Efeu - Die Kulturrundschau

Das Wesen der Klinke

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.04.2020. Die taz blickt beim Amsterdamer Dokumentarfilmfestival in den Maschinenraum von Algeriens Demokratie. Der Freitag besingt das Kino als öffentlichen Ort. Die SZ ahnt das Ende der Türklinke. Die FAZ wirft einen Blick in den Georg-Kolbe-Nachlass. Die Zeit bemerkt an der Debatte um Till Lindemann, wie ungleich die moralische Empfindlichkeit zwischen Pop und Literaturbetrieb verteilt ist. In der Jungle World fragt Berthold Seliger, warum die Öffentlich-Rechtlichen nicht mal junge Bands und neue Musikerinnen zeigen statt der immergleichen Rockrentner.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.04.2020 finden Sie hier

Architektur

Türdrücker. Design: Ludwig Wittgenstein, 1927
Die Kulturtechnik des Anfassens wird obsolet, ahnt Gerd Matzig in der SZ, die Zukunft wird dem kontaktlosen Öffnen von Türen gehören, oder dem berührungslosen Bedienen von Apparaten. Medizinisch sei man damit auf der richtigen Seite, aber nicht unbedingt ästhetisch. Und architekturgeschichtlich ungerecht findet Matzig den Ekel vor Türklinken auch: "Die Geschichte der modernen Türklinke verbindet sich mit vielen illustren Namen, mit Richard Riemerschmid etwa, mit Bruno Paul, Henry van de Velde oder Walter Gropius. Sogar der Philosoph Ludwig Wittgenstein hat als Hobbyarchitekt in den 1920er-Jahren für das Haus seiner Schwester Margarethe Stonborough-Wittgenstein eine Türklinke entworfen und sich dafür ein ganzes Jahr Zeit genommen. Wittgenstein hat das Wesen der Klinke gründlich durchdacht. Übrigens sah auch Rudolf Steiner in der Türklinke, die zwischen innen und außen vermittelt, die zwischen offen und geschlossen den Unterschied macht, die der Hand schmeicheln kann und doch reine Mechanik darstellt, die simpel und zugleich raffiniert ist, ein höheres Wesen am Werk."

Weiteres: In der Zeit schreibt Anne Hähnig zum Abschied von Bauhaus-Direktorin Claudia Perren deutlich wohlwollender als zuletzt Nikolaus Bernau in der Berliner (unser Resümee).
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Literatur

Ziemlich ratlos steht Zeit-Kritiker Jens Balzer vor der Twitter-Kontroverse rund um Rammstein-Sänger Till Lindemanns jüngsten Lyrikband, der auch ein Gedicht aus Ich-Perspektive eines Vergewaltigers enthält (unser erstes Resümee) - ein zweifelhaftes Spektakel, das man zuvor auch schon bei Rammstein rauf und runter hätte beobachten und anprangern können: "Sind Vergewaltigungsfantasien, wenn sie in einem Buch abgedruckt werden, skandalöser, als wenn derselbe Künstler sie vor 80.000 Zuhörern im Berliner Olympiastadion brüllt? ...  Man sieht an diesem Beispiel also vor allem, wie ungleich verteilt die moralische Empfindlichkeit in den unterschiedlichen Teilen der kulturellen Öffentlichkeit ist: Zur Taubheit im Pop gegen moralische Fragen bildet die hypernervöse Dauererregung der twitternden Literaten das komplementäre Extrem. Es ist gut, dass Debatten wie diese geführt werden. Noch besser wäre es, sie entstünden nicht erst, wenn jemand wie Till Lindemann aus den weiten Feldern der Massenkultur in das enge Gehege des Literaturbetriebs stolpert."

Außerdem: Für den Standard liest Ronald Pohl, wie Walter Benjamin Kafka las. In der SZ legt uns Martina Knoben zur Überbrückung der allgemeinen Corona-Fadesse Moebius' und Alejandro Jodorowskys Comicklassiker "Der Incal" wärmstens ans Herz. Thomas Ribi schreibt in der NZZ einen Nachruf auf den Altphilologen Klaus Bartels.

Besprochen werden unter anderem Esther Kinskys Gedichtband "Schiefern" (SZ), Ann Petrys "The Street" (Intellectures), Colm Tóibíns "Haus der Namen" (FR), Alexandru Bulucz' Gedichtband "Was Petersilie über die Seele weiß" (Tagesspiegel), Annette Pehnts "Alles was Sie sehen ist neu" (online nachgereicht von der FAZ) und Tessa Hadleys "Zwei und zwei" (FAZ).
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Film

Die Realität algerischer Politik: "Checks and Balances" von Malek Bensmaïl

Fabian Tietke empfiehlt in der taz das Onlineangebot des International Documentary Film Festival Amsterdam, das über 300 dokumentarische Arbeiten aus dem eigenen Fundus und aus anderen online zugänglichen Quellen zusammengeschnürt hat. Insbesondere Malek Bensmaïls "Checks and Balances" von 2015 kann er empfehlen: Der Film "ist angesiedelt während des Präsidentschaftswahlkampfs 2014 in Algerien, bei dem Algeriens Dauerpräsident Abd al-Aziz Bouteflika trotz eines Schlaganfalls, der ihn schwer beeinträchtigte, für eine vierte Amtszeit antrat" - und dies mit erheblichem Sendungsbewusstsein. "Eine Reihe von Nachrichtensprecher_innen im Wechsel zwischen Französisch und algerischem Arabisch führt uns in die Realität algerischer Politik. Die Kamera gleitet hinab in die Stadt. Ein Schnitt führt in die Druckerpresse der Tageszeitung El Watan. Die Aufnahmen der riesigen Druckmaschine evozieren das Bild eines Maschinenraums der Demokratie."

Der momentan erzwungene Kinoverzicht hat im Hinblick auf das Kino vielleicht ja auch sein Gutes, hofft Barbara Schweizerhof im Freitag. Denn nun zeige sich, "worauf man da gerade eigentlich verzichtet: Ins-Kino-Gehen ist so viel mehr als bloßes Filmeschauen. ... Das Kino ist zugleich große Öffentlichkeit und eine ideale Heimat für Einsame, die nicht länger zu Hause sitzen wollen, ein Ort des beiläufigen Genießens genauso wie für gemeinschaftliche Ausgelassenheit. Dieses schöne Oszillieren zwischen kollektiver Teilhabe und diskreter Dunkelheit, mit seinen Kennenlern- und Verbergungsmomenten, kann keine noch so gut bedienbare Webseite und kein Live-Twittern ersetzen."

Weitere Artikel: Für die Jungle World holt Robert Zwarg Elia Kazans Pandemie-Thriller "Panic in the Streets" von 1950 aus dem DVD-Schrank. Hanns-Georg Rodek schreibt in der Welt einen Nachruf auf die Schauspielerin Honor Blackman. Marietta Steinhart empfiehlt auf ZeitOnline den Kurzfilm-Streamingdienst Quibi. Kinozeit sammelt derweil fleißig weiter Streamingtipps - hier das mittlerweile beeindruckend umfangreiche Dossier.

Besprochen werden Florian Gallenbergers ARD-Mehrteiler "Der Überläufer" nach dem gleichnamigen Roman von Siegfried Lenz (taz, FR, ZeitOnline, Dlf Kultur und Welt haben mit dem Regisseur gesprochen) und ein Buch von Siegfried Tesches über James Bonds Autos (Tagesspiegel).
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Kunst

Georg Kolbes Tänzerin, Fotografien von Ludwig Schnorr von Carolsfeld, 1912

Das Georg-Kolbe-Museum kann endlich den Nachlass von Kolbes Enkelin Maria von Tiesenhausen sichten, berichtet Andreas Kilb in der FAZ. Die im vorigen Jahr verstorbene Tiesenhausen war in den siebziger Jahren Direktorin des Museums, hatte aber offenbar Dutzende von Umzugskisten mit wertvollen Hinterlassenschaften in ihre Wahlheimat Kanada mitgenommen. Für Kilb tut sich damit die Chance auf, endlich das Rätsel von Georg Kolbes Künstlerexistenz zu ergründen: "Seine Biografie bietet gleichsam das Gegenbild zu der des Antisemiten und Hitler-Verehrers Ernst Nolde: Während sich Kolbes Kunst, anders als die von Nolde, mit ihren muskelbepackten Jünglingen und kugelbrüstigen Germaninnen dem nationalsozialistischen Menschenbild bedenkenlos andient, bleibt seine private Existenz unbefleckt. Das ermöglicht es Kolbe, nach dem Ende des braunen Schreckens rasch an seinen früheren Ruhm wieder anzuknüpfen. Das Frankfurter Beethoven-Denkmal und der von seinem Bildhauerfreund Richard Scheibe vollendete 'Ring der Statuen' zeugen von Kolbes unverminderter Reputation nach dem Zweiten Weltkrieg."

Weiteres: Ziemlich ehrfürchtig hält Jonah Kay auf Hyperallergic den bei Steidl erschienenen Band "The Tide Will Turn" in den Händen, in dem der Fotograf Shahidul Alam Bangladeschs Protestbewegung festhält, aber auch von seiner eigenen Zeit im Gefängnis berichtet: Das Buch ist nicht nur die bildreiche Spurensuche einer Protestbewegung, sondern auch gut recherchierte Geschichte des landes aus erster Hand." Dessane Lopez Cassell empfiehlt auf Hyperallergic dringen die Workshops der New Museum Union (NuMuU) zum Thema "Rehearsing Solidarity".
Archiv: Kunst

Bühne

In der Berliner Zeitung beschreibt Peter Uehling, wie die Berliner Opern dem enormen Organisationsdruck standhalten: "Lediglich Barrie Kosky, der als hauptberuflicher Regisseur viele Leitungsaufgaben delegiert hat, kommt zum Luftholen; ihm ist in Glyndebourne eine Produktion abgesagt worden, und so lernt er, der sich früher nie an ein Haus binden wollte, die Vorteile einer festen Anstellung zu schätzen, die seine Kollegen in der Regel nicht genießen... Kosky spricht von Plan A - es geht am 20. April los -, von Plan B - verschiedene andere Öffnungstermine -, Plan C - der Rest der Spielzeit fällt aus - und Plan D - der Rest des Jahres fällt aus. Je nachdem muss dann jedoch die Planung der kommenden Spielzeiten angepasst werden. Dabei hat es die Komische Oper leicht, weil sie den überwiegenden Teil der Rollen aus dem Ensemble besetzt. Deutsche und Staatsoper setzen viel stärker auf Gaststars, deren Terminkalender auf Jahre gefüllt sind."

Weiteres: Im Stream der Nachtkritik gibt es heute Abend Florian Fiedlers Inszenierung "Das Recht des Stärkeren", hier geht es zum Online-Spielplan der Nachtkritik und hier zu ihrem neuen Programm fürs Kinder- und Jugendtheater.
Archiv: Bühne

Musik

Berthold Seliger kann sich in der Jungen Welt so gar nicht darüber freuen, dass 3sat am kommenden Wochenende sein Programm komplett der Musik widmet: Die Muskeln, die der öffentlich-rechtliche Sender hier endlich einmal spielen lassen könnte, sind längst atrophiert - so gibt es vor allem von der Industrie kostengünstig zur Verfügungen gestelltes wiedergekäutes und altbekanntes Material, kritisiert er. "Die Eintönigkeit, der fehlende Mut, die Marktgängigkeit des herrschenden Musikbiedermeier - all das ist den öffentlich-rechtlichen Musiksendungen durch die von den Musikkonzernen vorgegebenen Herstellungs- und Produktionsbedingungen quasi in die neoliberalen Gene eingeschrieben. Wäre es nicht gerade jetzt, wo die meisten Musiker aufgrund der Konzert- und Tourneeabsagen in wirtschaftlicher Not sind, an der Zeit, dass Kultursender wie 3sat sich ihrer gesellschaftlichen und kulturellen Verpflichtung besinnen und statt der Konzerte altvorderer Rockrentner junge Musiker, neue Bands und spannende kleinere und mittlere Konzertproduktionen in ihr Programm hieven? Und, mindestens genauso wichtig: die Musiker ordentlich bezahlen und dadurch fördern?"

Außerdem: Sehr energisch verteidigt Jürgen Kesting in der FAZ das Hören klassischer Musik in den eigenen vier Wänden gegen "die ad nauseam wiederholte Polemik gegen den 'Warencharakter' aller technisch reproduzierten Musik." Christiane Peitz empfiehlt im Tagesspiegel Igor Levits Beethoven-Podcast auf BR-Klassik. In der FAZ gratuliert Jan Brachmann dem Filmkomponisten Vladimir Cosma zum 80. Geburtstag. Karl Fluch schreibt im Standard zum Tod des einflussreichen Singer-Songwriters John Prine, der im Alter von 73 Jahren dem Coronavirus erlegen ist. Sein großer Hit war "John Prine":



Besprochen werden das Album "AmarElo" des braslianischen Hiphop-Stars Emicida, der damit eindeutig gegen Bolsonaro Position bezieht (taz), Rustin Mans Album "Drift Code" (NZZ), Paars Album "Die Notwendigkeit der Notwendigkeit" (SZ) und neue Popveröffentlichungen, darunter das neue Album des früheren Kyuss-Gitarristen Brant Bjork, der sich wie seine alte Band auf verkifften Doom- und Wüstenrock-Pfaden bewegt (SZ).

Archiv: Musik