Efeu - Die Kulturrundschau

Die Freiheit des Inkorrekten

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22.04.2020. Die SZ starrt in Istanbul auf 440 Paar schwarze Pumps von Frauen, die 2018 in der Türkei von Männern getötet wurden. Die Schriftstellerin Leona Stahlmann zeigt sich in der FAZ ganz bestrickt von Catherine Robbe-Grillet, einem waschechten Libertin. Wir müssen einsehen, dass das Kino tot ist, sagt Regisseur Paul Schrader in Vulture, will aber trotzdem feiern. Auch für die Bühne der Zukunft sieht es mau aus: Küssen auf Abstand? Wie soll das gehen, fragt der Tagesspiegel. Und sehr notwendig in diesen Wochen: Die Beastie Boys auf Youtube.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.04.2020 finden Sie hier

Kunst

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Auch in der Türkei steigt - wie überall in der erzwungenen Isolation - die Gewalt gegen Frauen. An sie erinnert mit einer Installation gegenüber dem Museum Istanbul Modern der Künstler Vahit Tuna, erzählt Tomas Avenarius in der SZ: "440 schwarze Paar Frauenschuhe ziehen sich an den Wänden hoch, gut 15 bis 20 Meter, ein Paar neben dem anderen. Die 440 Paar schwarzer High-Heels auf den vielen Quadratmetern nackter Betonwand haben die Anmutung eines Friedhofs. Sie stehen für die 440 Frauen und Mädchen, die im Jahr 2018 von ihren Männer, Brüdern, Vätern oder von Wem-auch-immer-Männern getötet wurden. Der bedrückend eingängige Kommentar ist eine grabsteinartige Marmortafel, auf der steht: 'Namenlos'."

Weitere Artikel: Im Standard schreibt Michael Hausenblas zum Tod des Künstlers Lois Weinberger. In der FAZ erinnert Barbara Catoir an Künstler, die sich ganz auf sich selbst zurückzogen - sei es erzwungenermaßen im Exil oder indem sie freiwillig die Fenster ihres Ateliers verhängten - um zu arbeiten.
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Literatur

Die Schriftstellerin Leona Stahlmann zeigt sich in der FAZ ganz bestrickt von einem Treffen mit Catherine Robbe-Grillet (alias Jeanne, respektive Jean Berg). Die fast 90 Jahre alte, mit ihrer Ehefrau auf einem Schloss in der Normandie lebende Autorin und Witwe von Alain Robbe-Grillet "ist köstlich inkorrekt, und so klein und zerbrechlich sie wirken mag: Vor mir sitzt ein waschechter Libertin. Die sind selten geworden. ... Statt Waffeleisen schwingt sie Brenneisen (für die Markierung der Haut ihrer Gespielinnen), und statt gepflegter intellektueller Gesprächssalons hält sie noch immer regelmäßig erotische Zeremonien ab, bei denen sie mit höchster Kunstfertigkeit und Detailtreue Motive aus der Kulturgeschichte zu tableaus vivants werden lässt." Sie "verkörpert für mich zwei Grundvoraussetzungen des Schreibens über Sexualität. Zum einen das ausbalancierte Verhältnis von Sprechen und Schweigen, Beschreiben und Aussparen, Schlüssellochblick und Wissen um die Wirkung der Ausschnitthaftigkeit, die den Genuss nur steigert. Zum anderen die Freiheit des Inkorrekten."

Für die FAZ wirft die Berliner Schriftstellerin Eva Sichelschmidt (mit der auch Ijoma Mangold im ZeitMagazin spricht) einen Blick aus ihrem "Fenster zur Welt", wo sie zu jeder Tages- und Nachtzeit die nach Berlin einfahrenden ICEs, Interregios und S-Bahnen im Blick hat. Allzu gerne würde sie "vom Balkon in einen dieser Züge springen. Wegfahren ohne Ziel. Meine Butterbrote auspacken, die Thermoskanne öffnen, Musik hören und davon träumen, an einem unbefestigten Ufer zu baden. ... In den letzten Wochen sind die Züge seltener geworden, die Menschen auf meiner Eisenbahnplatte sind fast alle verschwunden. Eine Riesenhand muss sie eingesammelt und in die Watte zurückgelegt haben. Ja, jetzt sitzen wir alle in unseren Schachteln."

54books dokumentiert Daniela Dröschers und Senthuran Varatharajahs Eröffnungsvortrag zum virtuell stattfindenden intersektionalen Festival "Und seitab liegt die Stadt", das vor allem auf den Begriff "Herkunft" und dessen Bedeutung für den deutschsprachigen Literaturbetrieb fokussieren will: Darüber werde zu wenig gesprochen und das "obwohl literarische Texte, die von Migration, Flucht und vertikaler Mobilität erzählen, bei Independent- und großen Publikumsverlagen veröffentlicht werden."

Weitere Artikel: Für den Standard liest Ronald Pohl Walter Benjamins Essay über Karl Kraus. Das kollektive Corona-Tagebuch von 54books geht nunmehr in die zehnte Runde. Antje Ehmann empfiehlt auf Tell Kinderbücher für den Lockdown.

Besprochen werden unter anderem Mario Vargas Llosas "Harte Jahre" (SZ), Emmy Hennings' "Gedichte" (NZZ), Nicole Flatterys Storyband "Zeig ihnen, wie man Spaß hat" (Zeit), Georges-Arthur Goldschmidts "Vom Nachtexil" (Berliner Zeitung), das von Bernd Scherer herausgegebene "Wörterbuch der Gegenwart" (taz) und Alain Mabanckous "Petit Piment" (FAZ).
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Film

Zwar hält das Filmfestival Venedig noch standhaft an seinem Termin fest und von Thierry Frémaux' eisernem Willen, einen Termin für Cannes deutlich tiefer im Jahr zu finden, berichtet Hanns-Georg Rodek in der Welt. Aber für Paul Schrader, dem letzten verbliebenen Wadenbeißer aus New Hollywood, ist es längst ausgemachte Sache, dass in diesem Jahr mit A-Festivals nicht mehr zu rechnen sei - zum Gewinn der Berlinale im nächsten Jahr, wo sich die jetzt auf Halde liegenden großen Filme um die Leinwände prügeln werden, meint er im Vulture-Gespräch. Das Kino an sich werde aus dieser Krise allerdings schwer geschwächt hervorgehen: "Ich glaube, das Kino hing schon an seinen Fingernägeln über dem Abgrund und diese Fingernägel hat jetzt jemand abgeschnitten. Es wird auf irgendeine Weise zurückkommen, so wie Blues Clubs und Sinfonien. Aber es wird niemals mehr das Profil haben, das es einmal hatte. ... Was wir derzeit beobachten, ist die Rekonfiguration dessen, wie wir audiovisuelles Entertainment auffassen und ich denke nicht, dass es einen Weg dorthin zurück gibt, wo wir vor sechs Monaten waren. Ich habe eine Theorie auf Facebook gepostet, wie wir eine neue Kino-Community mit virtuellen Filmfestivals, virtuellen Kritikern, Zoom-Communities und virtuellen roten Teppichen aufbauen und einfach akzeptieren, dass das Kino als solches tot ist. Vielleicht für immer. Die andere Möglichkeit für die Zukunft besteht darin, dass wir kleine Filmclubs haben, die mit den smarten Streamern Partnerschaften entwickeln."

Zur sterbenden Kino- und Filmkultur: "Die Regierung muss dafür Sorge tragen, dass dieser Corona-Blackout für die Filmwirtschaft kostenneutral verläuft", fordert Thomas Negele von der Spio, dem Spitzenverband der deutschen Filmwirtschaft, im online nachgereichten FAZ-Interview. Mehr als eine halbe Milliarde Euro sollen locker gemacht werden, um drei Monate Umsatzeinbußen und eingefrorene Produktionen zu kompensieren. "Ganz wichtig ist jetzt, so schnell wie möglich ein Media-Budget für 2020 bis 2024 zu beschließen und zu sichern. Denn die Filmbranche denkt europäisch. Sie ist international vernetzt und stark arbeitsteilig organisiert. Daher ist die Situation der Filmunternehmen überall in der EU ähnlich. Sie bleiben bei den Maßnahmen der nationalen Regierungen außen vor."

In der Welt stellt Laura Sophia Jung Charli D'Amelio vor, die auf der Minivideo-Plattform TikTok mit allerlei Kapriolen derzeit zum Weltstar wird. Auf TikTok findet das Onlinevideo zu den Anfängen des Bewegtbilds zurück, erfahren wir außerdem: "TikTok ist voller Slapstick wie aus besten Stummfilmzeiten, produziert meist von Digital Natives der Generation Z. Sie spezialisieren sich dabei oft auf einzelne Comedy-Genres. Zum Beispiel Action: Man filmt sich dabei, wie man sich möglichst spektakulär aufs Maul legt, aus einem fahrenden Auto springt, sich kopfüber in einer Mülltonne versenkt. Oder Pranks: Man spielt Streiche, die selbst Pumuckl zu primitiv wären."

Weitere Artikel: In der Zeit berichtet Barbara Achtermann von der Lage der Schweizer Filmbranche. Besprochen werden die vom RBB online gestellte Serie "Warten auf'n Bus" mit Ronald Zehrfeld und Felix Kramer, in der FR-Kritiker Tilmann P. Gangloff ein ähnliches Kultpotenzial wie zuvor beim "Tatortreiniger" sieht, die Arte-Doku "iHuman" (online nachgereicht von der FAZ) und die auf Netflix gezeigte dritte Staffel der Serie "Fauda" (NZZ).
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Architektur

Auf Glas, haben wir jetzt gelernt, hält sich der Coronavirus besonders gut. In der NZZ erinnert Sabine von Fischer an eine Zeit, als Glas in der Architektur gefeiert wurde, weil man es für besonders hygienisch hielt: "Die Ultraviolettstrahlung wurde verehrt, lichtdurchflutete Räume wurden angepriesen. Die Sonneneinstrahlung diene der Gesundheit, draußen wie drinnen. Ludwig Mies van der Rohes berühmter Barcelona-Pavillon von 1929 ließ das Licht auch auf einer Wasseroberfläche spiegeln und führte das Auge an den Horizont, als ob es gar keine Wand mehr gäbe. ... Im späten 20. Jahrhundert verlor die Glasarchitektur ihre Anhänger. Man musste sich vor der Sonne schützen, auf der eigenen Haut mit einer Crème gegen Sonnenbrand und in Gebäuden mit einer Beschichtung gegen die Wärmeeinstrahlung. Die Verehrung der Sonnenstrahlen wie auch die Sonnenanbetung in Glashäusern kam aus der Mode, und von Hygiene dank der Architektur redete niemand mehr." Glas lässt sich so einfach eben nicht fassen, das wusste schon Rilke.
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Bühne

Eines hat dieser Coronaausbruch auf jeden Fall gebracht: alles Jammern über das böse kalte Internet klingt inzwischen mehr als fad. Die Krise hat ein großes Schnelllernprogramm ausgelöst. Plötzlich lernen alle, wie man zoomt, skypt, Podcasts und Videos erstellt. Auch am Theater, erzählt Torben Ibs, der sich umgehört hat, in der taz: "Spricht man mit den Künstlern über die ästhetischen Annäherungen an das neue Medium Internet-Theater, so fällt immer der Begriff der Terra incognita, des Neulands. 'Wir machen hier Babyschritte', sagt Anna Bründl, Koordinatorin von Vier.Ruhr. ... Alle suchen noch nach der performativen Qualität des neuen Mediums, das ja Raum- und Sehgewohnheiten gleichermaßen transformiert. 'Es ist im Grunde ein Lehr- und Lernstück für alle Beteiligten', ergänzt Matthias Frense, künstlerischer Leiter im Ringlokschuppen. 'Wir sind ja im Grunde alles blutige Laien im Bereich der Netzkultur.'"

Für den Fall, dass es doch bald eine vorsichtige Öffnung der Theater - mit Abstand! - gibt, überprüfen die Intendanten bereits Inszenierungen auf "problematische Stellen", wo zu viel Nähe zwischen den Schauspielern herrscht, berichtet Rüdiger Schaper im Tagesspiegel und überlegt, wie das aussehen könnte: "Kussszenen! Prügeleien! Hitzige Dialoge auf Tuchfühlung! Herumbalgen, umarmen, vertraulich beieinander stehen, das wird es dann so auf der Bühne nicht mehr geben. Das Repertoire muss uminszeniert, die Schauspieler umerzogen werden. Eine wahnsinnige Vorstellung. Die Regisseure müssten diesen Corona-Variationen auch noch zustimmen. Mal abgesehen davon, ob es überhaupt praktikabel ist, bestehende und eingespielte Inszenierungen gleichsam in die Breite zu ziehen: Was für eine ästhetische Revolution oder Restauration soll das werden? Zu erwarten wären erstaunliche Verfremdungseffekte."

"Wer wie die Theaterintendanten gerne von Solidarität redet und sie bei der Theaterfinanzierung vom Rest der Gesellschaft einfordert, muss sie auch selbst üben, wenn ihm und ihr an der eigenen Glaubwürdigkeit gelegen ist", denkt sich Peter Laudenbach in der SZ, findet aber nur eingeschränkt Solidarität der Festangestellten mit den Freien: "Ludwig von Otting, früher über viele Jahre Geschäftsführer des Hamburger Thalia-Theaters und heute im Vorstand der Künstlerinteressenvertretung Ensemble-Netzwerk, weiß von Dutzenden Gastschauspielern, denen die Bühnen vereinbarte Gagen nicht auszahlen wollen. 'Betroffen davon sind sicher Hunderte freiberufliche Künstler', sagt von Otting. 'Dabei wird oft argumentiert, dass finanzielle Ansprüche bei höherer Gewalt entfallen. Abgesehen davon, dass das schäbig ist, ist es auch juristisch nicht haltbar. Das Betriebsrisiko liegt immer beim Veranstalter.'" Aber auch für die öffentlich finanzierten Theater könnte es irgendwann ungemütlich werden, wenn sie auf unabsehbare Zeit geschlossen bleiben müssen, meint Laudenbach: Wie wollen sie ihre Finanzierung begründen, wenn sie nicht spielen dürfen?

In Wien scheint Burg-Chef Martin Kušej dagegen von Sicherheitsabständen auf der Bühne nichts wissen zu wollen, berichtet Stefan Weiss im Standard: "Burg-Chef Kušej präzisierte indes im Gespräch mit der APA seine Bedenken: 'In einem freien, kreativen Prozess kann es keine Limits geben - man schneidet an der Seele unseres Schaffens herum, wenn man auf der Bühne 'Sicherheitsabstand' verordnet."

Weiteres: Peter Iden freut sich in der FR über die Aufzeichnungen berühmter Inszenierungen, die die Schaubühne streamt. Besprochen werden ein "Fidelio" des Theaters aufBruch, gesungen von JVA-Insassen, und in der RBB-Mediathek abrufbar (Berliner Zeitung). David Gieselmanns "Hanna Silber" im Netz (nachtkritik) und Christopher Rüpings Inszenierung von Krzysztof Kieślowskis "Dekalog" fürs Schauspielhaus Zürich im Netz (nachtkritik). Und: Der Online-Spielplan der nachtkritik.
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Musik

Für die NZZ unterhält sich Claus Lochbihler mit der Folkmusikerin Laura Marling, die ihre Tour wegen der Coronakrise absagen musste, dafür aber jetzt auf Instagram Gitarrenunterricht gibt. Kerstin Holm schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Komponisten Alexander Wustin. Besprochen werden neue Popveröffentlichungen, darunter das Comebackalbum von Fiona Apple (SZ).

Und wenn Ihnen musikalisch in ihren vier Wänden allzu fad werden sollte: Die Beastie Boys haben gerade ihren gesamten Katalog an Musikvideos in HD-Qualität auf Youtube gestellt. Jedes einzelne davon eine kleine Kostbarkeit. Eine Playlist:

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