Efeu - Die Kulturrundschau

Eh leiwand

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06.05.2020. In der NZZ erklärt die Innenarchitektin Sevil Peach, warum das Büro Mittelpunkt der Kultur einer Organisation bleiben wird. Sehr interessant findet die SZ das digitale Theatertreffen, vermisst aber Publikum, Foyer und alles andere Analoge. Welt und FAZ diskutieren, wie viel Härte eine Ballettschule erfordert. An Stelle von Serien empfiehlt ZeitOnline Videospiele als die wahren Hotspots der Großerzählung. Und der Guardian fände den BP-Preis der National Portrait Gallery noch überzeugender, wenn er ohne BP auskommen würde.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.05.2020 finden Sie hier

Film

In der Filmbranche gehen Gerüchte herum, dass ältere Figuren aus den Drehbüchern gestrichen werden, weil ihre Besetzung mit älteren Schauspielerinnen und Schauspielern in Zeiten von Corona nicht nur ein Versicherungsrisiko darstellen könnten. Unerhört findet das Sandra Kegel im online nachgereichten FAZ-Kommentar: "Ohne die Alten, Michael Caine, Dustin Hoffman, Robert Redford, Meryl Streep, würde einer ganzen Generation das filmische Gesicht genommen. Welche Geschichten würden daraus hervorgehen, wenn sie auf der Leinwand nur noch am Telefon oder via Bildschirm in Erscheinung treten darf? Man mag nicht glauben, dass es soweit kommt. Zumal, wenn man an einem gewöhnlichen Abend öffentlich-rechtliches Fernsehen schaut: Die erzählten Geschichten sind für die betagte Zielgruppe gemacht."

Passend dazu meldet Anne Vorbringer in der Berliner Zeitung, dass Judi Dench die erste 85-Jährige ist, die ein Vogue-Cover ziert: "Dieses sanft gefältete Gesicht, die strahlend blauen Augen, der markante Kurzhaarschnitt in Silbergrau. Dench ist eine Erscheinung und des Vogue-Covers mehr als würdig."

Mehr als würdig für ein Vogue-Cover: Judi Dench (Bild: Vogue)

Leute, lasst das Binge-Watchen sein und interessiert euch endlich für die tatsächlichen Hotspots des Erzählens, ruft David Hugendick auf ZeitOnline: Während Serienwegrüsseln als "angemessene Reaktion des modernen Erwachsenen auf die Gegenwart" gilt, wird "das Spielen selbst komplexer und avancierter Games weiterhin als Rückfall in ein frühkindliches Stadium der gedankenlosen Lebensverschwendung betrachtet", gerade so, "als sei das Videospiel etwas, das uns vom Wesentlichen abhält oder ablenkt. ... Selbst, wenn dort weniger auf uns wartet als eine perfekt entworfene, zwitschernde, lebendige, dem Untergang geweihte Wildwestwelt wie in 'Red Dead Redemption'; der halluzinatorische Spaziergang eines Astronauten wie in 'Lifeless Planet';die bizarre Einsamkeit des leeren Amerikas wie in 'Death Stranding', das flirrende Roboterballett von 'Titanfall', dietraurige Schönheit der Landschaft in 'Last Guardian'."

Besprochen werden Volker Heises von Arte online gestellter Archiv-Dokumentarfilm "Berlin 1945 - Tagebuch einer Großstadt" (FR, online nachgereicht von der FAZ), Herman Yaus auf Netflix veröffentlichter Film "A Home with a View" (critic.de), May el-Toukhys Familiendrama "Königin" (Berliner Zeitung), Takaski Miikes auf DVD veröffentlichte Gangsterkomödie "First Love" (taz) und die Netflix-Serie "Hollywood" (FAZ, mehr dazu bereits hier).
Archiv: Film

Bühne

In der Welt rekapituliert Manuel Brug noch einmal die Affäre um Berlins Staatliche Ballettschule, deren Leiter Ralf Stabel und Gregor Seyffert nach Vorwürfen suspendiert wurden, die Brug allerdings für eher vage und persönlich motiviert hält: Leistungsorientierung, Ausgrenzung, Mobbing. Brug sieht die Fehler eher auf Seiten der Bildungssenatorin Sandra Scheeres: "Die Senatorin wirkte überfordert. Sie delegierte ihr einstiges Lieblingskind schnell an die Staatssekretärin. Und die will ganz offensichtlich kein unbequemes Eliteinstitut mit glänzenden, weltweit bepreisten, weltweit engagierten Absolventen, das Aufmerksamkeit und Betreuung, auch Verteidigung braucht. Sie will eine ganz normale Tanzschule fürs Hüpfen und Bewegen, die keinen Ärger macht. Das steht natürlich in extremem Gegensatz zum bisherigen Schulmodell. Dem zufolge werden Zehn- bis Neunzehnjährige ab der 5. Klasse schulisch wie stilistisch für einen der brutalsten Berufe überhaupt vorbereitet. Das entschuldigt kein Fehlverhalten, fordert aber eben Disziplin, auch Härte. Tanz ist eben Hochleistungssport."

In der FAZ will Wiebke Hüster dagegen die Schulleiter nicht so leicht davon kommen lassen und verweist darauf, dass nach dem nun vorliegenden Kommissionsbericht (mehr dazu hier) der Umgang mit den Schülern tatsächlich problematisch und keinesfalls bloß aufgebauscht sei: Eine fordernde Ausbildung müsse nicht zwangsläufig zu einer "Kultur der Angst" führen: "Es ist möglich, professionelle Balletttänzer auszubilden, ohne sie zu demütigen oder gesundheitlich zu gefährden. Die Staatliche Ballettschule Berlin muss sich ändern, ohne das technische Niveau im Klassischen Tanz zu senken."

Das digitale Theatertreffen hat SZ-Kritikerin Christine Dössel vor allem bewiesen, dass Theater in seinem Kern analog ist: Das Hingehen, die Pause im Foyer, das gemeinsame Aushalten, das alle gehöre zur Kostbarkeit des Theaters aus: "So ist die Digitalität des Theatertreffens letztlich doch nur ein Notbehelf, eine wenig befriedigende Ersatzlösung, und nicht - wie viele mehr befürchteten als erhofften - das Einfallstor für das virtuelle Theater der Zukunft. Diese Tür jetzt weiter geöffnet zu haben, um zu schauen, was geht, macht dennoch Sinn. Am besten brachte es der Münchner Kammerspiele-Chef Matthias Lilienthal auf den Punkt: Digitalität sei kein Wert an sich. 'Aber wenn wir plötzlich keine Bühne mehr haben, dann gehen wir halt dahin, wo wir eine Bühne haben. Ob das ein Balkon ist oder das Internet.'"
Archiv: Bühne

Design

Weniger CO2-Ausstoß, weniger nervtötende, verschwendete Zeit im Pendelverkehr - das Arbeiten im Homeoffice hat auch was Gutes, meint im NZZ-Gespräch die Bürodesignerin Sevil Peach, die ihrerseits derzeit internationale Projekte vom Küchentisch aus organisiert. "Das Büro hat sein historisches Monopol, das einzige produktive Zentrum zu sein, verloren", sagt sie, betont aber auch, dass "das Büro der Mittelpunkt der Identität und Kultur einer Organisation bleiben. Wir sind soziale Wesen, und das Büro erfüllt eine Rolle als sozialer und kooperativer Brenn- und Knotenpunkt. ... Deshalb wird es weiterhin Büros geben, nur wahrscheinlich in einer anderen Form und möglicherweise viel kleiner. Wir wissen bereits mit Sicherheit, dass die Büros in der Regel nur zu 60 bis 70 Prozent ihrer Kapazität besetzt sind. Wir wissen von Situationen, in denen eine Person einen festen Schreibtisch zugeteilt erhält, selbst wenn sie quasi in Vollzeit auf der anderen Seite des Erdballs arbeitet!"

In der FAZ bespricht Rose-Maria Gopp die Ausstellung "Kleider in Bewegung - Frauenmode seit 1850" im Historischen Museum in Frankfurt.
Archiv: Design

Kunst

Freunde in einer Berliner Bar: Jiab Prachakuls "Night Talk"

Der in Berlin lebende Autodidakt und Künstler Jiab Prachakul hat mit seinem Bild "Night Talk" den BP Award der National Portratit Gallery gewonnen, meldet Lanre Bakare im Guardian, und es ist das erste Mal, dass in der Jury kein Vertreter des Ölkonzern saß: "Die Absetzung des BP-Vertreters beschrieb der Künstler Gary Hume als 'kleinen Sieg'. Er hatte vor der Preisvergabe des vergangenen Jahren in einem offenen Brief an die National Portrait Gallery appelliert, auf BP als Sponsor ganz zu verzichten. Gegenüber dem Guardian zeigt er sich 'unglaublich enttäuscht, dass die NPG nicht dem Kurs anderer Institutionen wie der Royal Shakespeare Society und den National Galleries Scotland gefolgt sei und BP fallen gelassen habe."

Im Tagesspiegel gibt Christiane Peitz einen Ausblick auf die Wiedereröffnung der Berliner Museen und Galerien: "Den Rekord hält das kleine, feine Museum der unerhörten Dinge in der Schöneberger Crellestraße, das am 13. Mai um 15 Uhr wieder loslegt: Es erlaubt zwei Besuchern den zeitgleichen Eintritt und zitiert in seinem virtuellen Schaufenster die passende (bestimmt chinesische) Weisheit dazu: 'Schüler: Wie kann ich den Pfad des Tees beschreiten? Meister: Trete dir selbst auf die Füße.'"

Weiteres: Ebenfalls im Tagesspiegel weist Nicola Kuhn auf die tatsächlich schon zugängliche Christo-Schau im Palais Populaire der Deutschen Bank hin. In der Berliner Zeitung ergänzt Ingeborg Ruthe, dass jedoch stets nur 35 Besucher eingelassen werden. Im SZ-Interview äußert sich Yilmaz Dziewior, der Direktor des Kölner Museums Ludwig, sehr verhalten zu seinen Plänen für den deutschen Pavillon der Biennale von Venedig, die 2021 stattfinden soll, vielleicht aber auch 2022.
Archiv: Kunst

Literatur

In der NZZ meditiert der mazedonische Schriftsteller Nikola Madzirov über den Begriff der Herkunft und sein Leben als nomadischer Städtereiser: "Die Städte, in die ich ziehe, erlebe ich meist als Zuflucht vor anhaltender innerer Flucht, so wie ein ordentliches Hotelzimmer für einen Gast, der die Sprache des Landes nicht versteht, in das er gekommen ist. Dieser emotionale Nomadismus kann die Grundlage für eine neue architektonische Harmonie der grenzenlosen Räume sein. ... Bei der Flucht zu etwas und nicht vor etwas öffnen sich die neuen Städte ganz von selbst, wie die Türen im Supermarkt, in dem es alles gibt außer Hoffnungen mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum."

Weitere Artikel: Gusel Jachina spricht in der FR über ihre Romane, die sich mit der Stalinzeit und den Folgen befassen. "Suleika öffnet die Augen" wurde gerade fürs russische Fernsehen verfilmt - prompt hagelte es Kritik, die russische Schriftstellerin würde die Vergangenheit des Landes beschmutzen. Paul Ingendaay erzählt in der FAZ die wechselhafte Geschichte des spanischen Formentor-Preises, der in diesem Jahr an den niederländischen Schriftsteller Cees Nooteboom geht. Lars von Törne wirft für den Tagesspiegel einen Blick in die Comicszene in Zeiten von Corona. Auf 54books geht das kollektiv geführte Corona-Tagebuch weiter. Für die FAZ besucht Volker Mehnert das riesige Antiquariat Barter Books im nordenglischen Alnwick. In den online nachgereichten "Actionszenen der Weltliteratur" erinnert Gisela Trahms daran, wie Marie Luise Kaschnitz zum Schlittschuhlaufen auf Abstand ging.

Besprochen werden unter anderem eine Comicbiografie über Marie Curie (Dlf Kultur), Niels Penkes Studie "Jünger und die Folgen" (Tagesspiegel), Steven Applebys auf Englisch erschienener Comic "Dragman", der laut FAZ-Kritiker Andreas Platthaus eine Übersetzung ins Deutsche unbedingt verdient hat,  Volker Ullrichs "Acht Tage im Mai" (taz), Georg M. Oswalds "Vorleben" (Tagesspiegel), Fabio Andinas "Tage mit Felice" (NZZ), Oliver Guez' "Koskas und die Wirren der Liebe" (Tagesspiegel), Tomas Espedals Langgedicht "Das Jahr" (SZ) und Geovani Martins' Storyband "Aus dem Schatten" (FAZ).
Archiv: Literatur

Musik

Im Münsterland soll demnächst wieder ein Klassikfestival steigen - und zwar aus Corona-Gründen im Autokino, meldet Frederik Hanssen im Tagesspiegel. Den Sound bekommt man dann per UKW ins Autoradio, eine Leinwand vergrößert die abgefilmten Musiker: "Auch wenn 'Livemusik' draufsteht, ist in Borken also letztlich doch vor allem 'Kinoerlebnis' drin. Ein Fall von klassischem Selbstbetrug."

Außerdem: Sehr skeptisch beobachtet Amira Ben Saoud im Standard den Erfolg der 21-jährigen Salzburger Popmusikerin Mathea: "Eh leiwand, wenn man keine anderen Sorgen hat, als auf 'Irgendeiner Party' rumzulungern." Hans-Jürgen Linke schreibt in der FR einen Nachruf auf den Jazzmusiker Jürgen Wuchner. Christian Schachinger (Standard) und Johannes von Weizsäcker (Berliner Zeitung) schreiben Nachrufe auf den Stranglers-Keyboarder Dave Greenfield, einem weiteren Opfer des Coronavirus. Wie man in Coronazeiten Musikvideos dreht, zeigt sehr vorbildlich unter anderem das Trio Haim, schreibt Annett Scheffel in der SZ-Popkolumne - nämlich "ordnungsgemäß in zwei Meter Abstand auf einem Basketballplatz":



Besprochen wird ein Album mit Elvis-Coverversionen des Metalmusikers Glenn Danzig, das die Welt allerdings wirklich nicht gebrauch hat, meint Standard-Kritiker Karl Fluch: "Es gelingt Danzig tatsächlich in keinem Song, den Vorlagen Mehrwert zu verleihen."
Archiv: Musik