegalerie.
Archiv: Kunst

Bühne

Milo Raus "Antigone im Amazonas" Bild: International Institute of Political Murder

Auch Milo Rau musste sein Projekt am Amazonas abbrechen, wo er mit seinem International Institute of Political Murder und AktivistInnen der Landlosenbewegung und Indigenen die "Antigone" des Sophokles inszenieren wollte. In der taz berichtet er wie immer sehr engagiert von seinen Erlebnissen: "'Ungeheuer ist viel, aber nichts ist ungeheurer als der Mensch', so heißt es im ersten und berühmtesten Chorgesang der 'Antigone'. Die Hybris der alten Griechen, die in Holzbooten über das Mittelmeer fuhren oder sich mit einfacher Medizin gegen den Tod wehrten, erscheint im Zeitalter der globalen Wirtschaft fast kindlich. Direkt neben dem besetzen Landgut, auf dem wir bis Donnerstag die 'Antigone' inszenierten, frisst sich die größte Eisenerzmine Lateinamerikas in den Wald. Täglich werden von den von Bolsonaro gedeckten Milizen Umweltaktivist*innen ermordet. Die Zeichen der Apokalypse sind überdeutlich: Vergangenen August regnete es Asche auf São Paulo. "

In der NZZ sorgt sich Christian Wildhagen  - bei aller Freude über kreative Lösungen oder vereinzelte Streaming-Ereignisse - um die Zukunft des Theater- und Opernbetriebs: "Schon bei der derzeit verordneten Dauer des Shutdowns werden die Einnahmeausfälle von Veranstaltern, Opernhäusern und Theatern in die Millionen gehen - die vielerorts laufenden Initiativen, auf Ticket-Rückerstattungen zu verzichten, können dies niemals aufwiegen. Noch prekärer ist bereits jetzt die Situation vieler freischaffender Künstler und Ensembles, die von ihren Engagements leben müssen. Die mittlerweile in vielen Staaten beschlossenen Hilfsmaßnahmen werden soziale Härten bestenfalls abmildern, aber auf längere Sicht kaum einen kulturellen Aderlass verhindern."

Manuel Brug beobachtet in der Welt Regisseur Ersan Mondtag, dessen Inszenierung von Rued Langgards "Antichrist" eigentlich an der Deutschen Oper hätte Premiere haben sollen, beim Genrewechsel. Aber auch wenn sich Mondtag mit markigen Worten zitieren lässt - "Mit Theater bin ich durch, jetzt kommt Oper" - fragt sich Brug, wie freiwillig dieser Wechsel wohl ist: "Schnell hochgespült wurde er. Frankfurt, Münchner Kammerspiele, Berliner Ensemble, Thalia Theater, Schauspiel Köln versorgte Mondtag unermüdlich. Eine gewisse Aufrührerroutine wurde da spürbar, Gelangweiltsein, Unlust, der Zwang, sich dauernd selbst übertrumpfen oder zumindest einem Ruf gerecht werden zu müssen. Kein ganz neuer Vorgang für ein schnell hochgepushtes Nachwuchstalent."

Weiteres: Gewohnt zuverlässig stellt die Nachtkritik den Online-Spielplan für die Bühnen zusammen. Im Tagesspiegel stellt Christiane Peitz die neue Programmplattform Berlin@live vor, die auf Streamings von der Bücherei-Lesung über Oper und Konzert bis zur Quarantäne-Performance verlinkt.
Archiv: Bühne

Film

Italien hat ein weiteres prominentes Opfer der Corona-Krise zu beklagen: Die Schauspielerin Lucia Bosè ist im Alter von 89 Jahren an dem Virus gestorben, berichtet etwa der Corriere della Sera, der auch eine Fotostrecke bring. Unvergessen die Coolness ihrer Escheinung in Michelangelo Antonionis ersten großen Spielfilm "Cronaca di un amore" von 1950. Hier eine berühmte Plansequenz des Films von einer, auch von Bosè diszipliniert verkörperten Eleganz, die das Kino der folgenden zwanzig Jahre tief beeinflusste.



Peter Körte hat sich für die FAS in der deutschen Filmbranche umgehört, wie diese mit dem aktuellen "Filmstau" und den erheblichen Umsatzeinbußen umgeht. Auf der Medienseite der heutigen FAZ erzählt Jörg Seewald außerdem, wie die Filmproduzenten mittlerweile die blanke "Existenzangst" packt: Bis zum 21. April würden bei vielen die Mittel noch reichen, anschließend gingen im Betrieb langsam die Lichter aus, inbesondere bei den derzeit von in der Schwebe hängenden Produktionen betroffenen Firmen: "Man brauche gerade Signale aller Auftraggeber, dass es ein Leben nach der Krise gebe. Die Zusage der Sender, dass man die Hälfte der Kosten der wegen der Krise angehaltenen Produktionen übernehme, ist zweischneidig. 'So positiv wie diese Zusage gemeint war', sagt Sven Burgemeister, 'Banken werden die Produzenten fragen, wie wir die anderen fünfzig Prozent des Schadens abdecken. Unsere Kapitaldecken sind nicht auf Augenhöhe.' In seinem Fall betrage die Summe 1,3 Millionen, sagt Uli Aselmann. 'So viel hat keiner von uns zu Hause rumliegen.'"

Das rührt das Prepper-Herz: "Susi & Strolch" (Bild: Disney)

Wer die Welt vor lauter Corona schon gar nicht mehr sieht, der sollte vielleicht zum Remake von "Susi & Strolch" greifen, mit dem der neue Streaminganbieter Disney+ seit heute für sich wirbt. Hierbei wird es sich im Rückblick um den "härtesten Eskapismusporno" gehandelt haben, "den man in der Coronakrise bekommen konnte", meint David Steinitz in der SZ und versichert, dass bei diesem herzigen Movie "selbst dem zynischsten Prepper beim Sortieren seiner Klopapierstapel im Coronabunker mal für eine Minute warm ums Herz werden dürfte."

Außerdem: Im Cargo-Podcast spricht Bert Rebhandl mit Alexander Horwath über dessen Sichtungen im Zeitalter des Distancings. Besprochen werden die neue Mini-Serie "The English Game" von "Downtown Abbey"-Autor Julian Fellowes (Welt, FAZ) und die Netflix-Serie "Freud" (FAZ).
Archiv: Film

Literatur

Die Schriftstellerin Leïla Slimani wirft in einem online nachgereichten Beitrag für die FAZ einen Blick aus dem Fenster ihres Corona-Exils in der Normandie: "Es kommt mir vor, als würden wir in einem Märchen leben, als seien wir die Opfer eines Fluchs. Eine böse Hexe - oder ein freundlicher Magier, wer weiß? - hat die Welt zum Stillstand gebracht. Die Natur rächt sich. Der Wahnsinn, dem wir alle verfallen waren, wurde endlich unterbrochen. Plötzlich wurden wir zum Hausarrest gezwungen, in dieser Welt, die auf Konsum, Produktion, Mobilität und Hypersozialität basiert. Wir sind gezwungen, uns in Geduld und Bescheidenheit zu üben."

Paul Jandl staunt in der NZZ, wie rasant die Literatur auf die Coronakrise reagiert: Von Krisentagebüchern bis klugen Reflexionen (etwa Kathrin Röggla in der FAZ - unser Resümee) ist alles in rauen Mengen zu haben. "Keine Frage: Literatur entsteht auch während besserer Zeiten in Arbeitssituationen, die der Quarantäne ähnlich sind. Sie kommt aus einem freiwilligen Rückzug, der den Blick schärfen kann für das, was draußen in der Welt vorgeht. Was die Literatur allerdings aus der unfreiwilligen Distanz machen kann, aus einer verschärften Form der Ungleichzeitigkeit, wird sich erst allmählich zeigen. Was man jetzt hört, ist ein Signal der Verunsicherung. Ein Rufen im digitalen Wald."

Weiteres: Die Schriftstellerin Olga Martynova erinnert in der SZ an Alexander Puschkins Cholera-Quarantäne im Jahr 1830 und macht uns Mut: Die Monate in der Isolation waren die "vielleicht glücklichsten drei Monate seines Lebens, die unter dem Namen 'Boldinoer Herbst' sprichwörtlich für einen kreativen Aufschwung stehen." Die Schriftstellerin Sabine Scholl rät in einem Standard-Essay dazu, sich in der Isolation mit intensiver Lektüre vor der Nachrichtenlage zu wappnen.

Außerdem: In unserem Online-Buchhandel Eichendorff21 haben die Perlentaucher gemeinsam einen handverlesenen Büchertisch von Schmökern zusammengestellt, mit der sich die momentane Auszeit des kulturellen Lebens hoffentlich bestens überbrücken lässt.

Besprochen werden unter anderem Marion Poschmanns Gedichtband "Nimbus" (Tagesspiegel), Didier Eribons "Betrachtungen zur Schwulenfrage" (Freitag), Hartmut Langes "Der Lichthof" (FR), Greta Tauberts "Guten Morgen, Du Schöner" (Freitag), der Briefwechsel zwischen Hermann Hesse und seinen Söhnen Bruno und Heiner (SZ) und Alfred Kerrs "Yankee Land. Eine Reise durch Amerika 1924" (FAZ).
Archiv: Literatur

Musik

DAF-Musiker Robert Görl meldete gestern auf Facebook, dass sein Mitstreiter Gabi Delgado gestorben ist. DAFs Musik stand für "höchste Muskelanspannung, reine Kraft und Bewegung", schwärmt Jens Balzer im Nachruf auf ZeitOnline. Sie "'war die vorübergehende Synchronisation von zwei Menschen mit einer Maschine", wie Delgado selbst einmal zu Protokoll gab. Doch "je mehr sich DAF den Maschinen überließen, desto körperlicher, subjektiver und sexueller wurden ihr Auftreten und ihre Musik. 'Sex, Tanzen, Liebe, Politik, darum ging es', sagte Delgado", als dessen besondere Qualitäten Balzer "die dadaistische Inspiration und das Talent zu Parolen" hervorhebt, "die sich bis heute im deutschen Wortschatz befinden ('Verschwende deine Jugend' - immer noch ein geflügeltes Wort); die sonderbare Ambivalenz aus Fremdheit und Nähe, mit der sich Delgado als Sohn spanischer Migranten die deutsche Sprache aneignet oder, wie er es selbst formulierte, aus dem Klammergriff der Siebzigerjahre-Schlager 'zurückerobert'." Wir erinnern uns - nicht mit dem naheliegendsten Stück, sondern mit ihrem schönsten:



Weitere Artikel: Steffen Greiner hat sich für die taz erkundigt, wie sich die Berliner Clubs mit Crowdfunding, Selbsthilfe, neuen Organisationsstrukturen und etwas Hilfe durch die öffentlichte Hand vor der Corona-Pleite zu retten versuchen. In der Zeit porträtiert Maxi Sickert die Berliner Klangkünstlerin Magda Mayas, die auf ihrem neuen Album Klaviersaiten direkt bearbeitet und mit Atemgeräuschen im Saxofon hantiert. Harald Eggebrecht porträtiert in der SZ die Saxofonistin Asya Fateyeva. Im ZeitMagazin träumt Kevin Parker von Tame Impala. In der SZ verabschiedet sich Ann-Kathrin Mittelstrass mit einer kleinen Werkschau der Veröffentlichungen der Münchner Band Merricks von deren verstorbenen Bassisten Bernd Hartwich. In der FAZ gratuliert Josef Oehrlein dem Komponisten Cristóbal Halffter zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden das Buch "Naturtrüb" der Gruppe Oil, die darin erklärt, wie sie ihr Album "Naturtrüb" aufgenommen hat (Tagesspiegel) und das neue Album von Morrissey (SZ, mehr dazu bereits hier).
Archiv: Musik