Efeu - Die Kulturrundschau

Wie schön Elefanten rasen können

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.04.2020. Im Freitag erklärt der Schriftsteller Leif Randt seinen Wunsch, an einer kybernetisch geregelten Planwirtschaft mitzuwirken. Die NZZ erzählt, wie sie Beethoven lieben lernte. Auf ZeitOnline erklärt der Filmemacher Savaş Ceviz, warum er einen Film über einen Pädophilen machen wollte. In der SZ sagt Schaubühnenleiter Thomas Ostermeier schon mal das Ende der Solidarität nach Corona voraus. In der FAZ spricht Thomas Struth über das kollektive Unbewusste des städtischen Raums.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.04.2020 finden Sie hier

Literatur

Im Freitag plaudert Leif Randt über seinen neuen Roman "Allegro Pastell" und verrät dabei auch einige Ambitionen für die Zukunft: "Ich habe große Lust, an neuen Systemen mitzudenken. Eine kybernetisch geregelte Planwirtschaft, die dennoch Anreize zu Innovationen gibt. Zum Beispiel. In den Zwanzigern wird viel passieren." Die momentane Krise sieht er auch "als Chance. Eventuell stellt die Gesellschaft darüber fest, dass die Welt gar nicht zusammenbricht, wenn nicht alle ständig arbeiten gehen. Außerdem werden Entwicklungen hin zu digitalen Versammlungsorten jetzt beschleunigt, glaube ich."

Ein Verwandtenbesuch in Hubei setzte den chinesischen Schriftsteller Han Dong für 60 Tage wegen Ausgangssperre samt Ehefrau in einem Hotelzimmer fest. In der FAZ berichtet er von seiner Erfahrung: "Der beengte Raum und die lange Zeit sind voller Gefahren, besonders unter nahestehenden Menschen. Wenn ein Ehepaar normalerweise miteinander streitet, kann der eine oder die andere einfach die Tür hinter sich zumachen und weggehen oder höflich sagen: "Ich möchte allein sein, lass mich bitte in Ruhe". Aber jetzt gibt es solche Möglichkeiten nicht. ... Ganz wichtig wird jetzt innere Distanz und Abgrenzung. Meine Frau und ich sind noch nie so vernünftig, zurückhaltend, bescheiden und zuvorkommend gewesen wie in diesen sechzig Tagen, wir haben die höchste Stufe des Zusammenseins eines Ehepaars im traditionellen Sinn - 'sich gegenseitig wie Gäste verehren' - praktiziert, wozu wir uns gegenseitig beglückwünschten."

Außerdem: Die Filmzeitschrift Cargo hat aus ihrem aktuellen Heft Saša Stanišics Erinnerungen an das Kino seiner Kindheit in Višegrad online gestellt. Krimi-Kritiker Alf Mayer übermittelt im Crime-Mag eine kleine Reportage von den Zuständen in Neuseeland, wo er wegen Corona festhängt.

Besprochen werden unter anderem Esther Kinskys Gedichtband "Schiefern" (Perlentaucher), Ta-Nehisi Coates' "Der Wassertänzer" (Standard), Irina Liebmanns "Die Große Hamburger Straße" (FR), Sujata Bhatts von Jan Wagner übersetzter Gedichtband "Die Stinkrose" (SZ), Kerstin Hensels Novelle "Regenbeins Farben" (Berliner Zeitung), Verena Güntners "Power" (Tagesspiegel) und eine Biografie über den Zürcher Verleger Emil Oprecht, der von der Schweiz aus die von den Nazis geflohenen Schriftsteller verlegte (Tagesspiegel).
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Kunst

Der Tagesspiegel empfiehlt in seinen Streaming-Tipps ein Projekt des Getty Museums in Los Angeles. Das hat sein Publikum gebeten, Lieblingskunstwerke mit eigenen Mitteln in der Wohnung nachzustellen: "Das Ergebnis ist grandios, es zeugt von der überbordender Kreativität vieler Menschen und macht einfach gute Laune." Bei Twitter oder diesem Blog.

Hier ein Beispiel:



Der Fotograf Thomas Struth ist berühmt für seine Bilder von menschenleeren Städten. Mit der jetzigen Situation will er das aber nicht verglichen wissen, bescheidet er der FAZ im Interview: "Mich hat schon immer interessiert, Architektur als Antlitz zu verstehen... Mir ging es darum, das kollektive Unbewusste des städtischen Raums darzustellen. Das wird in den Bildern nur sichtbar durch die Abwesenheit von Menschen. Sie sind ja durch die Ausstrahlung der Architektur unvermeidbar mit eingebettet. Ich würde im Hinblick auf die heutige Situation eher eine Parallele sehen zu der Stille in meinen Bildern."

Weitere Artikel: Sebastian Späth recherchiert für Zeit online, wie sich die Museen auf ihre Wiedereröffnung vorbereiten. Auf monopol stellt Saskia Trebing "Today"-Serie des Künstlers On Kawara vor. Und Sarah Alberti unterhält sich mit dem Leipziger Künstler David Schnell über dessen Verein, der Kulturprojekte im ländlichen Raum fördert.

Besprochen werden eine Online-Ausstellung des Malers Bernhard Martin, "Image Ballett", im Haus am Waldsee in Berlin (Berliner Zeitung), die Ausstellung "Geteilte Geschichte - die arabische Welt und Europa 1815 - 1918" online im Museum With No Frontiers (Tsp) und eine Online-Ausstellung der indischen Künstlerin Sheela Gowda im Münchner Lehnbachhaus (monopol).
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Architektur

In der NZZ erinnert der Architekturtheoretiker Sascha Roesler daran, dass Social Distancing im Grunde ein Uranliegen der modernen Stadtplanung war, die die ungesund engen, verdreckten und verschatteten Quartiere des Mittelalters abgerissen hatte, in denen sich Pest, Cholera, Typhus, Tuberkulose oder Malaria ungehindert verbreiten konnten: "Mit der Ausbreitung des Coronavirus sehen sich Architektur und Stadtplanung erneut in die Pflicht genommen, sich mit der Hygiene in den Städten Europas auseinanderzusetzen. ... Die gegenwärtigen Ereignisse rund um das Coronavirus werden die Debatte über die digitale Durchdringung von Städten auch in Europa verändern. Stadtstaaten wie Singapur nutzen das planerische Konzept der Smart City, um den Raum der Stadt umfassend mit aus Daten gewonnenen Informationen zu verknüpfen. So lassen sich etwa Transport- und Energieflüsse im Rahmen von 3-D-Modellen in ihren stadträumlichen Auswirkungen überprüfen."
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Film

Wir sind so frei: "Unorthodox" (Bild: Netflix)

In der Welt ärgert sich Alan Posener sehr über Maria Schraders Netflix-Vierteiler "Unorthodox", der sehr lose auf Deborah Feldmans Memoiren basiert, diese dabei aber zum eigenen Schaden dramaturgisch erheblich zuspitze: "Aus einer Serie, die den tragischen Konflikt zwischen Tradition und Emanzipation thematisieren müsste, wird ein Feelgood-Movie für Berliner Hipster und solche, die es gerne wären. Jahaa, wir sind so frei! Vor allem so vorurteilsfrei! Nur in Berlin ist eine Jüdin frei von den Zwängen ihres Glaubens und den Nachstellungen jener Finsterlinge mit den Schläfenlocken, Bärten und Gebetsmänteln, die offenbar ganze Stadtteile New Yorks beherrschen! ... Dass dieser Schutz und diese Freiheit sehr relativ sind; dass sich orthodoxe Juden - jedenfalls bis vor Kurzem - sehr wohl in New York City, nicht aber in Berlin frei und ohne Furcht bewegen können: Das wird in 'Unorthodox' nicht thematisiert."

Kein schmieriger Typ: Max Riemelt in "Kopfplatzen" (Bild: Salzgeber)

Auf ZeitOnline spricht der Filmemacher Savaş Ceviz über seinen (ursprünglich fürs Kino vorgesehenen, jetzt on demand ausgewerteten) Film "Kopfplatzen", in dem Max Riemelt einen pädophilen Mann spielt, der an seiner Neigung zu zerbrechen droht. Auf die Darstellung des Pädophilen als schmierig-hässlichen Außenseiter hat der Regisseur bewusst verzichtet. Ihn interessierten die Fragen: "Wie sieht das Leben solch eines Menschen aus? Und einige stellen sich die Frage: Wie lebenswert ist ein Leben, in dem du nie Sex haben darfst?" Mit dieser Idee habe er "echt keine offenen Türen eingerannt, obwohl  in unserer Branche ja kaum eine öffentliche Rede vergeht, in der nicht gesagt würde, der deutsche Film müsse mutiger werden. Da hieß es nicht selten: 'Tolles Drehbuch, aber können wir nicht machen.'"

Weitere Artikel: Für die Welt spricht Hanns-Georg Rodek mit dem Filmemacher Peter Fleischmann, der in seinem Film "Die Hamburger Krankheit" Ende der 70er die Folgen einer Seuche dargestellt hat. Andrea Diener referiert auf FAZ.net eine Studie dazu, wie Männer gegenüber den Frauen in Hollywood das Ruder an sich gerissen haben.

Besprochen werden Dante Lams derzeit auf Netflix gezeigte Actionkomödie "The Servant" (Perlentaucher), Joseph Laseys derzeit auf Mubi abrufbarer Klassiker "The Servant" von 1963 (Perlentaucher), die Netflix-Reality-Serie "Tiger King", die in den Sozialen Medien gerade sehr gefeiert wird (NZZ, Presse), die dritte Staffel der HBO-Serie "Westworld" (NZZ), Fjodor Bondartschuks auf DVD veröffentlichte Actionfilmreihe "Attraction" (Berliner Zeitung), die Amazon-Serie "Tales from the Loop" (FAZ, Simon Stålenhags fiktive Memoiren, die der Serie zugrunde liegen, bespricht der Tagesspiegel), die dritte Staffel der Netflix-Serie "Haus des Geldes" (Welt) und die Sky-Serie "The Unicorn" (FAZ).
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Bühne

Corona ist vielleicht nicht das richtige Thema für Theater, meint Schaubühnenleiter Thomas Ostermeier im Interview mit der SZ. Soziale Ungerechtigkeit aber schon. Und da erwartet er viel Stoff nach dem Ende der Corona-Krise, "wenn nach den Rettungspaketen die Sparhaushalte kommen ... Die Krise löst jetzt viel Empathie und Solidarität aus, aber ich fürchte, je länger sie dauert, desto deutlicher wird sie zur sozialen Polarisierung beitragen. Die Solidarität nach innen geht schon jetzt mit einer großen Brutalität und Mitleidlosigkeit nach außen einher. Die massiven Menschenrechtsverletzungen an der griechischen Grenze scheinen kaum jemanden zu stören. Das Virus wirkt wie ein Brandbeschleuniger, der die soziale Härte des Kapitalismus noch einmal verschärft."

Außerdem: der aktuelle digitale Spielplan der nachtkritik.
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Musik

Konrad Hummler nutzt die Zeit in der Selbstisolation, um für die NZZ die eigene Biografie im Lichte seiner Beethoven-Leidenschaft aufzuschreiben. Beethovens Siebte führte im kindlichen Alter gar zu psychedelischen Erlebnissen: "Beim vierten Satz begann meine Fantasie zu galoppieren, oder besser, es rasten nach meiner Vorstellung Elefanten über afrikanische Hügel - eine Kombination von Beethoven und Babar. Carl Maria von Weber erklärte Beethoven wegen dieses Stücks als 'reif fürs Irrenhaus'. Er hatte eben keine Vorstellung, wie schön Elefanten rasen können." Hier eine von Gustavo Dudamel dirigierte Aufführung, bei der wir auf galoppierende Elefanten im Bild leider verzichten müssen.



Außerdem: Thomas Steinfeld gratuliert in der SZ der ABBA-Musikerin Agnetha Fältskog zum 70. Geburtstag. Wolfgang Sandner schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den ungarischen Dirigenten Zoltán Peskó. Klaus Walter schreibt in der taz einen Nachruf auf die New Yorker Underground-Musikerin Cristina., die dem Coronavirus erlegen ist. Genau wie der Jazzpianist Ellis Marsalis, dem Jonathan Fischer in der SZ nachruft.

Besprochen werden Childish Gambinos neues Album "3.15.20" ("herrliches Chaos", bezeugt taz-Kritiker Johann Voigt, aber ein "neues Glover-Großereignis" stelle die Platte nicht dar), Lyra Pramuks Album "Fountain" (taz), Robot Kochs Technoalbum "The Next Billion Years" (taz) und das neue Album von Pearl Jam (Standard).

Das Logbuch Suhrkamp veröffentlicht die neue Ausgabe von Thomas Meineckes "Clip//Schule ohne Worte":

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