Efeu - Die Kulturrundschau

Es wird wieder neu anfangen, hochfahren

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26.03.2020. Die Künste sind jetzt von Existenzsorgen geplagt: Die Buchverlage verschieben Veröffentlichungstermine oder stellen auf E-Book um, Bühnenkünstler und Musiker stehen vor dem Nichts, berichten Zeit und Welt. Und die versprochene unbürokratische Hilfe? Kommt erst nach Durcharbeitung eines 60 Seiten langen Antrags, klagt die SZ. Die NZZ lernt in einer Ausstellung über Holz, wie unglaublich intelligent Pflanzen sind. In der FAZ ärgert sich Michael Wolffsohn über die Netflix-Serie "Unorthodox", die ein ganz falsches Bild vom Judentum zeichne. Die taz guckt Filme im Arsenal, online.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.03.2020 finden Sie hier

Bühne

In der Zeit fürchtet Peter Kümmel um die Bühnen in Deutschland. Was wird nach dem großen Corona-Shut-Down von dieser einmaligen Vielfalt noch übrig sein? "Viele Theater und Künstler sind in ihrer Existenz bedroht. Große staatliche und städtische Bühnen haben mit enormen Ausfällen zu kämpfen, aber wenigstens beziehen ihre Schauspieler und Techniker und Bühnenarbeiter ein festes Gehalt. (In den USA hingegen hat die New Yorker Metropolitan Opera gleich ihren Chor und ihr Orchester vor die Tür gesetzt.) Bei den freien Bühnen und Künstlern sieht das anders aus. Die 54.000 freien Musiker in Deutschland leben im Schnitt von weniger als 14.500 Euro jährlich. Die vielen freien Schauspieler sind in keiner besseren Lage. Hier stehen etliche vor dem Nichts".

In der nachtkritik plädiert die Schauspielerin Lara-Sophie Milagro dafür, in der Krise nicht nur Inszenierungen online zu stellen, sondern über die Gesellschaft als ganzes nachzudenken: "Die Kunst, das Theater könnte während und nach dieser gewaltigen Krise eine große, weil visionäre und identitätsstiftende Rolle spielen: Worin bestand das 'Wir' vor Corona, wer genau ist momentan gemeint, wenn 'wir' jetzt alle zusammenhalten müssen und vor allem: Wer wird 'Wir' sein, wenn die Krise vorbei ist? Werden 'wir' als Gesellschaft, als Kunst- und Kulturschaffende diesen historischen Moment nutzen, um strukturelle Schieflagen und ausgrenzende Wir-Definitionen endlich grundsätzlich in Frage zu stellen oder gar abzuschaffen?" Trotzdem: der digitale Spielplan der nachtkritik.
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Musik

Was die Auftrittsverluste für Künstler, hier für Musiker bedeuten, lässt sich Manuel Brug für die Welt von Sonia Simmenauer erklären. Sie betreibt Kammermusikagentur mit 16 Mitarbeitern, die derzeit alle in Kurzarbeit sind. Den Kopf will sie trotzdem nicht hängen lassen: "Einiges wird in den kommenden Monaten kaputt gehen, irreparabel: Agenturen, Ensembles, Künstlerkarrieren, ganze Festivals. Da ist Sonia Simmenauer sich sehr sicher. Skeptisch ist sie gegenüber staatlichen Hilfen: 'Wir Vermittler sind doch nur kleine Fische, bis das Futter von oben bei uns ankommt, wird es dauern.' Aber die Impresaria sagt auch: 'Es wird wieder neu anfangen, hochfahren. Und dann werden wir sehen, was noch da ist. Und vielleicht wird dann alles weniger hektisch, ruhiger, nicht so heiß laufend. Es war wie alles in der Welt, zu schnell, überdreht, zu global.'"

Neue technologische Errungenschaften in Sachen Bild und Klang und noch dazu die Aussicht darauf, dass das ZDF seine Mediathek nach dem neuen Telemediengesetz unabhängig vom linearen Programm zu einer Streaming-Schatzkiste ausbauen könnte: Max Nyfeller freut sich in der FAZ geradezu euphorisch auf künftige Konzertfilme, denn "der Musikfilm hat seine Zukunft noch vor sich."

Außerdem: Britney Spears entdeckt in Zeiten der Krise den Sozialismus, meldet Matej Snethlage in der taz. Frederik Hanssen gibt im Tagesspiegel Tipps aus dem Fundus der momentan frei zugänglichen Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker.

Besprochen werden Caribous Album "Suddenly" (Jungle World), das neue Album von The Weeknd (Tagesspiegel), Waxahatchees neues Album "Saint Cloud" (ZeitOnline) und das neue Album "Heavy Light" der U.S. Girls (taz). Daraus ein ziemlich tolles Video:

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Literatur

Auch die Buchverlage erleben gerade Einbußen, weil der stationäre Buchhandel nicht mehr bestellt. Nicht mal Amazon kauft noch Bücher bei den Verlage, weil es derzeit Sanitäts- und Haushaltswaren priorisiert. Da könnte man natürlich in gemeinschaftlicher Aktion darauf hinweisen, dass es außer Amazon noch andere Buchhändler gibt (den Perlentaucher-Buchladen Eichendorff 21 zum Beispiel). Oder man könnte seine Bücher als E-Books gleich selbst von den Verlagsseiten ab verkaufen. Ronald Düker hat sich für die Zeit, die heute nur eine Buchkritik bringt, bei einigen umgehört. Viel Fantasie wird da noch nicht entwickelt. Ullstein-Verlegerin Barbara Laugwitz immerhin plant "die einstweilige Komplett-Umstellung auf das E-Book. Sie gilt bereits für die ab Ende März angekündigten Titel. Kein gedrucktes Buch wird also mehr ausgeliefert, stattdessen einige Novitäten nur in digitaler Form, andere kommen auch als E-Book erst später heraus. Im Herbst dann: ein stark reduziertes Programm, volle Konzentration auf die Spitzentitel, sehr viele Bücher sind schon jetzt auf das Jahr 2021 verschoben."

A.J. Kennedy fällt in ihrer Brexit-Kolumne für die SZ aus allen Wolken, als sie zu Boris Johnsons 2004 veröffentlichtem und wohl ziemlich hingeklecksten Roman "Zweiundsiebzig Jungfrauen" greift, der zu allem Unglück auch noch von einem zutiefst zynischen Parlamentarier handelt. Eine erhebliche Düsterheit zeichnet das Buch aus, die Erzählstimme ist "böswillig auf alles reagierend, was 'anders' ist, voll nihilistischer Verachtung, fasziniert von Schaden, Blutvergießen, militärischen Insignien und willkürlicher Macht. ... Heute sind die Fiktionen dieses Autors nicht nur viel finsterer, sondern auch viel einflussreicher."

Außerdem: Für die gleichnamige Corona-Reihe der FAZ wirft der schwedische Schriftsteller Aris Fioretos einen Blick durch sein "Fenster zur Welt". Die Literatur nach Vorzeichen und Vorbildern der Coronakrise zu durchleuchten, hat gerade Konjunktur: In der FR berichtet Margit Dirscherl davon, dass Heinrich Heine schon 1832 in einem Zeitungsartikel über die Choleraepidemie in Paris und die "Staatsveränderungen" in Folge zahlreiche Aspekte unserer momentanen Gegenwart vorhergesehen hat.

Besprochen werden unter anderem Niklas Maaks "Technophoria" (SZ) und Bernt Spiegels Romandebüt "Milchbrüder, beide" (FAZ).
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Kunst

Auch den Bildenden Künstlern geht es derzeit schlecht, meldet der Tagesspiegel: "Laut einer Umfrage des Berufsverbands bildender Künstler*innen (BBK) sind die finanziellen Auswirkungen der Corona-Epidemie auf die Bildende Kunst verheerend. Mehr als die Hälfte der Befragten verlieren laut Umfrage mehr als 75 Prozent ihres monatlichen Einkommens, ein Viertel gab an, mehr als 2.000 Euro ihres Einkommens in den kommenden vier Wochen zu verlieren." In der Berliner Zeitung berichtet Ingeborg Ruthe über die Auswirkungen auf den Kunsthandel.

In der SZ schlackern Till Briegleb die Ohren angesichts der "unbürokratischen Hilfe", die der Staat Kleinbetrieben und Freien, also auch Künstlern, zur Verfügung stellen will: "Eine Anfrage beim Jobcenter nach 'Grundsicherung', die von den Behörden gerade als Allzweckwaffe beworbene Sozialhilfe für Selbständige in Not, wird von dort schnell und unbürokratisch beantwortet mit zwei computergenerierten Mails. Darin enthalten sind 20 Dokumente mit zusammen 60 Seiten. Auf den ersten beiden Checklisten werden zu 44 Stichpunkten mindestens 113 Dokumente aufgelistet, die als Nachweis der existenziellen Not vorzulegen sind, von Einnahme-Überschuss-Rechnung der letzten zwölf Monate über Nachweis der letzten Mietänderung, alle Kontoauszüge der in einem Haushalt lebenden Personen des letzten halben Jahres bis zu rätselhaften 'Sperrzeitbescheiden' oder 'Nachweis KIZ'."

In einem Brief aus Polen für die Berliner Zeitung erzählt Jan Opielka, dass die polnischen Künstler noch schlechter darstehen als die deutschen: "'In der Theaterbranche haben etwa 80 Prozent der Künstler keinen Festvertrag', sagt Izabela Kuzyszyn vom Verband der Künstler Polnischer Bühnen (ZSAP) im Gespräch. Auch wenn es nun im Rahmen eines Rettungsschirms eine einmalige Zulage vom Staat geben soll, sieht Kuzyszyn vor allem für die Kulturszene außerhalb Warschaus massive Probleme kommen. Doch auch einen Hoffnungsschimmer. 'Künstlerinnen und Künstler zeichnen sich in der Regel durch einen kreativeren Umgang mit der Realität aus, und ich denke, dass viele von ihnen in dieser Krise besser zurecht kommen als Menschen anderer Berufe.'"

Weiteres: Kuratorin Angela Lammert wandert für den Tagesspiegel in der Berliner Akademie der Künste durch ihre John-Heartfield-Ausstellung, die jetzt nicht eröffnet werden kann: "Dass wir die Ausstellung absagen mussten, war ein Schock, den wir erst einmal verdauen mussten. Für uns Mitarbeiter hat die Situation aber auch etwas Gutes: Wir haben John Heartfield nun länger für uns." Besprochen wird die Käthe Kruses Wortschau "Ich sehe", die sich tazlerin Brigitte Werneburg durch die Schaufenster der Galerie Nord anschaut.
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Film

Sehnsuchtsort Berlin: "Unorthodox" (Netflix)

In der FAZ ärgert sich Michael Wolffsohn über den Netflix-Vierteiler "Unorthodox", dem das gleichnamige, autobiografische Buch der aus einer ultraorthodoxen jüdischen Familie nach Berlin geflohenen Schriftstellerin Deborah Feldman zugrunde liegt. Die zugespitzte Darstellung einer kleinen Minderheit vermittle ein völlig falsches Bild von der Religion als ganzer, meint der Historiker: Das Publikum könne "fehlschließen, 'das Judentum' verdamme 'Fleischeslust'. So wird 'Aufklärung' in Fehlinformation verwandelt und 'das' Judentum als frauenfeindlich stigmatisiert. Ich zweifele keine Sekunde daran, dass Deborah Feldman all das wirklich erlebt hat und ähnliche Ungeheuerlichkeiten in anderen orthodoxen Gemeinschaften, jüdischen und nichtjüdischen, geschehen, aber hier wird die Perversion der Religion als vermeintlich allgemeine Normalität der Religiosität dargeboten." Eine filmkritische Perspektive nimmt Jenni Zylka in der taz ein.

Bei Out Takes macht sich Rüdiger Suchsland Gedanken über die nun ausfallende, aber immerhin zu Teilen online stattfindende Grazer Diagonale und generell über Filmfestivals in Zeiten der Coronakrise (auch das Kopenhagener Dokumentarfilmfestival findet derzeit komplett im Netz statt): Schön und gut, aber "führt das alles nicht dazu, alle normalen, analogen Festivals abzuschaffen? Langfristig alles zu virtualisieren? Das ist die Frage, was es überhaupt bewirkt, dass wir jetzt auf einmal durch Pandemie, Quarantäne, Ausnahmezustand, alles Mögliche online machen, was wir noch vor zwei Wochen im Traum nicht im Internet erledigt hätten."

Was wir zum Beispiel dieser Tage im Internet erledigen, was vorher nur vor Ort denkbar war: Ins Kino Arsenal gehen. Die Berliner Kinemathek hat ihren bislang nur zahlenden Mitgliedern und nur online zugänglichen Kinosaal 3 für die Allgemeinheit geöffnet und stellt dort jede Woche ein wechselndes Filmprogramm vor. Die erste Lieferung hat Fabian Tietke für die taz durchgesehen. Unter anderem gibt es mit Laura Horellis "Namibia Today" einen Kurzfilm über die namibischen Befreiungskämpfe und die deutsche Kolonialgeschichte und mit Juliane Henrichs "Aus westlichen Richtungen" einen dokumentarische Spurensuche in der alten BRD: Das Onlineprogramm des Kinos ist "einer jener Glücksfälle in Zeiten von Corona. Schon in den ersten 14 Filmen klingt jene Mischung aus politischer Reflexion, filmischem Experiment und Internationalität an, für die das Arsenal in seinem Kinobetrieb steht. Formale Vielfalt und Internationalität sind über die Zeit noch ausbaufähig, doch schon das Angebot der ersten Woche macht Lust auf Stöbern."

Weitere Artikel: Mely Kiyak verabschiedet sich auf ZeitOnline schweren Herzens von der "Lindenstraße", die nun nach 35 Jahren abgesetzt wird. Dirk Peitz liest für ZeitOnline den (spärlich aktualisierten) Twitterfeed von Tom Hanks, der darin (mit spärlichen Informationen) von seinem Isolationsalltag mit einer Corona-Infektion berichtet. Im Dlf Kultur würdigt Benjamin Moldenhauer den Horrorkomödien-Regisseur Stuart Gordon, der im Alter von 72 Jahren verstorben ist. Bert Rebhandl gratuliert in der FAZ dem Schauspieler James Caan zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Bridget Savage Coles und Danielle Krudys auf Amazon gezeigter Indiethriller "Blow the Man Down" (SZ) und die auf einem Buch von Roberto Saviano basierende Sky-Serie "ZeroZeroZero" (FAZ).
Archiv: Film

Architektur

Stalinistischer Bombast statt klassischer amerikanischer Moderne? In der FAZ überlegt Andrea Gnam, was Donald Trumps Forderung bedeutet, öffentliche Bauten ab einer bestimmten Größe nur noch im Stil des Klassizismus zu errichten: Das ist "ein Abschied von einer ganzen Epoche, in der der Moderne sinnstiftende Ausdruckskraft zugebilligt wurde", schreibt sie. Schon die Bungalowbauten nach dem Krieg, "diese Segnungen des modernen Lebens, selbstredend für die Hausfrau, die nur noch mit dem Fuß die Lüftungsschächte des Heizungssystems bedienen musste, sollten nicht zuletzt auch dazu dienen, den technologischen und wirtschaftlichen Vorsprung Amerikas in einen zugleich politischen wie kulturellen Führungsanspruch umzudeuten".
Archiv: Architektur

Design

"Ein Baum ist eben ein Archiv an Informationen", staunt Susanna Koeberle in der NZZ nach dem lediglich virtuellen Besuch einer Ausstellung der beiden Designforscher Andrea Trimarchi und Simone Farresin in der Londoner Serpentine Gallery über den Werkstoff Holz und dessen globale, wirtschaftliche und ökologischen Aspekte. Auch online lädt diese Ausstellung zum Stöbern und Lernen ein: Der Titel verweist auf den Kambiumring - "diese Schicht befindet sich zwischen dem inneren Teil (Xylem) und dem äusseren Teil (Phloem) eines Baumstammes und ermöglicht sein Wachstum in die Breite. Das Kambium dient als Membran zwischen Holz und Bast. Dieses Merkmal entwickelten Bäume evolutionsgeschichtlich, um sich vor klimatischen Veränderungen zu schützen, wobei dieser Prozess interessanterweise auch wieder rückgängig gemacht werden kann. Die Designer machen mit der Bezugnahme auf diese Besonderheit auch auf die unglaubliche Intelligenz von Pflanzen aufmerksam."

Und sogar den Philosophen Emanuele Coccia hat man dafür gewinnen können, den Monolog eines Baumes zu lesen, erfahren wir. Was uns ins der physischen Ausstellung verloren geht, sehen wir schmerzlich in diesem Video:



Im Pop hat derzeit niemand "mehr Mode-Macht als Billie Eilish", schreibt Jan Kedves in der SZ: Die Modedesigner liegen dem Teenie-Popstar geradezu zu Füßen und bewerfen sie geradezu mit Entwürfen. Allerdings sind sie in diesem Fall überaus offen dafür, "erstaunlich weit von ihrer bekannten Ästhetik abzurücken und, was die Schnitte und Silhouetten angeht, ganz zu vergessen, was für Frauen sonst bei solchen Anlässen gilt: Stoff sparen. ... Von Calvin Klein dafür bezahlt zu werden, dass sie sich - im Gegensatz zu Werbestars wie Justin Bieber, den Kardashian- und Jenner-Schwestern, dem Rapper A$AP Rocky und vielen anderen - gerade nicht auszieht: Das schafft nur Billie Eilish." Auf Instagram ist Eilish in einem Entwurf von Chanel zu sehen:

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