Efeu - Die Kulturrundschau

Da gehen Energien hin und her

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.03.2020. In der FAZ trauert Olga Tokarczuk um die offenen Grenzen Europas. In der SZ verteidigt Judith Schalansky das Schuppentier. taz, FR und Nachtkritik diskutieren die digitale Revolution, die gerade die Bühnen umwälzt. Zum Achtzigsten bekommt Timm Ulrichs von seinen ehemaligen SchülerInnen eine Klasse in Benin. Die SZ übt, mit afrikanischem Pop Corona wegzutanzen. Und Klagenfurt findet jetzt doch statt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 31.03.2020 finden Sie hier

Literatur

Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk genießt es nach dem Trubel um ihre Auszeichnung fast schon, dass die Welt derzeit ein paar Gänge zurückgeschaltet hat: "Ist es nicht so, dass wir zum normalen Lebensrhythmus zurückgekehrt sind? Dass nicht das Virus die Norm verletzt, sondern umgekehrt: dass jene hektische Welt vor dem Virus nicht normal war", schreibt sie in der FAZ. Sie stellt aber auch bekümmert fest, was für einen enttäuschenden Rückschlag die aktuellen politischen Manöver zur Eindämmung des Virus darstellen: "In diesem schwierigen Augenblick zeigte sich, wie schwach die Idee einer europäischen Gemeinschaft in der Praxis ist. Die EU hat im Grunde kapituliert und es den Nationalstaaten überlassen, in dieser Krisenzeit Entscheidungen zu fällen. Die Schließung der Grenzen halte ich für die größte Niederlage in diesen schlechten Zeiten."

Judith Schalansky, als Schriftstellerin spezialisiert auf verlustig Gegangenes und Naturvorgänge, ist in einem Amsterdamer Antiquitätenhandel auf ein Schuppentier gestoßen - also jenes Tier, von dem neuesten Einschätzungen zufolge das Coronavirus auf den Menschen übergegangen ist. Sie staunt in der SZ darüber, was dieses possierliche Tierchen, das trotz Verbot gejagt, geschmuggelt und verzehrt wird, uns allen einzubrocken in der Lage ist: "Es bedarf keiner ausgeprägten Neigung zum schwarzen Humor, um die grausame Ironie wahrzunehmen, die darin liegt, dass ausgerechnet ein scheues, wehrloses Säugetier, das durch menschliche Bejagung kurz vor seiner Auslöschung steht, Überbringer einer Seuche sein soll, die allein bisher Zehntausende von Toten gefordert hat und etwa ein Viertel der Weltbevölkerung in die eigenen vier Wände verbannt." Es zeige sich "wie unerlässlich, ja lebensnotwendig es ist, die Welt als einen Organismus zu begreifen."

Nach einem offenen Brief der Jury, die gegen die ersatzlose Streichung des Wettlesens in Klagefurt protestiert hatten, findet der Ingeborg-Bachman-Wettbewerb nun doch immerhin im Netz statt, melden die Agenturen. Dlf Kultur hat dazu mit ORF-Direktorin Karin Bernhard gesprochen.

Außerdem: Schriftstellerin Nora Bossong gibt im Logbuch Suhrkamp Lesetipps für die langen Corona-Tage. Hans Ulrich Gumbrecht erinnert sich in der NZZ an den Anfang Februar gestorbenen Literaturkritiker George Steiner. Die wegen Homeoffice voneinander vereinzelte Feuilletonredaktion der NZZ schreibt nun kollektiv Corona-Tagebuch. Im Tagesspiegel gratuliert Moritz Rinke dem Schriftsteller Uwe Timm zum achtzigsten Geburtstag.

Besprochen werden Oyinkan Braithwaites "Meine Schwester, die Serienmörderin" und Liz Moores "Long Bright River" (Perlentaucher), Eileen Myles' im Original bereits 1994 erschienener Roman "Chelsea Girls" über das queere New York der 70er (Jungle World), diverse Comics auf Grundlage von Geschichten von H.P. Lovecraft (NZZ), Ewan Morrisons "Nina X" (taz), Leif GW Perssons "Wer zweimal stirbt" (FR), der von Dorlis Blume, Monika Boll und Raphael Gross herausgegebene Ausstellungsband "Hannah Arendt und das zwanzigste Jahrhundert" (SZ) und Büke Schwarz' autobiografisch geprägter Comic "Jein" (FAZ).
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Bühne

Im taz-Interview mit Tom Mustroph lotet der Medienwissenschaftler Friedrich Kirschner dagegen aus, wie Theater digitale Formate für sich nutzen können: "Allein mit der Anordnung der Videos im Dienst Zoom kann man herumspielen. Da sind wir am Suchen. Viel Erfahrung kommt aus der freien Szene, die immer viel digital probiert hat, oder aus angrenzenden Künsten, wie der Medienkunst. Sicher ist es aber nicht die Lösung, einfach nur das Theater abzufilmen, das man bisher gemacht hat."

Auf der Nachtkritik fragt die Dramaturgin Katja Grawinkel-Claassen allerdings, ob die Theater sich und der Gesellschaft eigentlich einen Gefallen damit getan haben, aus dem Schockzustand direkt in die digitale Überproduktion zu wechseln: "Man hätte auch sagen können: In dieser nie dagewesenen Ausnahmesituation nehmen wir uns als kulturelle Institutionen zurück, machen eine Pause, setzen auf Entschleunigung, stellen unsere Ressourcen (welche sind das in der Krise?) für andere Zwecke zur Verfügung."
Im FR-Interview mit Markus Decker erzählt Schauspieler Ulrich Matthes vom Leben in der Quarantäne, Fitness im Wohnzimmer und Online-Lesungen, die ihm aber kein Ersatz sein können für einen Abend im Theater: "Da gehen Energien hin und her. Das ist einfach viel schöner und bewegender."

Ein ganz anderes Thema: Luisa Reisinger gehörte zu den großen Bewunderinnen des belgischen Regisseurs und Performance-Künstlers Jan Fabre, dem im Zuge von #MeToo vorgeworfen wurde, seine Position zu missbrauchen. "No Sex no Solo", hieß angeblich seine Devise). Jetzt hat Reisinger ihr gestürztes Idol bei Proben besucht, wie sie in der Zeit erzählt, und fragt sich, ob #MeToo vielleicht nicht nur hierarchischen Strutkuren im Kunstbetrieb getroffen hat, sondern die Kunst selbst: "Ich verlasse das Theater und bin verstört. Hat Fabres Gesprächsverweigerung etwas damit zu tun, dass ich eine junge Frau bin? War es Selbstschutz, empfohlener Sicherheitsabstand? Die Fragen, die ich ihm in der Woche darauf per Mail schicke, beantwortet er erwartbar distanziert. 'Ich knie vor der Schönheit nieder und gebe ihr, was sie verlangt.' Ein typischer Fabre-Satz. Meine Vermutung, dass die neuen Integritätsstandards ihn und seine Kreativität einschränken könnten, verneint er: 'Weil ich an eine offene Gesellschaft glaube, die die Freiheit des Denkens und der Kunst respektiert. Ich glaube, dass Zeit und Liebe die höchste Macht sind. Und ich glaube, dass sich die künstlerische und spirituelle Wahrheit immer offenbart."
Archiv: Bühne

Kunst

Die Künstler und Künstlerinnen, die einst in Münster Timm Ulrichs Akademieklasse in Münster besuchten, zeigen was sie gelernt haben: Sie schenken ihrem ehemaligen Prof zum Achtzigsten noch mehr Unterricht, wie Franjo Tholen und Ute Sroka im Namen aller Beteiligten in der taz schreiben: "Symbolisch erhält Timm Ulrichs eine junge, mobile Klasse. Real befindet sich deren Klassenzimmer auf einem Marktplatz in Benin, wo mit finanzieller Unterstützung der Münsteraner Klasse Mädchen die Chance geboten wird, parallel zu ihrer Arbeit Bildung zu erfahren und sich ihnen damit neue Perspektiven eröffnen." In der FAZ gratuliert Stefan Trinks dem Künstler - als Ein-Mann-Avantgarde, Galeristenschreck und Käthe-Kollwitz-Preisträger.

Weiteres: Unter anderem der Tagesspiegel meldet, dass Kunstdiebe in den Niederlanden die angespannte Lage zu nutzen wussten: Aus dem Museum Singer Laren bei Amsterdam ist Vincent van Goghs Bild "Frühlingsgarten. Der Pfarrgarten von Nuenen" gestohlen wurde. Die Leipziger Künstlergruppe Famed berichtet in einem E-Mail-Interview, wie sie unter Quarantäne ihr Stipendienprogramm in der Villa Massimo in Rom absolvieren.
Archiv: Kunst

Musik

Die Popszenen der afrikanischen Länder reagieren, wachgerüttelt von ersten Todesfällen in den eigenen Reihen, nun verstärkt auf das Coronavirus, berichtet Jonathan Fischer. Zupass kommt dabei, dass der populäre Soukous-Stil (dessen populäres Aushängeschild Aurlus Mabélé zu den Corona-Toten zählt) eine sehr optimistische Angelegenheit ist: "Was ließ sich nicht alles zu seinen klingelnden Gitarren und Engelsgesängen wegtanzen: Depression, Armut, ja selbst der von Gewalt und Korruption geprägte Alltag. Afrikanischer Pop war schon immer mehr als Unterhaltung. ... Viele Künstler reagieren auf ihre Weise - mit Corona-Songs. So haben die kongolesischen Sänger Koffi Olomide und Fally Ipupa jeweils von daheim aus Hygiene-Botschaften in Umlauf gebracht. 'Les bisous stop!' (Schluss mit Küsschen) singt Ipupa in seiner Händewasch- und-Daheimbleib-Hymne."



Die (ihrerseits auf einem Sample aus diesem 60s-Soul-Stück basierenden) Breakbeats aus den Neunzigern kommen wieder und schreiben sich in die Musik der Zwanzigzwanziger ein, beobachtet Philipp Rhensius in einem großen Rundumschlag für die taz. Daraus entsteht "geballte Gegenwart", schwärmt er. Etwa im Fall des Gqom-Stils von Citizen Boy & Mafia Boyz aus Durban/Südafrika, bei denen "düstere Soundlandschaften auf ultrareduzierte Beats treffen." Womöglich habe "diese neue Lust am Breakbeat (...) auch etwas mit der Ideenlosigkeit einer Welt zu tun, die immer öfter binär, konservativ und vor allem linear denkt." Wir hören rein:



Vor lauter Onlinekonzerten kommt man ja kaum noch dazu, das Social-Distancing mit der tiefenentspannten Demut eines Eremiten zu absolvieren, klagen Carolin Gasteiger und Theresa Hein in der SZ. 19 Uhr, die Qual der Wahl: Igor Levit, der sich als abendlicher Standard längst etabliert hat, oder doch lieber die Live-Übertragung aus dem Münchner Klavierhaus mit Andreas Skouras? "Die Neugier verlangt, auch dort mal reinzuklicken. Kaum stehen die Programme mit beiden Konzerten gleichzeitig offen, wirkt es, als hämmerten Skouras und Levit wild gegeneinander an, der eine Bach, der andere Beethoven, ein Piano-Duell der Giganten. Das dann allerdings bald durch Abstimmung per Mausklick entschieden wird - bei Skouras werden nur 36 Zuschauer angezeigt. Zieht es uns, in diesem neuartigen Quotenrennen, dann doch eher zu den Gewinnern?"

In der Neuen Musikzeitung hält Moritz Eggert die Musikbranche an, trotz allen Einschnitten hoffnungsvoll zu sein: "Tatsächlich hat man noch nie einen derartigen Zusammenhalt in der Musikszene erlebt" und nicht zuletzt liege "in der momentanen Stille die Chance, den wahren Wert von Musik wieder so intensiv und innig zu begreifen, dass wir den sicherlich sehnsüchtigen offenen Ohren und Herzen nach der Krise möglichst authentisch davon erzählen können."

Zusammenhalt und Hoffnung wie von kaum einem zweiten geht in diesen Tagen von diesem Video des Orchestre National de France aus:



Weiteres: Sabine Seifert begleitet den Sänger Wilko Reinhold für die taz bei der Online-Odyssee an einen Antrag für Staatshilfe zur Überbrückung der Corona-Krise zu kommen. Amira Ben Saoud plaudert im Standard mit dem Sänger Mavi Phoenix.

Besprochen werden Bob Dylans neuer Song "Murder Most Foul" ("raunt und mäandert kraftlos dahin", winkt Alan Posener in der Welt ab, "ein lyrischer Teppich, auf dem Dylan nicht weniger als das 20. Jahrhundert zu Grabe trägt", schwärmt Marc Ottiker im Freitag), Jah9s "Note To Self" (FR), das neue Album von Porridge Radio (Jungle World), das neue Album von Pearl Jam (Tagesspiegel), neue Klassikveröffentlichungen, darunter eine CD von Matthias Goerne und Jan Lisiecki mit Beethoven-Liedern (SZ), und das neue Album der Gospel-Punks von Algiers (SZ). Daraus ein Video:

Archiv: Musik

Film

Menschenleere Räume gibt es nicht nur in den Klassikern des Epidemie- und Postapokalypse-Kinos, sondern zuhauf etwa auch bei Michelangelo Antonioni, den Magnus Klaue auf ZeitOnline (neben Eric Rohmer) als "einen der bedeutendsten Regisseure menschenleerer Bilder" würdigt, was sich etwa auch im berühmten Schluss des Klassikers "L'Eclisse" von 1962 zeigt. "Antonionis Filme beschreiben nicht einfach eine inhumane Gesellschaft, sondern eine, in der die Spuren des Menschlichen in die Objekte, in die Leere, ins Menschenferne eingewandert sind. ... Die Lebenswelt ist zerfallen in das leblose Leben und die unbelebte Welt, die wie ein Museum des einst Menschlichen erscheint."



Außerdem: Hani Yousuf berichtet in der FAZ, dass Sarmad Sultan Khoosats Film "Circus of Life" in Pakistan massiv von rechtsextremen Religiösen angegriffen wird: "Todesdrohungen sind hier eine ernste Angelegenheit, auch wenn sie nicht immer umgesetzt werden." Susan Vahabzadeh bringt in der SZ Alfred Hitchcocks Klassiker "Das Fenster zum Hof" unter den Bedingungen der Corona-Isolation neu zum Klingen. Im Tagesspiegel gibt Christian Schröder zehn Streamingtipps. Besprochen wird die dritte Staffel von "Westworld" (FAZ).
Archiv: Film