Efeu - Die Kulturrundschau

Die Tinte in der Milch

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.04.2020. Die SZ beobachtet entgeistert, wie Hamburg die schönsten Pläne für das Grasbrook-Quartier in der Elbe versenkt. In der FR plädiert der Architekt Jürgen Engel für den Erhalt der Frankfurter Bühnen: Der Bau kann bleiben, wenn die Intendanz geht. In der FAS erzählt die chilenische Dichterin Andrea Brandes, wie sie im Gefängnis Poesie lehrte. Im Freitag spricht Roberto Saviano über seine Serie "ZeroZeroZero" und den Kokainhandel. Die Berliner Zeitung erkundet die Ikonisierung der Maske. Und die taz lernt von Gernot Wieland, wie man beim Nachstellen von Kristallen die Traurigkeit vertreibt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.04.2020 finden Sie hier

Architektur

Rechtecke für Grasbrook. Bild: Herzog & de Meuron

Seit fast zwanzig Jahren will Hamburg das südliche Elbquartier, den Grasbrook, bebauen. Am Wochenende wurde der städtebauliche Wettbewerb entschieden, für den dänische oder schwedische Teams fantastische Pläne vorgelegt hatten, wie Till Briegleb in der SZ versichert, mit belebten Stadträumen, speziellen Orten und besonderen Sichtbeziehungen: "Und dann gab es ein Tandem, das nichts davon vorschlug. Und das hat am Ende gewonnen. Die Idee, mit der die Schweizer Architekten der Elbphilharmonie, Herzog & de Meuron, zusammen mit dem Züricher Landschaftsarchitekten Günther Vogt die Jury unter Leitung des Architekten Matthias Sauerbruch überzeugten, ist das Rechteck für alle Lebenslagen. Eine große, öde Grünfläche im Zentrum des Gebiets, die an New Yorks Central Park erinnern soll, aber ein Bruchteil so groß ist, wird gesäumt von planen Klötzchenstrukturen, stehend, liegend, zu Großblöcken gruppiert."

Sieh an, auch Bundes-Primus Bayern hält weder Budgets noch Zeitpläne ein, bemerkt Patrick Gruyton in der taz: "Gerade Ministerpräsident Markus Söder von der CSU spottete einst immer wieder über den Berliner Flughafen. Die Botschaft: Bei uns in Bayern würde so etwas nicht passieren. Das Deutsche Museum, zum Zeitpunkt seiner Errichtung das Museum der Moderne schlechthin, sollte ursprünglich für 445 Millionen saniert werden, Beginn der Arbeiten war der Oktober 2015. Mittlerweile ist man bei 745 Millionen angelangt." (Von 2,2 Milliarden auf über 7 Milliarden wie der BER ist allerdings noch eine etwas andere Steigerung)
Archiv: Architektur

Kunst


Gernot Wieland, Ink in Milk, 2018, Foto: Salzburger Kunstverein

Der Salzburger Kunstverein stellt seine Ausstellung des österreichischen Künstlers Gernot Wieland online, aber schön nüchtern gehalten, ohne digitales Brimborium, freut sich Julia Gwendolyn Schneider in der taz. Zu sehen gibt es eine Fotoserie zu Österreichs Angstzuständen und verschiedene Videos wie "Ink in Milk", in dem das Nachstellen von Kristallen gegen die Traurigkeit hilft: "Nicht nur der Junge und sein Onkel stellten mit akrobatischen Verrenkungen Kristalle dar, das ganze Dorf wurde angesteckt. Keiner arbeitete mehr, die Kühe verschwanden, die Natur nahm Überhand. Für Wieland heißt das: 'Die Strukturen der Unterdrückung brechen zusammen, weil es durch die Imitation der Kristalle zu einer Form des Erkennens kommt.' Mit seinen poetischen Interventionen kommentiert der Künstler gesellschaftliche Machtverhältnisse. Die Tinte in der Milch, von der der Filmtitel zeugt, ist ein anderes großartiges Bild dafür. Die Kinder kippten Tinte in ihre Schulmilch. Zur Strafe mussten sie sie trinken, aber im Erbrochenen blieben zu Wielands Freude die 'tanzenden Tiere' aus der Tintenmilchmischung am Leben."

Für die FAZ besucht Ulf Meyer das neue Munch-Museum in Oslo, das fünfmal so groß ist wie sein Vorgänger und nach Meyers Dafürhalten nicht unbedingt der Kunst Edvard Munchs entspricht: "Für einen Künstler, dessen berühmtestes Zitat lautet: 'Krankheit, Wahnsinn und Tod waren die Engel, die meine Wiege umgaben und die mir mein ganzes Leben lang gefolgt sind', scheint das neue Munch-Museum architektonisch ein wenig zu grob und kalt geraten zu sein."

Besprochen werden eine Ausstellung des Fotografen Peter Bialobrzeski in der Galerie Albrecht (Tsp) und die "perfekt skandalösen" Bilder des Fotografen Robert Mapplethorpe in der Berliner Galerie Thomas Schulte (FR)
Archiv: Kunst

Literatur

Für die FAS sprach Elena Witzeck mit der chilenischen Dichterin Andrea Brandes, die sich in ihrer Heimat mit Inhaftierten getroffen hat, um mit ihnen Gedichte zu schreiben: "Es gab Männer, die konnten weder schreiben noch lesen, die saßen einfach da oder erzählten. Andere waren überdurchschnittlich gebildet. Alle kamen wieder. Zu Beginn war die vorherrschende Meinung, es gebe Worte, die Männer wie sie nicht in den Mund nehmen dürfen. Es stellte sich dann aber heraus, dass einige vertretbar sind, wenn sie Dichter wie Neruda schon benutzt hatten."

Online nachgereicht, schreibt der iranische Schriftsteller Amir Hassan Cheheltan in der FAZ-Reihe "Mein Fenster zur Welt" über die Bekanntschaft, die seine Frau und er mit zwei Jungs geschlossen haben, die in der Nachbarschaft die Mülleimer ausräumen. Seit Beginn der Quarantäne "seilte meine Frau in einem Plastikkorb Mundschutzmasken und Gummihandschuhe für die beiden ab. Das tun wir bis heute. In jüngster Zeit legt sie auch zwei kleine belegte Brote dazu, die die beiden mit Genuss verspeisen, bevor sie sich an die Arbeit machen."

Weiteres: Vielleicht gehen wir aus der Corona-Krise ärmer, aber "menschlicher" hervor, hofft in der NZZ der bulgarische Schriftsteller Georgi Gospodinov. Manch einer sieht das jetzige Corona-Szenario in Juli Zehs "Fitness als Bürgerpflicht"-Dystopie "Corpus Delicti" von 2009 bereits vorhergesehen. Eine Prophetin ist die Autorin allerdings nicht, schreiben Christian Geyer und Patrick Bahners in der FAZ: "Trotz mancher Anklänge des Romans an die aktuelle Situation, was die Risiken eines prinzipiell uferlosen Präventionsgedankens angeht, überwiegen in der Sache die Unterschiede." In den "Actionszenen der Weltliteratur" erinnert Marc Reichwein daran, wie Kafka sich einst die Spanische Grippe einfing. Das kollektiv geführte Corona-Tagebuch von 54books erreicht die achte Lieferung. In der NZZ schreibt Wilhelm Droste zum 70. Geburtstag Peter Esterhazys.

Besprochen werden eine in den kommenden Tagen urgesendete Hörspieladaption des SWR und DLFs von Thomas Pynchons Opus Magnum "Die Enden der Parabel" (Intellectures), Marion Poschmanns "Nimbus" (taz), Hilary Mantels "Spiegel und Licht" (Standard), die Wiederauflage von Vicki Baums erstmals 1951 veröffentlichtem Roman "Vor Rehen wird gewarnt" (Tagesspiegel), die Werkausgabe Jiří Gruša (NZZ), Léon Bloys "Diesseits von Gut und Böse" mit "Briefen, Tagebüchern, Prosa" (Zeit), Simone Hirths "Das Loch" (Presse), Oleksij Tschupas "Märchen aus meinem Luftschutzkeller" (Standard), Nora Gantenbrinks Debüt "Dad" (Tagesspiegel),
Archiv: Literatur

Design

Innenarchitekt und Designer Alfredo Häberli spricht in der NZZ über die Herausforderungen des Tischegestaltens in Zeiten von Home Office. Dieser Bedarf dürfte in absehbarer Zeit nochmal steigen, denn er ist sich sicher: "Die derzeitige Situation wird die stagnierende Veränderung in der Büroorganisation enorm beschleunigen. Mit dezentralisiertem Arbeiten können Arbeitgeber teure Büroflächen einsparen. Arbeitsplätze werden noch flexibler und vielfältiger werden. Wir erleben nun das Co-Working-Experiment der Stunde und erkennen jetzt schon: Menschliche Begegnung wird für unsere Psyche wichtig bleiben."

Seit der Pestepidemie in der Mandschurei von 1910 ist das Tragen von Masken in Asien geläufig, die Luftverschmutzung und der Ausbruch von Sars haben aus dem medizinischen Hilfsmittel allerdings auch eine soziale Ikone gemacht, schreibt Susanne Lenz in der Berliner Zeitung: "Doch kann man auch aus medizinischen Gründen getragene Masken in einen kulturellen Kontext stellen, denn auch sie haben eine repräsentative Funktion, sind  ein Mittelding zwischen medizinischem Hilfsmittel und sozialer oder kultureller Ikone. Christos Lynteris, Medizinanthropologe an der schottischen Universität St. Andrews, schreibt 2018 über die von Wu Liande erfundenen Anti-Pest-Masken, sie hätten ihre Träger nicht nur vor einer Infektion geschützt, sondern diese seien zusammen mit ihrer sozialen Umgebung in eine Darstellung medizinischer Vernunft und hygienischer Moderne eingebunden worden." Im Tagesspiegel erkundigt sich Nicola Kuhn in der Ethnologie über die Bedeutung von Masken

Archiv: Design

Bühne

Shakespeares Complete Works. Bild: Forced Entertainment

Streaming
ist mehr als nur eine Verlusterzählung, beharrt Christian Rakow in einer etwas akademischen Intervention in der Nachtkritik: "Die Netzpraktiken (Chat, Mash-up), die das visuelle Zitat des Theaterereignisses aufladen, statten es mit neuem Kontext aus, verwandeln die Repräsentation (das bloße Senden) in Interaktion (Spiel / Verarbeitung / Verwandlung). Und 'Interaktion' ist natürlich der Schlüssel, um über Theater im Netz nachzudenken (Grawinkel-Claassen). Gesucht sind fraglos mehr Theaterstücke, die sich diesen Netzmöglichkeiten auch in der eigenen Genese bewusst sind. 2015 streamte nachtkritik live die Performancereihe Shakespeares Complete Works von Forced Entertainment (im Rahmen des Festivals 'Foreign Affairs' der Berliner Festspiele). Bis heute scheint mir diese Arbeit richtungsweisend. Weil Forced Entertainment in ihrer Inszenierung den strukturellen Zitatcharakter der gesamten Unternehmung und des Streams antizipierten."

Im FR-Interview plädiert der Architekt Jürgen Engel für den Erhalt der Frankfurter Bühnen und einen zurückhaltenden Umbau, der die erforderliche neue Technik einbaut, aber Bühnen und Zuschauerräume erhält, vor allem aber das wunderbare Foyer dieses strahlend bescheidenen Baus: "Ich denke, die Stadt sollte den gesamten finanziellen Rahmen von bis zu 900 Millionen Euro überdenken. Die Intendanz und die Verwaltung sollten aus dem Haus heraus an einen anderen Ort verlegt werden. Auch die Werkstätten gehören dort nicht hin. Ich würde die Bühnentechnik mit den großen Bühnen von Oper und Schauspiel sanieren, aber nicht grundsätzlich in Frage stellen."

Hier gibt es den Online-Spielplan der Nachtkritik, die in ihrem Stream heute Abend "Der Reisende" nach Ulrich Alexander Boschwitz zeigt, und hier die Kulturtipps des Tagesspiegels.
Archiv: Bühne

Film

Dick im Geschäft: Die Serie "ZeroZeroZero" seziert den Handel mit Kokain (Bild: Sky)

Für den Freitag spricht Thomas Abeltshauser mit dem Beststeller-Autor Roberto Saviano und dem Regisseur Stefano Sollima über die gemeinsam nach einem Buch von Saviano gestaltete Serie "ZeroZeroZero", die die Mechanismen des Kokainhandels aufspießt. Im Gespräch bekräftigt Saviano seine Ansicht, dass der Kokainhandel eine mächtige Säule der internationalen Wirtschaft darstellt und eine Legalisierung den Nutznießern gar nicht in den Kram passen würde: "Der weltweite Handel mit illegalen Substanzen lässt sich durchaus mit der Ölindustrie vergleichen. Alleine die Wertsteigerung, die ein Kilo Kokain im Laufe seines Vertriebswegs erfährt, ist gigantisch. ... Nehmen wir an, Sie haben ein Kilogramm reinstes Kokain, von der Qualität Zero Zero Zero, das ergibt 3.000 Gramm Handelsware und lässt sich leicht auf vier Kilo strecken. Auf der Straße kann man es dann für rund 300.000 Euro verkaufen. Wäre diese Gewinnmaximierung auf legale Weise möglich? Wohl kaum."

Außerdem: Für The Quietus erinnert sich Blaise Radley an Akira Kurosawas Klassiker "Rashomon", der vor 70 Jahren in die Kinos kam. Besprochen wird eine von Arte online gestellte Doku über Stanley Kubrick (FR).
Archiv: Film

Musik

Völlig fasziniert berichtet Julian Dörr in der SZ von den Klanggenüssen, die der Experimentalkünstler Yves Tumor - einst im Ambient gestartet, längst beim exzessiven Bombast angekommen - auf seinem neuen Album "Gospel for a New Century" kredenzt: "Eine Idee jagt die nächste, sie strahlt auf oder klatscht gegen die Wand. Es ist Verschwendung, der große Verschleiß. Auf 'Identity Trade' quietscht und quäkt ein Saxofon, kaum wahrzunehmen hinter der dreizehnten Soundspur. 'Dream Palette' explodiert quasi schon beim Aufprall, das Schlagzeug poltert die Treppe runter, eine Gitarre malträtiert eine einzelne Note und ein ganzes Bataillon Feuerwerkskörper fliegt in die Luft. ... Hier wirft sich einer gegen die Käfige, von Genres, von Musik, vom Leben. Jede Kreissägengitarre ein Aufschrei, ein Aufbegehren. Das Ergebnis ist: buchstäblich revolutionärer Pop." Wir hören interessiert rein:



Volker Hagedorn erkundigt sich für die Zeit beim Ensemble Modern nach dem Stand der Dinge in der Coronakrise. Gut sieht es für die Musikinstitution derzeit nicht gerade aus: "Vom Jahresetat müssen sie drei Viertel selbst erwirtschaften, ein Viertel sind institutionelle Zuwendungen, Rücklagen dürfen sie keine bilden. Allein bis Mitte April brechen dem Ensemble 250.000 Euro an Einnahmen weg. 'Wir müssen zwingend mit der Politik über das Zuwendungsrecht und das Rücklagenverbot sprechen', sagt Christian Fausch, seit vier Jahren mit der Geschäftsführung und dem künstlerischen Management betraut."

Weiteres: Na gottlob gibt es Youtube, wie sonst bekäme man die Seiten voll: In der SZ erinnert jedenfalls Sonja Zekri daran, wie Rudi Carrell 1979 das Alexandrow-Ensemble, den Chor der Roten Armee, bei sich im Fernsehen begrüßte: "Da ist alles drin, ein Lachen, ein Augenzwinkern sogar, vielleicht sind die Russen doch Menschen."



Besprochen werden die neuen Alben von Oehl und Die Sterne, deren Bandleader Frank Spilker sich dafür eine neue Allstar-Band zusammengewürfelt hat (Freitag), eine Wiederveröffentlichung von Pharoah Sanders' "Live in Paris (1975)" (Pitchfork), ein der Lyrikerin Mascha Kaléko gewidmetes Album der Berliner Liedermacherin Dota Kehr (Tagesspiegel), diverse Musikveröffentlichungen, darunter Tony Allens und Hugh Masekelas Album "Rejoice" (FAZ-Kritiker Ulrich Rüdenauer bezeugt das "Dokument eines späten Gipfeltreffens"), und neue Klassikveröffentlichungen, darunter eine Aufnahme der beiden Klavierkonzerte Ernst von Dohnányis durch die Deutsche Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz unter Ariane Matiakh ("das macht einfach nur Spaß", meint SZ-Kritikerin Julia Spinola).
Archiv: Musik