Efeu - Die Kulturrundschau

Kurbeltelefone und Morsezeichen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.04.2020. Der Tagesspiegel feiert den tschechischen "Tenore di grazia" Petr Nekoranec, der so unnachahmlich französisch singt. Die SZ hört den Pianisten Daniil Trifonov, der seine Isolation in der Dominikanischen Republik für ein Konzert nutzt (nur online, versteht sich). Die FAZ untersucht die Matrix des Erotischen in der Musik. Der Freitag hört Klaus Buhlerts Hörspiel zu Thomas Pynchons Klassiker "Gravity's Rainbow" - knallende Champagnerkorken und tuckernd ölige Sherman-Tank-Motoren inklusive. Die taz würdigt die verstorbene französische Filmemacherin Sarah Maldoror.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.04.2020 finden Sie hier

Bühne

Im Tagesspiegel feiert Frederik Hanssen den tschechischen "Tenore di grazia" Petr Nekoranec, der gerade sein Debütalbum mit Arien aus der französischen Romantik herausgebracht hat. "Eine pure Freude", ruft Hanssen. "Er will der besonderen Klangästhetik der Franzosen nahekommen, bei dem sich der Gesang möglichst natürlich aus der Sprachmelodie der Sprechsprache entwickelt. Für einen Nicht-Muttersprachler eine echte Herausforderung. Petr Nekoranec meistert sie mustergültig. Und weiß auch mit seiner strahlenden Höhe zu prunken. In der Offenbach-Operette 'La Belle Hélène' berichtet er keck vom Göttinnen-Wettstreit um den goldenen Apfel, als Tonio in Donizettis für Paris entstandener 'Fille du régiment' setzt er mit sehniger Kraft die berüchtigten neun hohen Cs."

Hier eine kleine Kostprobe mit Händel:



Weiteres: Die nachtkritik streamt heute noch einmal die Performance "Grundgesetz" von Marta Górnicka, wie man dem online-Spielplan entnehmen kann. Besprochen werden die Fernsehpremiere von Christoph Waltz' Inszenierung von Beethovens "Fidelio" im Theater an der Wien (FR)
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Literatur

"Mehr Klaus Theweleit als Ian Fleming" - so schätzt Marc Ottiker im Freitag Thomas Pynchons verschwurbelten, Erektionen, Perversionen, Drogenräusche und V2-Raketen verschaltenden Klassiker "Gravity's Rainbow" ein, den Klaus Buhlert nun im Auftrag von SWR und Deutschlandfunk als 14-stündiges Hörspiel adaptiert hat (hier die Sendetermine und ein ausgewachsenes Dossier zu Pynchon und der Produktion). Eigentlich gilt der Romankoloss als unbezwingbar und doch erscheint das Hörspiel-Projekt "so schlüssig, dass man sich wundert, dass dies nicht schon längst geschehen ist. ... Die Diskrepanz zwischen der genüsslich expliziten, kunstvoll schnoddrigen Sprache der 1970er, mit der die verwickelten Ereignisse in den 1940er Jahren erzählt werden, schafft heute, mit noch einmal knapp vierzig Jahren Abstand, eine interessante Parabel, die von einer Welt, in der Kurbeltelefone und Morsezeichen, tuckernd ölige Sherman-Tank-Motoren, V2-Raketen, doppelbödige Agentinnen in Seidenstrümpfen und knallende Champagnerkorken dominieren, zu einer Welt reicht, in der iPads ihr fahles Licht auf die in sich gekehrten Gesichter von trotzdem mit der ganzen Welt verbundenen Gestalten werfen. ... Die nur sparsam eingesetzten szenischen Bearbeitungen von Situationen begünstigen all diese Gedankengänge der Zuhörer. Dazu arbeitet Buhlert geschickt mit an David Lynch gemahnenden Toneffekten, etwa dem vermeintlichen Hängenbleiben der CD; diese Effekte wirken, als würden ganze Atmosphären abgesaugt."

Erst gab es Corona-Tagebücher und andere literarische Corona-Kolumnen, dann stöhnten alle darüber auf, was Marie Schmidt in der SZ zur Verteidigung der Literatur in diesen von Nachrichten, Zahlstatistiken und Social-Media-Erregungen geprägten Zeiten veranlasst: "Gerade die Literatur hat Verfahren entwickelt, mit zerstückelter Weltwahrnehmung etwas anzufangen, zuletzt besonders die missverständlich Popliteratur genannte Richtung. Deren Autoren begeisterten sich für Momente, die sogleich überholt sind." Die Wirkung der Corona-Literatur werde sich "in der Nachsorge einstellen: Wenn sich aus all den Tagebucheinträgen, Essays, Mitschriften die Geschichte der Gegenwart zusammensetzt."

Weitere Artikel: Simon Sahner berichtet in einem literarischen Text auf 54books.de von seiner Chemotherapie vor zwei Jahren. Für die Welt wirft Peter Praschl einen genaueren Blick auf die Leserposen, in die sich coronaisolierte Politiker derzeit für die Öffentlichkeit werfen. Um sich die Corona-Langeweile zu vertreiben holt Tilman Krause von der Welt seine einstigen Korrespondenzen aus dem Schrank heraus und kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus: Imre Kertesz lud ihn zu seinem Haus in den Budaer Bergen ein, andere Autoren geben trotz Verrissen Tipps für einen Wienbesuch und der Briefwechsel mit Fritz J. Raddatz füllt gleich einen ganzen Ordner. Richard Kämmerlings stellt die "aufregendsten Dichterinnen des Frühlings" vor. Eine Meldung informiert uns vom Tod des brasilianischen Autors Rubem Fonseca.

Besprochen werden unter anderem Delphine de Vigans "Dankbarkeiten" (Freitag), Elizabeth Strouts "Die langen Abende" (FR), Karl-Heinz Otts "Hölderlins Geister" (Freitag), Kathy Zarnegins "Exerzitien des Wartens" (Dlf Kultur), Mary MacLanes "Ich erwarte die Ankunft des Teufels" (Dlf Kultur) und Téa Obrehts "Herzland" (FAZ).
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