Efeu - Die Kulturrundschau

Zufrieden schnurrende Demokratie-Romantik

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20.04.2020. Im Standard begeistert sich Sybille Berg eher weniger für die Disziplin, mit der wir die Abschaffung freiheitlicher Rechte erdulden. Die taz probiert Theater auf Telegram aus. Im Tagesspiegel erinnert Wolfgang Emmerich an Paul Celans feines Sensorium für das Nibelungische bei den Deutschen. Die NZZ bemerkt, dass wenigsten Cy Twombly die Sehnsucht nach Süden in der Moderne aufrecht erhielt. FAZ und FR freuen sich aufs digitale Lichter-Filmfest. Und vom WHO-Spendenkonzert nehmen die Kritiker immerhin etwas gute Laune mit.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.04.2020 finden Sie hier

Literatur

Im Standard spricht Sibylle Berg über ihr neues Buch, den Gesprächsband "Nerds retten die Welt", der noch vor der Coronakrise entstanden ist, aber unter deren Eindruck an Akutheit noch einmal gewonnen hat. Die Welt ist eben unrettbarverloren: "Jedes Land riegelt sich ab und versucht, ein globales Problem national zu lösen. Und die ersten Banken und Großunternehmen, Milliardäre und Konzerne stehen schon wieder parat, um ihre Dividenden von der Allgemeinheit retten zu lassen. ... Zugleich greift in einigen westlichen Ländern so eine zufrieden schnurrende gesellschaftliche Demokratie-Romantik um sich. Viele freuen sich über den wunderbar funktionierenden Staat, dessen Politik der Einsparung und mangelnden Vorsorge natürlich leider ein Teil des Problems war, der uns nun zufrieden die komplette Abschaffung aller freiheitlicher Rechte ertragen lässt."

Sandro Zanetti (Geschichte der Gegenwart), Susan Ayoub (Standard), Paul Jandl (NZZ) und Gregor Dotzauer (Tagesspiegel) erinnern an Paul Celan, der sich heute vor fünfzig Jahren das Leben nahm. Außerdem spricht im Tagesspiegel der Germanist Wolfgang Emmerich über Celan und die Rechts- und Linksnibelungen: "Celan hing in seiner Jugend sehr an den alten germanischen Heldensagen, speziell am Nibelungen-Mythos. Für ihn war es ein schwerer Abschied von den Mythen seiner Kindheit. Er sieht aber, dass das Nibelungische, verbunden mit Antisemitismus, gleichsam als Unterstrom im Bewusstsein weitergeht. Bei der politischen Rechten ist das völlig klar, bei der Linken ist es etwas, wofür Celan ein großes Sensorium entwickelt, was sich vor allem in seinen Gedichten aus dem Nachlass manifestiert. Selbst eine Gestalt wie Walter Benjamin wird Celan verdächtig." Dlf Kultur hat zudem ein Literaturfeature von Chiara Caradonna und Ofer Waldman über Celans Jahre in Berlin und Jerusalem online gestellt.

Außerdem: Isabella Caldart spricht für 54books mit Camilla Zuleger, die sich mit ihrem Nord Verlag auf skandinavische Literatur spezialisiert hat. In seinem Corona-Fortsetzungsroman in der Welt ist sich der Schriftsteller Thomas Glavinic ziemlich sicher, dass wir gerade dem Niedergang der USA als Weltmacht beiwohnen. Gerhard Dilger schreibt in der taz einen Nachruf auf Luis Sepúlveda, der dem Coronavirus erlegen ist. Arte hat aus diesem Anlass ein Porträt des chilenischen Schriftstellers online gestellt.

Besprochen werden unter anderem Laetitia Colombanis "Das Haus der Frauen" (Presse), Ute Cohens "Poor Dogs" (Freitag), Graham Swifts "Da sind wir" (Tagesspiegel), Eva Sichelschmidts "Bis wieder einer weint" (SZ), Amir Hassan Cheheltans "Der Zirkel der Literaturliebhaber" (Berliner Zeitung) und neue Hörbücher, darunter Frank Arnolds Lesung von Cord Riechelmanns "Krähen" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Jan Wilm über Adam Zagajewskis "Versuch's, die verstümmelte Welt zu besingen":

"Versuch's, die verstümmelte Welt zu besingen.
Denke an die langen Junitage,
..."
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Film

Intimer Essayfilm: Oliver Wörnes "Es geht ein dunkle Wolk herein"


Morgen beginnt das Frankfurter "Lichter"-Festival. Natürlich nicht im analogen Raum, sondern digital, berichtet Daniel Kothenschulte in der FR. Bis hin zum Ticketverkauf findet die Sache stilecht statt: Nach 300 Tickets pro Film ist das Kontingent verbraucht. Auch eine herzliche Empfehlung spricht der Filmkritiker aus: Oliver Wörnes essayistischer Dokumentarfilm "Es geht ein dunkle Wolk herein" ist eine Langzeitstudie über "die Arbeit dreier Landwirte, die - wie der Film selbst - gleichsam aus der Zeit gefallen scheinen. Als Geburtshelfer wirkte der 85-jährige Helmut Herbst, eine Legende des unabhängigen Films in Deutschland, in dessen Heimstudio die Bilder erst zusammenfanden. Dass man sie nun zu sich nach Hause holen muss, passt durchaus zu ihrer Intimität."

Andreas Platthaus kann den Eröffnungsfilm empfehlen, Luke Lorentzens Dokumentarfilm "Midnight Family", für den der Regisseur "2018 die nächtlichen Einsätze eines privaten Krankenwagens in Mexico City begleitet hat. Entstanden ist ein Doppelporträt: das der Familie Ochoa, die mit dem Rettungswagen ihr Geld verdient, und das eines Gesundheitssystems unter nahezu rein marktwirtschaftlichen Bedingungen. In der mexikanischen Hauptstadt, einem Neun-Millionen-Moloch, gibt es nur 45 staatlich betriebene Krankenwagen. ... Lorentzens Film zeigt die Exzesse eines Gesundheitssystems, aus dem der Staat sich weitgehend zurückgezogen hat. "

Alle Kinos sind geschlossen. Alle Kinos? Nein! Einige unbeugsame Betreiber hören nicht auf, dem Virus Widerstand zu leisten. Genauer gesagt: Autokino-Betreiber - denn die erleben gerade einen erstaunlichen Boom, von dem Andreas Busche im Tagesspiegel berichtet: "Seit Anfang März hat die Behörde 43 Rundfunkfrequenzen für Autokinos vergeben. Und seit Anfang April häufen sich die Meldungen von wieder eröffneten Autokinos und Pop-up-Autokinos auf Brachflächen am Rande der Ballungsgebiete. ...  Vorführungen sind binnen weniger Stunden ausverkauft. Andere Städte wie Münster und Hatten bei Bremen ziehen bereits nach. Auch in den USA und Südkorea strömen die Menschen in die Autokinos. In Zeiten abgesagter Großveranstaltungen erscheint das Auto - gewissermaßen Selbst-Quarantäne im öffentlichen Raum - als logische Antwort auf die Anforderungen der sozialen Distanzierung."

Weiteres: Auch das Festival "Crossing Europe" in Linz wird ein schmales Onlineangebot liefern, berichtet Dominik Kamalzadeh im Standard. In der Welt schreibt Hanns-Georg Rodek einen Nachruf auf die Filmemacherin Sarah Maldoror (weitere Nachrufe hier). Besprochen werden eine Heimkino-Ausgabe von David Lynchs "Der Elefantenmensch" (SZ), die DVD von Jonas Åkerlunds "Lords of Chaos" über die Gewaltexzesse der norwegischen Black-Metal-Szene der frühen 90er (Berliner Zeitung), die Netflix-Doku-Serie "Tiger King" (Freitag) und die deutsche Netflix-Produktion "Betonrausch" (Presse, Freitag).

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Kunst

Die Sehnsucht nach Süden ist in der Moderne seltener geworden, bemerkt NZZ-Kritiker Philipp Meyer beim Blättern durch den Band "Homes and Studios", doch Cy Twombly ist dem Licht des Mittelmeers gefolgt und hat sich in Rom niedergelassen: "Es gibt diese Bilder: Fotografien von weiten Räumen und Sälen weiss in weiss wie seine Malerei. Und wir sehen ihn mittendrin und imaginieren ihn durch die Objektive seiner Fotografen-Freunde versonnen, tagelang vor der leeren Leinwand sitzend, nicht imstande, Stift und Pinsel zu rühren. Bis die Trunkenheit, die sich im gewaltigen europäischen Süden wie von allein und auch ganz ohne sonnengereiften Wein einstellt, genug groß war, dass plötzlich und in der kürzesten Zeit einer Panikminute ein Bild entstand."

Weiteres: Sandra Daniecke erkennt in der FR die Ironie, dass auch die Schau "How to Make a Paradise" im Frankfurter Kunstverein coronabedingt ausfallen muss: Sie beschäftigt sich mit den japanischen Hikikomoris, jenen jungen Leuten, die nicht mehr ihr Elternhaus verlassen, und inzwischen die Experten sind in Sachen sozialer Disanz. In der FAZ bewundert Hubert Spiegel die "Unintended Beauty", die sich in der Neuen Sachlichkeit des Fotografen Alastair Philip Wiper zeigt. Tilman Baumgärtel erinnert in der taz an die Piazza Virtuale, mit der die Künstlergruppe Van Gogh TV 1992 bei der Documenta 9 eine Vorreiterform der Sozialen Medien schuf.
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Bühne

Twin Speaks. Bild: vorschlag:hammer

taz
-Kritiker Tom Mustroph hat eine weitere Untergattung des digitalen Theaters ausprobiert: WLAN-Theater. Das Schweizer Kollektiv vorschlag:hammer bringt sein Mystery-Stück "Twin Speaks" auf der Messengerplattform Telegram: "Etwa 200 Accounts waren zugeschaltet, als Schauspieler Stephan Stock die ersten praktischen Anweisungen gab. Die Handys sollte man auf WLAN umstellen, um bei der zu erwartenden Datenmenge nicht an den Kosten für den mobilen Datendienst zu verzweifeln. Aus der Gruppe abmelden sollte man sich auch nur in den Pausen, damit die Nachrichten über den vollzogegenen Abmeldevorgang nicht den Fluss der Show stören - sich abzumelden sei so etwas wie die virtuelle Form des lauten Türenschlagens verärgerter Offline-Theaterbesucher." taz-Theaterlkritikerin Katrin Bettina Müller vermisst auch schon Futter fürs Hirn.

Weiteres: Im Standard porträtiert Margarete Affenzeller die Dramatikerin Natascha Gangl, deren Pandemie-Stück "Haus der Antikörper" am Wochenende in Stuttgart hätte Premiere feiern sollen. Hier gibt es den Online-Spielplan der Nachtkritik, gestreamt wird dort heute Abend Büchners "Woyzeck" in der Inszenierung von Therese Willstedt am Schauspiel Köln.
Archiv: Bühne

Musik

Manch einer hat bei Bob Dylans kürzlich veröffentlichtem 17-Minuten-Epos "Murder Most Foul" eher abgewunken: Monoton wiederholte Melodien und eine Auflistung aller möglichen Referenzpunkte der amerikanischen Geschichte und Populärkultur seit der Ermordung Kennedys waren jedermanns Sache nicht. Eine solche Einschätzung verpasst aber gerade den eigentlichen Witz an der ganzen Sache, meint Heinrich Detering in einem großen FAZ-Essay über den Song: Dylan wandelt hier schon im Titel - ein Zitat des Geistes von Hamlets Vater - auf Shakespeares Spuren. Um den Mord an seinem Vater aufzuklären, "lässt Hamlet am Hof der ehrbaren Mörder ein Stück aufführen, das die wahren Zusammenhänge andeutet: 'a play'. Das Spiel-im-Spiel, das Theater-auf-dem-Theater soll die böse Wahrheit ans Licht bringen. ... Wie das Wort 'play', das im Song einundsechzig Mal erscheint, sowohl das Abspielen einer Schallplatte als auch die Aufführung eines Stücks meint, so sind auch die konkreten Musikstücke, die - je nach Perspektive - den Mord am König aufdecken oder angesichts dieser traurigen Wahrheit Trost spenden sollen, mit Shakespeares Theaterwelt verschränkt."

Auf eine Initiative von Lady Gaga hin fand sich am Samstagabend unter dem Motto "One World - together at Home" eine große Schar namhafter Rock- und Popmusiker per Schalte zusammen, um für Spenden an die WHO zu werben. Ein "politisches Manifest" sah Harry Nutt von der Berliner Zeitung in diesem "ganz besonderen Moment in der Geschichte der populären Musik", denn mit diesem "gemeinsamen Auftritt der Vereinzelten" brachten sich die Musiker "ganz ausdrücklich gegen ihren Präsidenten in Stellung." Davon abgesehen machte der Abend auch einfach richtig gute Laune, schreibt Jörg Wunder im Tagesspiegel. Dann doch eine Spur zu amerikanisch fand FAZ-Kritikerin Johanna Dürrholz den Abend: "In der Pre-Show machen Firmen wie Pepsi oder Cisco Werbung, die mit trauriger Klaviermusik unterlegt und nur darauf ausgelegt ist, zu zeigen, was die Konzerne gerade alles Gutes tun in Zeiten der Krise. Das ist manchmal dann doch zu viel des Eigenlobs."

Auch bei SZ-Kritiker Jan Kedves stellt sich - von der "sehr schlechten Soundqualität" und den an der Zahl eher raren Höhenpunkten mal abgesehen - bei der ganzen Sache ein deutliches Magengrummeln ein: Allen Beteuerungen zum Trotz, dass es "die großen Helden der Coronazeit" in den Krankenhäusern und Pflegestationen gehe, konnte einem der Abend doch "wie ein groß angelegter Versuch vorkommen, die enorme Wichtigkeit von Stars unter Beweis zu stellen. ...  Leider gab es abgesehen von solchen Allgemeinplätzen wie 'Wenn wir alle zusammenhalten, schaffen wir das!' oder 'Wir müssen unbedingt unsere Gesundheitssysteme stärken!' aber kaum Forderungen oder Vorschläge, wie man sich nach der Krise zum Beispiel besser gegen Virenangriffe wappnen könnte. Oder wie systemrelevante Berufe angemessen zu entlohnen seien."



Reinhard J. Brembeck freut sich in der SZ, dass im Zuge von Online-Konzerten nun auch der Komponist Hans Winterberg wiederentdeckt wird. Dessen Musik "verlässt nie die Grenzen der Tonalität. Das macht Winterberg zu einem Antagonisten der Avantgardisten wie Pierre Boulez oder Karlheinz Stockhausen. Früher wurden solche alternativen Ansätze nur von Wertkonservativen geschätzt. Mittlerweile aber ist auch in musikalisch aufgeschlosseneren Kreisen eine Sensibilität aufgekommen für die Qualitäten eines solchen Komponierens."

Besprochen werden Shabazz Palaces' "The Don of Diamond Dreams" (Pitchfork) und das neue Album von Fiona Apple, aus dem FAZ-Kritikerin Julia Bähr besonders "For Her" empfiehlt: "Avantgardistisch, jawohl, ein bisschen, und scharfkantig und trotzdem betörend."

Archiv: Musik