Efeu - Die Kulturrundschau

Überlebensklugheit

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09.04.2020. Die NZZ findet in Corona-Zeiten Trost und Erleuchtung in Godfrey Reggios Experimentalfilm-Klassiker "Koyaanisqatsi". "Lest! Lest! Lest! Lest Boccaccio", rät dagegen der Kulturphilosoph Robert Harrison. Zeit online entkommt dem Schrecken der Isolation mit Tocotronic. Monopol bewundert die perfekt ausgeleuchteten Körper Robert Mapplethorpes. Architectural Digest besucht die 1968 von Sergio Los und Carlo Scarpa erbaute, zartrosa glühende "Casa Tabarelli". Der Tagesspiegel liest sich im Multimedia-Onlinemagazin Präposition fest. Hört auf mit dem Streamen, ruft die taz den Theatern und der nachtkritik zu.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.04.2020 finden Sie hier

Film

Paul Jandl denkt in der NZZ mit sehr erhitztem Gemüt darüber nach, wie Krisen die Fantasie und Narrative anheizen und stößt dabei in der Rückschau auch auf Godfrey Reggios monumentalen Experimentalfilm-Klassiker "Koyaanisqatsi", der in Zeitlupe und Zeitraffer den rasenden Stillstand der industrialisierten Welt zeigt: "Die amerikanischen Highways sind die Blutbahnen des modernen Lebens. In den Wolkenkratzern stapeln sich nachts die beleuchteten Fenster. Es sind Zellstrukturen wie im menschlichen Körper. Dass wir heute monadenhaft in den Zellen unserer Behausungen leben müssen, bis die Krise vorbei ist, ist vielleicht eine ironische Fortschreibung solcher Bilder."



Außerdem: Frankreich tröstet sich mit Louis de Funes im Fernsehen über die Coronakrise hinweg, berichtet Jürg Altwegg online nachgereicht in der FAZ. Arte hat kürzlich einen spielfilmlangen Dokumentarfilm über den französischen Komiker online gestellt:



Besprochen werden Hari Samas on demand ausgewerterter Film "This is not Berlin" über die Underground-Szene in Mexiko (Tagesspiegel) und Rebecca Zlotowskis auf DVD veröffentlicher Film "Ein leichtes Mädchen" (Berliner Zeitung).
Archiv: Film

Bühne

Seit die Corona-Krise die Theatertüren verschlossen hat, versuchen Theater und auch die Webseite nachtkritik mit Online Spielplänen und Streamingangeboten das Publikum zu halten oder sogar neues zu gewinnen. In der taz ist Uwe Mattheiss entsetzt: Hört mit dem Streamen auf, ruft er Richtung nachtkritik. Ihn stört der "Kleinunternehmerinstinkt" von Theaterleuten, die mit dem Streaming um Aufmerksamkeit buhlen wollten, ohne etwas zu verdienen: "Was treibt Geschädigte der Gig-Ökonomie dazu, ihr Heil in weiteren Gigs zu suchen? Digitale Plattformen sind weder egalitär noch wertneutral, sie entwickeln eine Tendenz zur Monopolisierung ihrer Märkte, sind ihrem Content gegenüber indifferent, solange er ihnen nicht ausgeht, und sie treiben die Ausbeutung des produktiven Vermögens der Arbeitenden nur noch weiter. Wenn jetzt Plattformen für digitales Theater Künstler*innen anbieten, zu einer Art von künstlerischen Uber-Fahrern zu werden, sollte man sie ebenso verklagen wie die Taxibranche aller Länder das kalifornische Unternehmen."

Weitere Artikel: Für die Theater war's das wohl mit dieser Spielzeit, fürchtet Tobi Müller auf Zeit online. Ob es danach besser wird? Er hat bei einigen Theatern nachgefragt, aber nach der Krise ist vor der Krise: "Den Theatern steht nach der Krise eine Entschleunigung bevor, die nichts mit der in Corona-Zeiten so kitschig beschworenen neuen Achtsamkeit zu tun hat: Es droht eine Schrumpfkur der brutalen Sorte." Im vierten Teil der nachtkritik-Reihe "Inside Endzeit" widmen sich Lynn Takeo Musiol und Christian Tschirner dem "Verblendungszusammenhang der postmodernen Theaterkunst und ihrer konstruktivistischen Wissenschaftstheorie". FAZ-Theaterkritiker Simon Strauss gratuliert seinem Vorgänger Gerhard Stadelmaier zum Siebzigsten.
Archiv: Bühne

Architektur

Die französische Ausgabe von Architectural Digest hat die "Casa Tabarelli" besucht, die der Architekt Sergio Los und Carlo Scarpa 1968 zusammen gestaltet hatten. Von außen ist es ein irgendwie unspektakulärer, leicht verhutzelt wirkender Bau. Aber die 70er-Jahre Betonästhetik erhält einen spektakulären Kick durch die rosa Farbe des Gebäudes. Rosa Beton wollte Scarpa auch innen, und gelb und türkis und blau: "Im Inneren greift der Architekt auf örtliche Handwerker zurück und schafft für die Wände einen zartrosa Beton aus zerkleinerten Ziegelsteinen. Die Decken sind aus Stuck, jede Farbe ist durchdacht: Rosa, Gelb, Blau... verrückte Schattierungen, die je nach Licht zu verschiedenen Tageszeiten variieren. Der Boden besteht aus lokalem Stein ohne Fugen, was damals töricht war und eine ungeheure Freiheit des Tons zeigte. Und überall diese großen Öffnungen im Erdgeschoss oder bis zum Dach, mit schrägen, geometrischen Ausschnitten, ohne minimalistisch zu sein."

Joseph Hanimann unterhält sich für die SZ mit dem Kunsthistoriker Jean-Michel Leniaud über den Wiederaufbau von Notre-Dame, der sich wegen der Corona-Krise stark verzögert. Leniaud plädiert für eine vollständige Rekonstruktion einschließlich des Wiederaufbaus des eingestürzten Turms von Viollet-le-Duc, der erst im 19. Jahrhundert angebaut worden war: "Am besten sollten wir das so machen wie die Italiener bei der Restaurierung der Grabtuchkapelle nach dem Brand im Turiner Dom, meint Leniaud: 'Sie ließen zuerst die Architekten quer durchs Land sich mit Visionen austoben und entschieden sich dann für eine originalgetreue Restaurierung'. Ein begehbares Glasdach, hängende Gärten oder Laserstrahltürme über Notre-Dame kann man also vergessen. ...  Kühner und zeitgemäßer als das Experimentieren mit Formen und Materialien, meint Leniaud, wäre die Suche danach, wie man die Hilfsmittel des digitalen Zeitalters für die Tradition klassischer Konstruktionen nutzbar macht."

Außerdem: Gebrannt hat es am Mittwoch morgen auch im frisch errichteten Humboldt-Forum in Berlin. Aber die Sache ist glimpflich ausgegangen, versichert Rainer Haubrich in der Welt. Nur Teile der Fassade wurden geschwärzt.
Archiv: Architektur

Kunst

Robert Mapplethorpe, "Ken Moody", 1985. Courtesy of Galerie Thomas Schulte, Berlin, © Robert Mapplethorpe Foundation


In der Berliner Galerie Thomas Schulte kann man sich derzeit (nach Vereinbarung) die "XYZ Portfolios" Robert Mapplethorpes ansehen. Bei monopol erinnert Sebastian Frenzel daran, welchen Skandal Mapplethorpe in den späten 80ern mit seinen perfekt ausgeleuchteten schwulen Inszenierungen auslöste. Und heute ist es kaum besser, meint Frenzel angesichts der Diskussionen etwa um Mapplethorpes "Black Male"-Serie: "Mapplethorpes Ansatz ist brutal in dem Sinn, dass Ästhetik darin in fast schon riefenstahlscher Manier stets Vorrang vor Moral und Ethik hat. ... Heute könnte Mapplethorpes einst von rechten Spießern bekämpftes Werk bei linken Aktivisten aufstoßen. Der Künstler Glenn Ligon setzte sich bereits Anfang der 90er in seinen 'Notes on the Margin of the Black Book' kritisch mit der Serie und ihrer Darstellung von Sexualität und Ethnizität auseinander. Noch vor ihm erhob der Kunsthistoriker Kobena Mercer den Vorwurf des 'racial fetishism': Mapplethorpe degradiere die Individuen vor seiner Kamera zum Lustobjekt, und er bediene dabei alle Stereotype des muskulösen, hypersexualisierten schwarzen Mannes."

Weitere Artikel: Ebenfalls bei monopol erinnert Jens Hinrichsen an den vor 190 Jahren geborenen Foto-Pionier Eadweard Muybridge, Leonie Wessel findet Ambivalenzen des Zu-Hause-Bleibens in den Bildern von Malern um 1900, und Elke Buhr empfiehlt Künstlern, keine Angst davor zu haben, "dass die Kunst sich selbst entwertet durch die Flut an Umsonstangeboten in der digitalen Sphäre, sind unberechtigt. Das digitale Dauerfeuer erzeugt weniger Abhängigkeit als Überdruss, es facht die Sehnsucht nach dem echten Erlebnis an, dem Werk in der analogen Sphäre." Stefan Trinks betrachtet für die FAZ den Kloster Mondseer Altar, über dessen Schöpfer so wenig bekannt ist, dass er nur "Meister von Mondsee" genannt werden kann, und staunt über die "'judenfreundlichen' Szenen", zu denen das Mittelalter auch imstande war.
Archiv: Kunst

Literatur

"Lest! Lest! Lest! Lest Boccaccio", rät uns der Kulturphilosoph Robert Harrison im NZZ-Gespräch über die momentane Krise: Das "Dekameron" ist für Harrison "das Buch der Stunde", denn "es feiert nicht den Eskapismus oder das Vergnügen angesichts der Katastrophe, nein, es feiert die Lebensklugheit, die zugleich eine Überlebensklugheit ist." Das darin erzählte "Erzählen ist die menschliche Immunreaktion auf eine gleichermaßen physiologische wie eben soziologische Krise. Auf diese zweite Bedeutung fokussiert Boccaccio, und sie wird heute, im Zeichen des Coronavirus, viel zu wenig bedacht", denn "wer erzählt, der ordnet, und er teilt mit, das heißt: Er teilt mit anderen. Kurzum, die zehn jungen Leute nehmen das Schicksal in ihre Hände, indem sie die Kunst des Geschichtenerzählens praktizieren - und sich dadurch dem Chaos entgegenstellen, in das sich die Welt verwandelt." Dazu passend durchforstet Daniel Graf in einem großen Republik-Essay die Epidemie-Klassiker aus der Weltliteratur.

Ganz wunderbar findet Gregor Dotzauer (Tagesspiegel) das Multimedia-Onlinemagazin Präposition, das von einem 2016 gegründeten Kollektiv betrieben wird und sich auf tiefgehende Gespräche in Wort und Bild mit Intellektuellen zwischen literarischem und akademischen Leben spezialisiert hat und zudem "durch die luftige, großzügige Gestaltung glänzt: Printtugenden und digitale Möglichkeiten in selten trauter Einigkeit." Zu lesen gibt es dennoch reichlich: Allein die Lektüre des Gesprächs mit Marlene Streeruwitz dürfte wohl abendfüllend sein. Als Video: Auszüge des Gesprächs mit der Schriftstellerin Kerstin Preiwuß.



Auf 54books rät Till Raether insbesondere in den Coronatagen zur Wiederentdeckung der Romane von Shirley Jackson: "'Virginia Werewoolf' hat ein früher Kritiker Jackson wegen ihrer anspruchsvollen Gruselromane genannt, in den Fünfzigern für viele ein Widerspruch in sich. Jacksons wichtigste Romane handeln davon, wie Menschen sich in einer feindlichen Umgebung hinter verschlossene Türen zurückziehen und dort versuchen, nach ihren eigenen Regeln zu leben. ... In Jacksons Texten ist immer Lockdown, für sie ist social distancing die einzige Verhaltensweise, um in einem feindlichen Universum zu überleben und zu navigieren. Das Bedürfnis nach Selbst-Isolation ist die Default-Einstellung ihrer Figuren."

Weiteres: Für die FAZ wirft die Schriftstellerin Ilma Rakus einen Blick durch ihr "Fenster zur Welt". In der FR erzählt Arno Widmann von En-hedu-anna, einer vor 4000 Jahren gestorbenen sumerischen Priesterin und der erste Texte hinterlassende Mensch, den wir namentlich kennen. Das kollektive Corona-Tagebuch der 54books-Crew geht in die siebte Runde. Die Jungle World liefert Lukas Sarvaris Nachruf auf Albert Uderzo online nach.

Besprochen werden unter anderem Hilary Mantels "Spiegel und Licht" (taz), Jean-Marie Gustave Le Clézios "Alma" (SZ), Mariam Kühsel-Hussainis "Tschudi" (FR), J. M. Coetzees "Der Tod Jesu" (taz), Katharina Herrmanns "Dichterinnen & Denkerinnen. Frauen, die trotzdem geschrieben haben" (Dlf Kultur), Ismail Kadares "Geboren aus Stein" (online nachgereicht von der FAZ) und Martin Panchauds Comic "Die Farbe der Dinge" (FAZ).
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Musik

Hin und weg ist Jens Balzer auf ZeitOnline von "Hoffnung", einem neuen, zur Coronakrise veröffentlichten Stück von Tocotronic:"Es handelt von der unfreiwillig erfahrenen Isolation, in der wir jetzt leben, und von der Angst, die sie in uns erzeugt. Es beschönigt nichts und bietet keine falsche Flucht in die Fantasie, dass irgendetwas an unserer verzweifelten Lage die Welt zum Besseren zu verwandeln vermag. Hoffnung ist ein sehr schwarzes Lied und gerade deswegen ist es doch eines, das echten Trost stiftet." Es geht auch um den "Schrecken der Isolation und dier Angst, die sie in uns erzeugt. Aber 'Hoffnung' handelt auch von dem nicht zu erstickenden Wunsch, aus dieser Isolation und dieser Angst zu entkommen; von dem Wunsch, sich davon nicht zum Verstummen bringen zu lassen, sondern offen zu bleiben für die Zusammenhänge der Welt und den Zusammenhang mit anderen Menschen."



Weitere Artikel: "Wenn Musik Alkohol wäre, wäre ich jeden Tag betrunken", gibt Daniel Barenboim im (ansonsten sehr ernsten) SZ-Gespräch mit Julia Spinola über Beethoven zum Besten. Unter anderem Beethovens "Diabelli-Variationen" wird er in den kommenden Tagen im Berliner Boulezsaal für einen Live-Stream spielen. In der Welt spricht Manuel Brug mit Michael Maul über das abgesagte Bachfest in Leipzig (als kleiner Trost wird am morgigen Karfreitag "via MDR und Facebook" eine "sehr spezielle Fassung der Johannes-Passion" gestreamt). Cigdem Toprak hat für die Welt nachgesehen, wie der Gangsta-Rap sich in der der Coronakrise verhält: Die einen geben Verhaltenstipps, die anderen streuen Verschwörungstheorien. In der Berliner Zeitung erinnert Michael Ossenkopp an die Auflösung der Beatles heute vor 50 Jahren. Frank Junghänel (Berliner Zeitung), Jonathan Fischer (SZ) und Jan Wiele (FAZ) schreiben Nachrufe auf den US-Liedermacher John Prine. Ebenfalls einem Corona-Infekt erlegen ist der Produzent Hal Willmer, dem Andreas Busche (Tagesspiegel) und Eric Facon (NZZ) nachrufen.

Besprochen werden Waxahatchees neues Album "Saint Cloud" (Berliner Zeitung) und das neue Album der Strokes (Tagesspiegel).
Archiv: Musik