Efeu - Die Kulturrundschau

Jenseits von Wissen und Theorie

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18.04.2020. Die SZ entdeckt mit Hassan Sharif den Künstler, der die künstlerischen Moderne in die arabischen Emirate holte. In der taz erklärt die Choreografin Ligia Lewis, was "schwarze Fugitivität" bedeutet. In der Literarischen Welt wehrt sich Leila Slimani gegen den Vorwurf, sie sei bourgeois. Die taz blickt mit Satya Sai Maitreya in die Seele des idealen Gesamtkaliforniers. In der Kreiszeitung macht sich Rajko Burchardt wenig Sorgen um Hollywood nach Corona. Und in der NZZ erklären Herzog und de Meuron, wie man lebenswerte Krankenhäuser baut.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.04.2020 finden Sie hier

Kunst

Hassan Sharif, Jumping No. 1, 1983. Fotodokumentation einer Performance in Dubai, Courtesy Estate of Hassan Sharif; Alexander Gray Associates, New York; gb agency, Paris; Gallery Isabelle van de Eynde, Dubai

Wenn auch derzeit nur online - die Schau des arabischen Bildhauers Hassan Sharif, dem die Kunst-Werke Berlin derzeit eine große Retrospektive widmen, lohnt sich, versichert Sonja Zekri in der SZ. Denn Sharifs "listiger Blick auf den Untergang der Welt" passt zur Gegenwart, meint sie. Vor allem aber gilt es den Künstler zu entdecken, der die künstlerische Moderne in Zeiten des großen Öl-Booms in die arabischen Emirate holte: "Sharif schuf Ordnung im Kleinen, wo im Großen Aufruhr war. Aus Dörfern wurden Städte, man baute Schulen, Straßen, sogar Ampeln. Sharif führte Listen, legte Bibliotheken an oder dokumentierte Bewegungen vom Alleralltäglichsten. Wie sind die Tische in einem Restaurant aufgestellt? Mit vier oder sechs Stühlen? Wie bewegt er sich in seiner Wohnung, wann kocht er Tee, wann holt er Brot? Auch wenn das Nichtfigürliche, Serielle, zuweilen fast Kalligrafische dem Ornamentalen der arabisch-islamischen Kunst nicht fern war, muss das damals obsessiv gewirkt haben. Heute ließe sich mit solchen Arbeiten manch öde Quarantäne-Stunde füllen."

Max Klinger: Alpdruck

Einst für sein Pathos als "Richard Wagner der Kunst" gefeiert, wurde Max Klinger schon kurz nach seinem Tod der Mangel an "Charme und Grazie" vorgeworfen, erinnert Tilman Krause in der Welt. Ganz kann er den Eindruck beim Anblick manch "linkisch kauernder Frauen" nicht von der Hand weisen, aber ein zweiter Blick lohnt, meint Krause - in der Hoffnung, dass die Ausstellung im Leipziger Museum der Bildenden Künste bald wieder öffnen kann: "Klinger wäre nicht der noch heute faszinierende Große, dessen Werk mehr 'weiß' als sein Verursacher selbst, wäre da nicht ein Überschuss, der über das zeitgemäß Programmatische, Symbolische, Gelehrte, Bildungsbeflissene hinausgeht. Gerade weil Klinger sich, hierin ganz Kind der deutschen Romantik, so gern der Welt des Traums und des Fantastischen überließ, konnte er hin und wieder auch Bizarres und Abgründiges aus sich heraustreiben, das ohne Weiteres den Horizont des bürgerlichen Zeitalters übersteigt."
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Film

Plötzlich wirken schon aktuellste Filme wie aus einer anderen Zeit, stellt Susan Vahabzadeh in der SZ fest: Die Coronakrise "lädt Gesten, Bilder, Interaktionen mit neuer Bedeutung auf. Die Menschenmengen, welche die Rennstrecken in 'Le Mans 66' säumen, wirken plötzlich auf völlig neue Art gefährdet - sie stehen verboten dicht zusammen, dass ein Rennwagen von der Piste abkäme, wäre noch ihr geringstes Problem. Menschen in der Kneipe, die sorglos aus Biergläsern trinken in den 'Känguru Chroniken': Wie wurden diese Gläser gespült? In der Werbung: ein Fernsehspot, in dem sich Menschen in einem Aufzug zusammendrängen, und dann beißt einer vom Pausensnack des anderen ab - plötzlich ein gefährlicher Übergriff."

Die Kreiszeitung spricht mit Rajko Burchardt über Epidemien in Kino und Fernsehen. Zumindest um die großen Filmkonzerne macht er sich wenig Sorgen: "Obwohl die Verluste für Hollywood in die Milliarden gehen, dürfte eine Rückkehr zur Normalität dort vergleichsweise unproblematisch laufen. Alle ehemals souveränen Filmstudios wurden als Tochtergesellschaften in riesige Mischkonzerne eingemeindet. Für Marktführer Disney sind Kinostarts nicht der einzige Geschäftszweig, momentan steckt der Konzern viel Energie in seinen Streaming-Dienst. Andere Studios nutzen den Ausnahmezustand für eine möglicherweise historische Verschiebung in der Auswertungsrangfolge."

Außerdem: Auf Intellectures empfiehlt Thomas Hummitzsch zwei Filme von Hong Sang-soo, die jüngst im Video-On-Demand des Nürnberger Verleihs Grandfilm aufgeschlagen sind. Besprochen werden Frederick Wisemans derzeit auf Amazon Prime zu sehender Dokumentarfilm "Ex Libris" über die New York Public Library (Filmdienst), Savas Ceviz' "Kopfplatzen" (Freitag), Destin Daniel Crettons "Just Mercy" mit Jamie Foxx (Tagesspiegel) und die deutsche Netflix-Produktion "Betonrausch" ("zu seicht und zu berechenbar", meint Tobias Sedlmaier in der NZZ, ZeitOnline).

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Literatur

"Alle meine Bücher sind eine Kritik der Bourgeoisie, weshalb ich diese Zuschreibung ausgesprochen ungerecht empfinde", sagt in der Literarischen Welt die französische Schriftstellerin Leila Slimani, die für ihr Corona-Tagebuch in Le Monde, wo sie vom Alltag im bukolischen Idyll vor den Toren der Stadt erzählt, neben anderen Schriftstellern sehr angegangen wurde. "Ausgerechnet mich in der Figur der Großbürgerlichen einsperren zu wollen, wo ich doch niemals im Namen des Bürgertums geschrieben habe, hat Ironisches und letztlich auch etwas sehr Dummes."

Ebenfalls in der Literarischen Welt zeigt sich Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa - in einem allerdings bereits Anfang März gegebenem Gespräch - geradezu enthusiasisch, was den momentanen Lockdown betrifft: Der sei "fantastisch, weil ich noch nie soviel Zeit zum Lesen hatte wie jetzt. Ich kann zehn Stunden am Tag lesen!" Dazu begleitend hat Marko Martin Llosas neuen Roman "Harte Jahre" gelesen - "kein Thesenroman", erfahren wir, "sondern die rasant erzählte Geschichte vom Scheitern jenes gutwilligen, doch schließlich gestürzten und in eine tragisch Exilodyssee getriebenen Präsidenten Jacobo Àrbenz und eine Art Mantel-und-Degen-Stück."

Im Literarischen Leben der FAZ berichtet der Schriftsteller Christoph Peters von den Herausforderungen, japanische Teetassen aus dem 16. Jahrhundert zu zeichnen, und ersten Erfolgserlebnissen: "Der Blick auf die Schale, der Blick auf das Blatt, ein unablässiges Hin und Her, dazu der schnelle Rhythmus, den die tupfende Spitze des Rapidographen auf dem Papier erzeugt - die Genauigkeit der Wahrnehmung nimmt langsam zu, das Auge führt, jenseits von Wissen und Theorie, seine eigenen Analysen durch. Während meine Hand Entsprechungen des Volumens, von Licht und Schatten, Hell-Dunkel, Farbigkeit und Oberflächentextur in Tuschepunkte übersetzt, denke ich an nichts."

Weitere Artikel: Für die FAZ wirft der Schriftsteller Simon Stranger in Oslo ein Blick aus seinem Fenster. Die Frankfurter Buchmesse geht derzeit noch davon aus, dass sie im Oktober stattfinden wird, hat Gerrit Bartels für den Tagesspiegel in Erfahrung gebracht. 54books bringt die neunte Lieferung des kollektiv geführten Corona-Tagebuchs. In der SZ erinnert sich die Schriftstellerin Katja Lange-Müller an ein Absackerbier mit Alice Schwarzer in einer Berliner Kaschemme. Im Literaturfeature für Dlf Kultur befasst sich Christian Blees mit James Bond als Romanfigur. Für die Literarische Welt meditiert die Schriftstellerin Nell Zink sehr ausführlich auf dem Robert-Walser-Pfad in Herisau.

Besprochen werden unter anderem das vom SWR für eine Woche online gestellte Hörspiel von Thomas Pynchons Klassiker "Die Enden der Parabel" (online nachgereicht von der FAZ), neue Bücher von Frank Witzel (Intellectures), Regina Porters Romandebüt "Die Reisenden" (taz), Moritz von Uslars "Nochmal Deutschboden" (Tagesspiegel), Oyinkan Braithwaites Krimi "Meine Schwester, die Serienmörderin" (taz), Birgit Birnbachers "Ich an meiner Seite" (taz), Annette Pehnts "Alles was Sie sehen ist neu" (FR), Martha Gellhorns gesammelte Reportagen (Literarische Welt) und ein Band mit Sonetten des Lyrikers Andreas Reimann (FAZ).
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Bühne

Im taz-Interview mit Astrid Kaminki spricht die in der Dominikanischen Republik geborene Tänzerin und Choreografin Ligia Lewis über Rassismus, das "weiße Patriarchat" und erklärt, was "schwarze Fugitivität" bedeutet: "Die sogenannten Swamplands [Sumpfgegenden der Südstaaten] sind ein wichtiges Symbol, ein Tropus für Schwarze Fugitivität. Es war notwendig, dass diese Orte dunkle Räume waren, Räume, wo geflüchtete Sklaven sich verstecken und andere Lebensformen entwickeln konnten. Gewissermaßen benutze ich das Wissen darum, um meine Poetik zu entwickeln. Es befeuert meine persönliche Romanze mit dem Unbekannten, Versteckten, nicht sofort Durchschaubaren. Wie können wir das Nichtsichtbare Teil des Sehens werden lassen? Wie können wir das, was außerhalb der Grenzen des Sprachlichen stattfindet, zulassen? Oder auch: Wie können wir Handlungsfähigkeiten an Körper verleihen, die außerhalb des Blicks, der Ordnung des Blicks, fallen?"

Im Standard denkt Helmut Ploebst über das Verhältnis von Nähe und Abstand anhand der Tanzgeschichte nach: "Ein politischer Gradmesser ist das Tanzen seit jeher. In einigen Gebieten des spätmittelalterlichen Deutschlands etwa begannen Leute ohne erkennbaren Anlass auf den Straßen zu tanzen, bis sie umfielen. Diese Ausbrüche einer sogenannten 'Tanzwut' werden mit 'Epidemien' verglichen und gelten als Eruptionen einer körperlichen Abwehr von politischen Zwängen. Was damals unkontrolliert passierte, wird heute als domestizierte Ekstase in Clubs oder bei Partys zelebriert."

Weiteres: Im taz-Interview mit Katrin Ullmann erklärt Amelie Deuflhard, Intendantin der Hamburger Kulturfabrik Kampnagel, weshalb sie nichts davon hält, Theaterstücke zu streamen und wie man auch unter den derzeitigen Umständen theatrale Projekte im öffentlichen Raum realisieren kann.
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Musik

Musikprofessor und takt1-Betreiber Holger Noltze zeigt sich in der FAZ sehr zuversichtlich, dass der momentane Streaming- und Digitalisierungsschub im Klassikbetrieb sich in Zukunft nicht negativ auswirken wird: "Die Rezeptionsgewohnheiten differenzieren sich jetzt aus. Der Hunger, ins Konzert, in die Oper, ins Theater zu gehen, wird nicht nachlassen. Der wird gerade besonders stimuliert. ... Es könnten sich dabei alte Frontstellungen auflösen. Mit konsequenter Kuratierung ließe sich vielleicht die Skepsis zerstreuen gegenüber einem Medium, das für viele gerade in der 'Kultur' vor allem mit Katzenbildern, Clickbaiting und Pornographieverbreitung verbunden ist. Man könnte dann sehen, dass es um ein produktives Miteinander geht."

In der taz erzählt Diedrich Diederichsen die Geschichte von Craig Smith, der in den 60ern und 70ern unter dem Namen Satya Sai Maitreya Kali als obskurer Hippie-Folkmusiker von sich eher nicht reden machte und nun mit Wiederveröffentlichungen und einem Buch derzeit wiederentdeckt wird: Es eröffne "sich ein anrührender Einblick in die Seele des idealen Gesamtkaliforniers, zwischen perfekten, strahlenden Äußeren und zotteliger, psychopathischer Homelessness." Man kann ja mal reinhören:



Außerdem: Frederik Hanssen blättert sich für den Tagesspiegel durch die Saisonvorschau des Deutschen Symphonie-Orchesters. Inder FAZ gratuliert Jan Brachmann Grigori Sokolow zum 70. Geburtstag. Der Standard meldet, dass Bob Dylan noch einen neuen Song veröffentlicht hat. Nach seinem 17-Minuten-Epos vor wenigen Wochen belässt er es diesmal bei handelsüblichen viereinhalb Minuten:



Besprochen werden Nina Simones neu aufgelegtes, zuvor 1982 nur in Frankreich veröffentlichtes Album "Fodder on my Wings" (Standard), My Ugly Valentines Album "Vitamin C" (FR) und das neue Album von Shabazz Palaces (The Quietus). Wir hören rein:

Archiv: Musik

Architektur

In den nächsten drei Wochen feiern Jacques Herzog und Pierre de Meuron ihre siebzigsten Geburtstage. Die NZZ gratuliert ihren Nationalhelden mit einer kleinen Beilage. Im großen NZZ-Gespräch mit der Kuratorin Bice Curiger sprechen Herzog und de Meuron auch über die Frage, wie man lebenswerte Krankenhäuser baut. De Meuron: "Für uns Architekten steht auch hier die Sinneswahrnehmung im Vordergrund." Es gibt "eine horizontale Organisation der verschiedenen Bereiche, in jedem Patientenzimmer eine Sitznische mit kleinem Fenster, eine fast häusliche, vertraute Atmosphäre. Dementsprechend wird die monofunktionale Institution Spital zu einem multifunktionalen, urbanen und damit menschlicheren Ort. Darin werden Menschen nicht nur arbeiten, leiden, intensiv oder ambulant gepflegt, sterben, geheilt und geboren werden, sondern auch zunehmend wohnen, einkaufen gehen, sich treffen, sich bilden. Ein Spital ist keine abgeschiedene, geschlossene Institution mehr, sondern wird zum offenen, einladenden Ort für alle."

Der spanische Architekt Luis Fernandez-Galiano blickt zurück auf das bereits vierzig Jahre umfassende Oeuvre von Herzog und de Meuron. Sabine von Fischer spürt dem Erfolgsrezept der beiden nach. Und Roman Hollenstein vergleicht das aktuelle Projekt, das M+, ein Museum für Kunst, Design, Architektur und Film im West Kowloon Cultural District in Hongkong mit dem Tai-Kwun-Kulturzentrum, das die beiden Architekten ebenfalls in Hongkong bauten und für das sie britische Kolonialbauten revitalisierten.

Weitere Artikel: In der Berliner Zeitung kämpft Andreas Förster für den Erhalt des Gutshauses Gentzrode in der Nähe von Neuruppin.
Archiv: Architektur