Efeu - Die Kulturrundschau

Der innere Beach Boy

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01.04.2020. Die NYTimes hofft angesichts der neuen Choreografien des Alltags auf eine Rückkehr in unsere Körper. In der taz schreibt der serbische Schriftsteller Ivan Ivanji über Corona in Serbien. Außerdem beklagt die taz die diskursive Einengung. Die SZ rät zum Eskapismus mit Eric Rohmers Sommerfilmen: Wirksamer als alle Antidepressiva gegen Lagerkoller. Und Renzo Piano ruft dazu auf, wenn das alles vorbei ist, die Museen zu stürmen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.04.2020 finden Sie hier

Architektur

Bewegt hört Gabriele Detterer in der NZZ, wie der Architekt Renzo Piano per Video-Botschaft, den Italienerinnen und Italienern Mut zuspricht: "Mut und Tatkraft für die Zeit nach der Katastrophe, und er fordert dazu auf, die dann wieder geöffneten Museen und Kulturstätten quasi zu stürmen, denn diese Orte seien der Grundstein der Civitas und des vitalen Lebens der städtischen Zentren." Aber er nimmt auch die Jüngeren in die Pflicht, nicht nur unter den Architekten, wie Detterer zitiert und übersetzt: "Ihr werdet eine bessere Zukunft bauen müssen. Nachhaltig zu bauen, sei das neue Ziel baulicher Ausdrucksformen, und es fehle noch an Sensibilität. Da gebe es so viel zu tun, resümiert Piano, wir müssten aus der Krise als Bessere herauskommen, als wir es zuvor gewesen seien!"



In der Berliner Zeitung verabschiedet Nikolaus Bernau mit recht deutlichen Worten die nach Basel wechselnde Dessauer Bauhaus-Direktorin Claudia Perren, die das Bauhaus-Jubiläum reibungslos organisieren wollte, indem sie alles Politische raushielt: "Perrens Bauhaus hat zu keiner einzigen irgendwie kontroversen Debatte der jüngeren Zeit einen erinnerlichen Beitrag geleistet, seien es Klimaschutz, ökologischer Umbau der Städte, Ausgleich zwischen Städten und Landgemeinden, Verkehrsplanung."
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Literatur

Mit seinen 91 Jahren ist der serbische Schriftsteller und Holocaust-Überlebende Ivan Ivanji von der in Serbien verordneten, strengen Ausgangssperre für Menschen ab 65 direkt betroffen. Für die Zukunft zeichnet er in der taz kein gutes Bild: "Nie da gewesen war eine solche gegenseitige Abhängigkeit der Weltwirtschaft. An Einbrüchen ihrer Einkommen, ihrer Existenz, werden sehr viele Menschen, lange nachdem die Krankheit medizinisch gesehen überwunden ist, leiden. ... Die jetzige Situation und die Verschwörungstheorien werden psychische Erkrankungen verschlimmern und rassistische Aggressionen schüren, Isolationisten und Nationalisten überall stärken, und letztendlich wird die Demokratie dort, wo sie besteht, erschüttert, und wo sie nicht besteht, mit noch mehr Verachtung als bisher behandelt."

Insbesondere die hiesigen Comicverlage - klein, aber fein, mittlerweile beachtlich erfolgreich, aber nie so sehr, dass sie große Rücklagen hätten bilden können - sind von der Corona-Krise betroffen, hat Lars von Törne in einer epischen Darlegung für den Tagesspiegel recherchiert: Die wichtige Infrastruktur von Comic- und Buchläden ist derzeit lahm gelegt, derweil Amazon Haushaltswaren in den Lagern priorisiert und kaum einen Bestand an Neuerscheinungen aufbaut. Einig sind sich alle Verlage: Comicfans sollten die wenigen noch offenen Bücherläden und jene, die derzeit auf eigene Faust ausliefern, unterstützen. "Je mehr kleine Läden dicht machen müssten, desto schwerer werde es die gesamte Szene nach der Krise haben - und desto ärmer werde die Comiclandschaft." Auf dieser Website findet man Comicläden, die Mailorder anbieten. Und in unserem Online-Buchladen Eichendorff21 gibt es selbstverständlich ebenfalls alle derzeit lieferbaren Comics (hier ein eigens zusammengestellter Büchertisch).

Corona, Corona, Corona: Im literarischen Leben macht sich "ein klaustrophobisches Gefühl diskursiver Einengung" breit, schreibt Johannes Franzen in der taz. Zeichneten sich Feuilleton und Literatur gerade noch durch rege diskursive Energie aus, wirke nun alles, was nicht pandemisch perspektivierbar ist, unerheblich: "Für die Feuilletons und die Literatur ist das ein Problem. Zwar scheint es zunächst so, als würden sie sich in der Krise in besonderer Weise bewähren, ihren gesellschaftlichen Wert unter Beweis stellen. Allerdings werden sie so auch auf dieFrage nach ihrem Nutzen eingeschränkt. Die Krise führt zu einer herrischen Gegenwart, die von der Kultur einfordert, sich ihren Gegebenheiten unterzuordnen." Dazu passend hat sich 54books im Betrieb umgehört, wie sich die momentane Krise derzeit bei Verlagen, im Buchhandel und bei Schriftstellern niederschlägt.

Weiteres: Die Belegschaft von 54books.de setzt ihr Corona-Tagebuch fort. Hannes Hintermeier (FAZ) und Willi Winkler (SZ) schreiben Nachrufe auf die Dichterin und Übersetzerin Eva Hesse.

Besprochen werden unter anderem Edgar Rais Roman "Das Licht der Zeit" über die junge Marlene Dietrich und den frühen Tonfilm (taz), László Krasznahorkais "Baron Wenckheims Rückkehrt" (Tell-Review), Julia Bernhards Comic "Wie gut, dass wir darüber geredet haben" und Nanna Johanssons Comic "Natürliche Schönheit" (Filmgazette), Julian Volojs und Marcin Podolecs Comic "Ein Leben für den Fußball" über den Fußballer Ossi Rohr, der sich seinerzeit gegen die Nazis stellte (Jungle World), Ulla Lenzes "Der Empfänger" (taz), Scott McClanahans von Clemens Setz ins Deutsche übertragene Erzählung "Sarah" (SZ) und Abdulla Qodiriys "Die Liebenden von Taschkent" (FAZ).
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Bühne

In der New York Times beobachtet Tanzkritikerin Gia Kourlas in einem auch sehr schön bebilderten Text, wie sich mit den neuen Choreografien des Alltags auch unser Verhältnis zum Körper verändert: "Das Gefühl dafür und die Kontrolle darüber, wo wir uns im Raum befinden, ist momentan für alle von Bedeutung. Tänzerinnen und Tänter erfassen das nach Jahren der Sensibilisierung und des Trainings instinktiv. Wenn uns diese Pandemie etwas lehrt, dann das wir in unsere Körper zurückmüssen. Das Leben ist kostbar, und das ist auch Bewegung."

Weitere Artikel: NZZ-Kritikerin Daniele Muscionico trifft die Regisseurin Yana Ross, die am Zürcher Schauspielhaus für die große Ruhe zuständig ist. Die Bayreuther Festspiele werden in diesem Jahr nicht stattfinden, meldet der Tagesspiegel, und weil gleich die gesamten Jahrgänge umdisponiert werden müssten, werde auch die für diese Saison geplante Neuproduktion des "Ring" voraussichtlich ins Jahr 2022 verlegt werden. Im Tagesspiegel resümiert auch Bernhard Schulz die erste Analyse der Bundesregierung zu den drohenden drastischen Einbußen in Kunst und Kultur. Im Standard blickt Katharina Rustler auf die Situation bildender Künstler in Österreich. In der Berliner Zeitung bemerkt Ulrich Seidler, wie sich die Nachtkritik in Coronazeiten zum Forum für Kulturschaffende wandelt. Und beim Streaming von Theateraufführungen steht mitunter sogar der Regisseur in einem Chat den ZuschauerInnen Rede und Antwort. Heute Abend im Programm des Community Viewing: Falk Richters "Small Town Boy".
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Musik

Für ZeitOnline hat Jens Uthoff bei der "Liveness"-Forscherin Melanie Wald-Fuhrmann nach den erwartbaren Gründen dafür gefragt, warum ein Onlinekonzert bei weitem nicht so befriedigend ist wie ein vor Ort miterlebtes Konzert - etwa weil "wir nicht nur mit den Ohren hören, sondern mit der ganzen Körperoberfläche".

Besprochen werden neue Popveröffentlichungen, darunter Thundercats neues Album "It Is What It Is", auf dem der Künstler laut SZ-Popkolumnist Julian Dörr "seinen inneren Beach Boy entdeckt". Dazu gibt es ein tolles Video:

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Kunst

In der FAZ beklagt Stefan Trinks nach dem Raub von Vincent van Goghs "Frühlingsgarten" aus dem Museum Singer Laren den immensen künstlerischen Verlust, bemerkt aber auch, dass Einsparungen beim Personal den Dieben die Arbeit erleichtert hat: "Man müsste für die vielen coronabedingt freigesetzten, weil stundenweise bezahlten Museumswärter und Kräfte fordern, dass sie als Wachpersonal eingesetzt werden. Das aber ist unrealistisch, weil durch das fortgeschrittene Outsourcing der Museen die Nachtwächter meist privaten Securityfirmen angehören und nichts mit den übrigen Museumsangestellten zu tun haben."
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Film

Hier kommt der Sommer: "Pauline am Strand" von Eric Rohmer

Mögen düsterer gesonnene Zeitgenossen sich die langen Corona-Tage mit Seuchenfilmen wie "Contagion" um die Ohren schlagen, David Steinitz greift lieber zu den Sommerfilmen von Eric Rohmer, die zum Glück gerade als großes Box-Set erschienen sind und auch als Video-on-Demand zum schmalen Videothekenpreis bei Amazon erhältlich sind. Diese Filme "sind wirksamere Antidepressiva als alles, was der Psychiater gegen Lagerkoller verschreiben kann", verspricht der SZ-Filmkritiker. Sie sind  "von einem C'est-la-vie-Charme beseelt, der selbst im existenzialistischen französischen Kino seinesgleichen sucht." Und dann sind die Filme auch noch auf der Höhe der Zeit, denn "das klassische Objekt des französischen Männerkinos, also das junge Mädchen im kurzen Rock, das Affären mit älteren Männern gegenüber nicht abgeneigt ist, wird bei ihm zum Subjekt. Rohmer erzählt immer ebenbürtig auch aus der Perspektive der Frau."

Außerdem: Für die taz wirft Fabian Tietke einen Blick ins virtuelle Filmfestival der New Yorker Initiative "Women Make Movies". Das Zurich Film Festival und das Festival in San Sebastián bündeln ihre Filmmarkt-Kräfte gegen Corona, meldet Lory Roebuck in der NZZ. Gerhard Midding erinnert in der Welt an den Schauspieler Toshiro Mifune, der vor 100 Jahren geboren wurde. In der Filmgazette widmet sich Nicolai Bühnemann den grotesken Filmen des vor kurzem verstorbenen Horror-Regisseurs Stuart Gordon. Hyperallergic gibt Tipps, was man auf dem neuen, dezidiert linken Streamingdienst Means TV schauen sollte.

Besprochen werden Daniel Harrichs heute Abend im SWR gezeigter investigativer Dokumentarfilm "Meister des Todes 2" über illegale Deals deutscher Rüstungsfirmen (taz, FAZ), Jörg Haaßengiers und Jürg Brüggers auf Kino-On-Demand unter Gewinnbeteiligung derzeit geschlossener Kinos ausgewerteter Dokumentarfilm "Master of Disaster" über Katastrophenübungen (SZ), Damien Manivels ebenfalls auf Kino-on-Demand ausgewerteter Tanz-Dokumentarfilm "Isadoras Kinder" (critic.de), Hugo Haas' tschechischer Seuchenfilm "Die weiße Krankheit" von 1937 (critic.de), Dario Argentos RAI-Fernsehepisode "Il Tram" von 1973 (Eskalierende Träume) und Jorge Graus spanisch-italienische Bahnhofskinoklassiker "Das Leichenhaus der lebenden Toten" aus dem Jahr 1974 (critic.de).
Archiv: Film