Efeu - Die Kulturrundschau

Kribbelnd, heiß und eng umschlungen

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06.04.2020. In Österreich beginnt heute die Maskenpflicht: Der Standard weiß: Schon bei schamanischen Riten war der Glaube an ihre magische Kraft zentral. Die SZ folgt mit Begeisterung dem Online-Parcours, mit dem die Akademie der Künste durch John Heartfields Leben führt. Die FR würde Raffael noch mehr verehren, wenn er in seine Schule von Athen auch Frauen gelassen hätte. Die Welt vermisst Rainald Goetz. Der Tagesspiegel empfiehlt Eskapismus-Fluff von Dua Lipa.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.04.2020 finden Sie hier

Kunst

Fünf Finger hat die Hand: John Heartfields Wahlplakat für die KPD. Bild: AdK
Beinahe hätte SZ-Kritiker Lothar Müller bedauern müssen, dass die erste John-Heartfield-Ausstellung seit Jahrzehnten in Berlin nicht eröffnet werden konnte, aber die Akademie der Künste hat "Fotografie plus Dynamit" nun ins Internet verlegt und "ein Lehrstück gelungener Kompensation" daraus gemacht, wie Müller begeistert feststellt, mit digitalem Ausstellungsparcours und Online-Archiv: "In fünf schmalen Kapiteln folgt der digitale Parcours der Biografie und Entfaltung des Werks vom Ersten Weltkrieg über das Berlin der Weimarer Republik, das Exil zunächst in Prag und dann in London bis hin zur Rückkehr nach Deutschland im Jahr 1950 und neuerlichen Ansiedlung in Berlin. Die visuelle Darbietung ist der Hand mit den zupackenden fünf Fingern nachgebildet, die Heartfield für ein Wahlplakat der KPD im Jahr 1928 entworfen hat. Man kann dieses Plakat auf einer Litfaßsäule anklicken. Auf den öffentlichen Raum, nicht zuletzt den Stadtraum waren die Arbeiten Heartfields von Beginn an bezogen. Sein politische Radikalismus ging aus der Erfahrung des Ersten Weltkriegs hervor, der ästhetische Radikalismus seiner Bildsprache aus den Antworten auf den Krieg bei George Grosz und in der Dada-Bewegung."

Raffael: Schule von Athen. Bild: Wikimedia
Mit Raffaels lieblichen Madonnen konnte Arno Widmann nie viel anfangen, wie er in der FR zum fünfhundertsten Todestag des Malers bekennt, die junge Mutter müsse man immer auch als das Gegenteil einer jungen Gelehrten verstehen. Aber den großen Renaissance-Künstler konnte er sehr wohl verehren: "So etwas wie 'Die Schule von Athen' hatte die Menschheit noch nicht gesehen. Es zeigt die bedeutendsten Philosophen der Antike in einer imaginären Architektur. Es zeigt sie, wie sie auf den Betrachter zukommen. Das heißt auch - und darauf kommt es an - der Betrachter geht auf sie zu. Noch zwei, drei Schritte, vorausgesetzt er schafft den Sprung nach oben, und er steht mitten unter ihnen. Es ist sogar Platz gelassen für ihn. Vorausgesetzt, er ist ein Mann. Dort oben sind nur Männer und wir müssen davon ausgehen, dass auch nur Männer in diesen Kreis zugelassen werden. Das ist kein Versehen. Es ist ein Statement." In der Berliner Zeitung würdigt Nikolaus Bernau Raffael als "einflussreichsten Künstler der Neuzeit". Im Tagesspiegel schreibt Nicola Kuhn.

Karlheinz Lüdeking erinnert in der FAZ an das berühmteste und umstrittenste Werk der Land Art, das Robert Smithson vor fünzig Jahren im Großen Salzsee von Utah schuf: Für die "Spiral Jetty" ließ er lastwagenweise schwarze Basaltbrocken in den See kippen, um eine spiralförmige Mole zu bauen, die man nur aus der Luft sehen konnte: "Nach ihrer Fertigstellung verschwand die 'Spiral Jetty' aufgrund des steigenden Wasserspiegels fast dreißig Jahre unter der Oberfläche des Sees. Erst 2002 kamen die Felsbrocken, nunmehr in einer weißen Salzkruste, wieder ans Licht."

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Literatur

Wo ist eigentlich Rainald Goetz, wenn man ihn mal wirklich, wirklich braucht, fragt sich Andreas Rosenfelder in einem offenen Brief an den Schriftsteller in der Welt. Wortmeldungen, die in ihrer Fülle den neuen Wahnsinn des Alltags fortschreibend normalisieren, gebe es zwar in Hülle und Fülle, doch "ich stelle mir vor, dass Deine Sicht eine andere ist: die Sicht des Mediziners, Historikers und Paranoikers, der die Normalität, von 'Irre' bis 'Johann Holtrop', als den eigentlichen Ausnahmezustand dokumentiert hat."

In der Welt Jan Küveler findet schlechte Gedichte weniger schlimm als schlechte Interpretationen und teilt ordentlich aus gegen Kritiker, die sich wie Carsten Otte im SWR über Till Lindemanns Band "100 Gedichte" empören, von denen eines die Ich-Perspektive eines Vergewaltigers einnimmt: "Der emanzipierte, in Kants Sinne aufgeklärte Leser liest, zuckt die Achseln und liest halt was anderes - am besten wirklich gefährliche Literatur, also die einzig gute." In der taz findet auch Julia Lorenz die Gedichte einfach nur schlecht und "in ihrer schauerromantischen Antiquiertheit bizarr bis pubertär".

Weitere Artikel: Dagmar Leupold zieht sich für ZeitOnline mit Benjamin-und Kleist-Lektüren auf ihren im Innenhof gelegenen Balkon zurück. Im Standard schreibt der Schriftsteller und Totengräber Mario Schlembach Corona-Tagebuch. In der Jungle World äußert sich Magnus Klaue äußerst ungehalten darüber, wie das literarische Feuilleton auf die Coronakrise reagiert. In der NZZ sehnt sich Claudia Mäder nach den nunmehr geschlossenen Bibliotheken, die auch die Datensilos von Google nicht ersetzen kann: "Es ist, als läge ein Teil meines Gehirns unter Verschluss." Außerdem präsentieren Dlf Kultur und die FAS die besten Krimis des Monats.

Besprochen werden Frank Witzels "Inniger Schiffbruch" (Zeit, Tagesspiegel), Ta-Nehisi Coates' "Der Wassertänzer" (54books.de), Dietmar Daths "Neptunation" und "Niegeschichte" (Intellectures), Scott McClanahans von Clemens J. Setz übersetzter Roman "Sarah" (Standard), Håkan Nessers auf Deutsch nachgereichter Debütroman "Der Choreograph" (SZ) und neue Krimis, darunter Davide Longos "Die jungen Bestien" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Werner von Koppenfels über Arthur Rimbauds "Für den Winter geträumt":

"Im Winter fahrn wir Bahn, im kleinen rosa Wagen,
mit Kissen blau bestückt.
..."
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Bühne

Maske aus Papua-Neuguinea.  © SMPK, Ethnologisches Museum
Angesichts der heute in Österreich beginnenden Maskenpflicht liefert Margarete Affenzeller im Standard eine kleine Kulturgeschichte der Maske: "Schamanische Masken (oft Tiere) sind in Höhlenzeichnungen bereits seit der Jungsteinzeit überliefert. Der Glaube an die Wesenskraft der Maske ist in allen mit ihr vollzogenen Riten und Praktiken zentral. Mit ihr werden Naturkräfte personifiziert oder Hilfsgeister simuliert, wobei der jeweilige Träger die Daseinsform gänzlich wechselte. Er wurde auch mit seinem restlichen, nicht maskierten Körper jemand anderer. Diese Vorstellung der Anverwandlung übernahm auch das aus dem religiösen Kult um den Gott Dionysos entstandene griechische Theater der Antike, dessen Piktogramm (lachendes und weinendes Gesicht) das Theater an sich symbolisiert."

Im Standard-Interview mit Stephan Hilpold rechnet Burgtheater-Direktor Martin Kušej nicht damit, in dieser Saison noch einmal das Haus zu öffnen: "Meine strategische Überlegung ist, einen scharfen, wenn auch radikalen Schnitt zu machen und im Herbst mit voller neuer Kraft zu starten. Selbst wenn wir den Spielbetrieb jetzt wieder hinbekämen, glaubt doch keiner, dass die Theater sofort wieder voll sein werden!"

Die Nachtkritik zeigt in ihrem Theaterstream heute "Medea" nach Motiven von Hanns Henny Jahnn, in einer Inszenierung von Hallimasch Komplex. Der Online-Spielplan steht hier.
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Film

Jenni Zylka wühlt sich für den Freitag durch das Angebot des neuen Streamingdienstes Disney+.

Besprochen werden Woody Allens Autobiografie "Ganz nebenbei" (Freitag), die Netflix-Kultserie "Tiger King" (Tagesspiegel), die dritte Staffel der Netflix-Serie "Ozark" (NZZ) und neue Heimmedienveröffentlichungen, darunter Robert Aldrichs "Ardennen 1944" (SZ).
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Design

Im FAZ-Gespräch erteilt Modeschöpfer René Storck der Billigmode eine klare Absage. Sie gehe immer zulasten auf mindestens eines Produktteils und habe verheerende Folgen: "Kunstfell ist das Schlimmste, was man verwenden kann. Beim Zuschneiden und Vernähen entstehen feinste Mikroplastikpartikel, die von den Arbeiterinnen eingeatmet werden und Lungenkrebs erzeugen können. Diese Pelzimitate, die, zugegeben, völlig echt wirken, können Sie im Boden vergraben und nach einhundertfünfzig Jahren wieder rausholen, und die sehen noch genauso aus. Das ist Sondermüll! ... Normalerweise läuft es so: Man macht sich mit qualitativ hochwertiger Mode einen Namen und wenn man das geschafft hat, macht man Abstriche bei der Qualität der Materialien. Dadurch erhöht man die Gewinne."
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Stichwörter: Storck, René

Musik

Mit Dua Lipas neuem Album "Future Nostalgia" lässt es sich wunderbar vor all den Zauseln flüchten, die gerade mit selbstgestrickten Corona-Konzerten in die Wohnzimmer drängen, freut sich Jörg Wunder im Tagesspiegel. Zu hören gibt es keine Experimente, aber "eine Discopop-Glücksexplosion für 37 Minuten endorphinausschüttendes Gezappel". Und vollkommen gegenwärtig aus der Zeit gefallen ist die Musik auch noch: "Schwer vorstellbar, dass das ansteckende Gefühl von Empowerment, das die Platte durchzieht, per Heimstudiogefrickel in der Selbstisolation hätte entstehen können." Da stellt sich auch Jan Kedves in der SZ die Frage: "Hört die Welt gerade viel Dua Lipa, weil sie auf keinen Fall vergessen will, wie kribbelnd und heiß und eng umschlungen das Leben wieder sein soll, sobald Corona vorbei ist?"

Dass sich hinter dem Eskapismus-Fluff eine junge Frau mit einer bemerkenswerten Biografie versteckt - sie ist als kleines Kind mit ihren Eltern aus dem Kosovo geflohen -, die zudem einiges über das Leben und die Politik erzählen kann, verrät das Interview, das Martin Scholz für die WamS mit der Musikerin geführt hat. Ihre Festivaleinnahmen fließen in eine Stiftung: "Mein großer Traum ist, in Pristina ein Kunst- und Innovationszentrum zu finanzieren. Ein Gebäude haben wir bereits gefunden, die Renovierungsarbeiten haben begonnen. Mein Plan ist, es in diesem Jahr zu eröffnen. Kinder und Jugendliche sollen die Räume und Möglichkeiten gratis nutzen können - Podcasts oder Radiosendungen erstellen, an Studiosessions teilnehmen."



Auf ZeitOnline schwärmt Jens Balzer von Arcas neuer, 62-minütiger Komposition "@@@@@" - eine ausgewachsene Menschmaschinen-Oper emanzipatorischen Ausmaßes, wie wir erfahren: Die zerbeulten Beats darauf klingen so "als drängten sie aus einem mit konvulsivischen Zuckungen zum Tanz einladenden Körper, dessen biologische Rhythmen sich in Musik verwandeln und dann wieder in Geräusche, in denen die Musik kollabiert - aber nur, um sich aus dem Kollaps stets in neuer Form zu Melodien und Harmonien zu erheben. Und die Gesänge? Stammen von der Stimme eines einzelnen Menschen, aber klingen so vielfältig, fremd, manipuliert und in den sonderbarsten Momenten auch wieder so nah, intim und wahrhaftig, als höre man einer Maschine zu, die sich in den verschiedensten Erscheinungsformen in einen Menschen zu verwandeln versucht."



Weitere Artikel: In der taz gratuliert Jens Uthoff dem Indielabel Noisolution zum 25-jährigen Bestehen. Julian Weber reicht in der taz einen Nachruf auf Bill Withers nach (weitere Nachrufe hier).

Besprochen werden Joe Muggs' und Brian David Stevens' Buch "Bass, Mids, Tops. An Oral History of Soundsystem Culture" (taz), das neue Album des Jazzbassisten Christian McBride (FAZ), Melkbellys neues Album "Pith" (Jungle World) und eine Beethoven-Aufnahme des Barockorchesters Compagnia di Punto (Freitag).
Archiv: Musik