Efeu - Die Kulturrundschau

Hanswurst in farbenfrohen Socken

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16.05.2020. Corona hilft Jair Bolsonaro, den "Genozid an den Indigenen" zu Ende zu bringen, schreibt die indigene Schauspielerin Kay Sara in ihrer von der taz dokumentierten Eröffnungsrede der Wiener Festwochen. Die SZ bewundert in Frankfurt karibischen Biedermeier von Frank Walter. Zeit Online lässt sich von Patrick Radden Keefe durch die irre Welt der Verschwörungstheorien führen. Im Tagesspiegel befreit die Zeichnerin Nina Bunjevac das Okkulte. Der Filmdienst blickt mit Ruben Östlund auf die Erschöpfung unserer Welt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.05.2020 finden Sie hier

Bühne

Für die taz dokumentiert Milo Rau die Rede, mit der die indigene Schauspielerin und Aktivistin Kay Sara diesen Samstag die Wiener Festwochen eröffnet hätte. Zugleich ist die heute um 18 Uhr ausgestrahlte Rede die erste Folge des von Milo Rau, der Akademie der Künste, dem NTGent und der Kulturstiftung des Bundes initiierten Debatten-Livestreams "School of Resistance". Jair Bolsonaro bringe den "Genozid an den Indigenen" durch Corona zu Ende, klagt sie: "Es ist keine Zeit mehr für richtige Beerdigungen. Menschen liegen in Massengräbern, Traktoren schütten sie zu. Andere liegen in den Straßen, unbeerdigt wie Antigones Bruder. Die Weißen nutzen das Chaos, um noch tiefer in die Wälder einzudringen. Die Feuer werden nicht mehr gelöscht. Von wem auch? Wer den Holzfällern in die Hände fällt, wird ermordet. Und was hat Bolsonaro getan? Das, was er immer getan hat: Er schüttelt die Hände seiner Unterstützer und verspottet die Toten. Er hat seine Mitarbeiter beauftragt, die indigenen Völker zu benachrichtigen, dass eine Krankheit ausgebrochen sei. Das ist ein Aufruf zum Mord an uns. Bolsonaro will den Genozid an den Indigenen, der seit 500 Jahren anhält, zu Ende bringen."

In der Berliner Zeitung wirft Birgit Walter Bildungssenatorin Sandra Scheeres und der von ihr ins Leben gerufenen Clearingstelle die "mediale Hinrichtung" der Berliner Ballettschule vor: "Die Nachrichten klingen barbarisch. Fiebernde Kinder würden aus dem Bett geholt, weil Lehrer auf dem Auftritt beharrten. Verletzungen spielten keine Rolle. Medizinische Untersuchungen würden untersagt. Alle sexuellen Übergriffe bis auf Vergewaltigungen seien vorgekommen. Anschreien sei der normale Umgangston. Nach sechs Monaten hätten die Kinder ihre Fröhlichkeit verloren."

Weiteres: Für die Nachtkritik hat Harald Raab bei Theatermachern nachgefragt, wie sie mit den Corona-Maßnahmen umgehen und welche Verluste die einzelnen Theater verzeichnen. Auch das Berliner Festival Tanz im August wird coronabedingt nur digital stattfinden, meldet der Tagesspiegel. Während die Bregenzer Festspiele ebenfalls ausfallen, finden die Salzburger Festspiele in modifizierter Form statt, meldet der Standard. In der FAZ berichtet Gina Thomas, wie Englands Musiktheater mit der Coronakrise umgehen.
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Literatur

Viel zu unbekannt in Deutschland ist der polnische Nachkriegsautor Leopold Tyrmand und das muss sich unbedingt ändern, meint Gerhard Gnauck in der FAZ. Unter anderem Tyrmands im Warschau der 50er angesiedelter Roman "Der Böse" war damals ein riesiger Erfolg - zu lesen gibt es da einen lebensmutigen "Kriminalroman mit amourösen Verwicklungen, ein Porträt der Gesellschaft mit schnellen Pingpong-Dialogen" Und was für ein atemberaubendes Leben dieser Tyrmand geführt hatte: Er war Feuilletonist in den 40ern, ein Bekannter von Marcel Reich-Ranicki, floh als jüdischer Pole vor den Nazis - allerdings mit gefälschten Papieren nach Wiesbaden! -, gründete später in Warschau einen Jazzclub, ging in die Opposition, migrierte schließlich in die USA, wo er bis zu seinem Tod 1985 in Florida als konservativer Publizist tätig war. Seine Erfahrungen in den 50ern veröffentlichte er in Form eines Tagebuchs erst 1980 und legte damit "ein in seiner Breite kaum übertroffenes Dokument des gesellschaftlichen Lebens der späten Stalinzeit" vor. "Seine Beziehungen und erotischen Erlebnisse schildert der Autor ebenso wie seine gesellschaftliche Stellung. Er ist sich sicher: Als 'Hanswurst in farbenfrohen Socken, der irgendeinen Unsinn über den (im Ostblock unerwünschten) Jazz faselt', sei er für das System und dessen Ideologie gefährlicher als die gesamte katholische Kirche."

Im Tagesspiegel spricht Lars von Törne mit Nina Bunjevac über ihren Comic "Bezimena", der sich mit dem Thema "sexualisierte Gewalt" aus Täterperspektive beschäftigt. Dazu inspiriert hat sie der Philosoph Alan Watts und eine Psychoanalyse nach der Lehre von C.G. Jung. "Ich wollte eine erotische Geschichte erzählen, die herausfordernd ist, sexuelle Fantasien und Vergewaltigungsszenen enthält." Doch "dann bekam ich Alpträume, hatte immer mehr Bilder im Kopf, und merkte, dass die Geschichte doch persönlicher ist als anfangs gedacht. Zugleich wollte ich etwas wie in Jean Cocteaus Orpheus-Trilogie erzählen, also eine surrealistische Geschichte, die man auf verschiedene Weise deuten kann. ... Für mich ist die Jung'sche Analyse eine praktische Anwendung überlieferten Wissens. Dabei geht es darum, sich seiner Selbst bewusster zu werden. Ich versuche, das Okkulte loszulösen von schwarzer, zeremonieller Magie, es zu befreien und dahin zu führen, wo es für mich hingehört: in die Philosophie."

Weitere Artikel: Bernd Noack erinnert in der NZZ an das Wiener Café Griensteidl, das im 19. Jahrhundert ein wichtiger Literatentreff war. Die Berliner Zeitung veröffentlicht drei Gedichte von Volker Braun zur momentanen Lage. Für die Literarische Welt porträtiert Richard Kämmerlings die Schriftstellerin Anna Katharina Hahn. Außerdem bringt die Literarische Welt eine Korrespondenz zwischen der Schriftstellerin Ilma Rakusa und dem Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow.

Besprochen werden unter anderem Olivia Wenzels "1000 Serpentinen Angst" (SZ), Ta-Nehisi Coates' Debütroman "Der Wassertänzer" (Intellectures), Helena Janeczeks "Das Mädchen mit der Leica" (taz), Knud Romers "Die Kartographie der Hölle" (FR), Bregje Hofstedes Essay "Die Wiederentdeckung des Körpers" (taz), Maya Lasker-Wallfischs "Briefe nach Breslau. Meine Geschichte über drei Generationen" (Literarische Welt), Maxim Billers "Wer nichts glaubt, schreibt. Essays über Deutschland und die Literatur" (Literarische Welt) und Delphine de Vigans "Dankbarkeiten" (FAZ).
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Kunst

Bild: Frank Walter, Ohne Titel, o. J., Foto: Axel Schneider

Glücklich kehrt Catrin Lorch in der SZ aus dem Frankfurter Museum für Moderne Kunst zurück, das dem karibischen Maler, Bildhauer und Dichter Frank Walter die erste große Retrospektive widmet. Fast "manisch" erscheint Lorch das Werk des Künstlers und Nachfahren von Sklaven und deutschen Plantagenbesitzern, der in englischen Bergwerken und bei Mannesmann im Ruhrgebiet arbeitete, bevor er nach Antigua zurückkehrte: "Wenn man die Motive, denen er sich nach seiner Rückkehr nach Antigua im Jahr 1967 widmete, jetzt in ihrer Gesamtheit erlebt, dann erstaunt es, wie sie an der Oberfläche den Kanon einer bürgerlichen, fast biedermeierlichen Malerei nachzeichnen. Porträts, Freundschaftsbilder, Tiere, Landschaften, vor allem Panoramen - ein paar Brocken Berg, Horizontlinien, Wasserflächen, Himmel, Palmen. Leichthändig wechselt er zwischen Figuration und Abstraktion, zwischen traumhaften Szenerien und sehr konkreten Abbildungen."

Ist der Kunst- und Sammlerstandort Berlin noch zu retten, haben Swantje Karich und Marcus Woeller in der Welt Berliner Galeristen nach dem Abgang der Sammlungen Olbricht und Flick gefragt. In der Szene macht sich  Ärger über die Berliner Kulturpolitik breit: "Es war ein Riesenfehler, dass Berlin die Rieckhallen nicht gekauft hat, die abgerissen werden, und selbst der Hamburger Bahnhof, Berlins Museum für Gegenwartskunst, nicht mehr dem Bund oder der Stadt gehört. Die Gewichtung der Politik ist falsch. Mich macht es krank, zu sehen, welches Vermögen ausgegeben wird, um das Schloss als Humboldt-Forum wieder aufzubauen", meint etwa Johann König, während Nicole Hackert von Contemporary Fine Arts ergänzt: "Die 2014 eingeführte 19-Prozent-Mehrwertsteuer hat uns als Kunsthandelsort zurückgeworfen und international isoliert. Das Kulturgutschutzgesetz betrifft, auch wenn es zeitgenössische Kunst vermeintlich nicht trifft, sehr wohl auch die auf Gegenwart spezialisierten Galerien, weil es ein investitions- und handelsfeindliches Klima schafft."

Im taz-Gespräch mit Brigitte Werneburg macht sich Eigen+Art-Galerist Judy Lybke hingegen keine Sorge um die Kunsthochburg Berlin: "Berlin hat einen eigenen Rhythmus. Solange es nicht eine adäquate Stadt in Deutschland gibt, die für Künstler*innen und Kreative längerfristig interessanter ist, wird Berlin die Hochburg bleiben. Die einzige Stadt, die auch infrage kommt, ist Leipzig."

Weiteres: Bernhard Schulz (Tagesspiegel) und Ingeborg Ruthe (Berliner Zeitung) gratulieren Jasper Johns zum Neunzigsten. Ingeborg Ruthe (FR) und Nicole Scheyerer (FAZ) gratulieren außerdem Valie Export zum Achtzigsten. Auf Zeit Online schreibt Moritz Müller-Wirth einen Nachruf auf die im Alter von 81 Jahren verstorbene Beatles-Fotografien Astrid Kirchherr.

Besprochen wird die Ausstellung "Pop on Paper" im Berliner Kupferstichkabinett (taz) und die Ausstellung "Gute Aussichten 2019/2020" in den Hamburger Deichtorhallen, in der sich Nachwuchs-FotografInnen mit Krieg in Zeiten der Desinformation auseinandersetzen (taz).
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Film

Erschöpft und dekadent: die Filme von Ruben Östlund. Szene aus "The Square".

Rüdiger Suchsland führt im Filmdienst durch die Filme des schwedischen Regisseurs Ruben Östlund, die in den kommenden Tagen auf Arte gezeigt werden und dort zum Teil auch schon bereit stehen. Insbesondere sein Spätwerk ist auf dem "Terrain des Moralischen" angesiedelt: "Seine ungemein reichhaltigen, von Einfällen strotzenden Filme sind präzise Informationen über den Stand der Dinge: Dekadenzanalysen über Unsicherheit und die Erschöpfung unserer Welt, über sozialen Selbstmord aus Angst vor dem Tode - und über die Notwendigkeit, uns neu zu erfinden." Im Perlentaucher hatte Katrin Doerksen Östlunds Cannes-Gewinner "The Square" zum Kinostart besprochen.

Außerdem: Axel Timo Purr zeigt auf Artechock, wie sich die vor 50 Jahren gegründete RAF auf das deutsche Kino niedergeschlagen hat. Claus Löser befasst sich in der Berliner Zeitung mit Verfilmungen des Stoffs der Jeanne d'Arc. Besprochen werden die Netflix-Serien "Eddy" (Artechock) und "White Lines" (ZeitOnline, FAZ).
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Musik

Klaus Meine und der CIA: der Podcast "Wind of Change"

Große Freude hat Dirk Peitz von ZeitOnline mit dem (wirklich sehr vergnüglichen) Podcast "Wind of Change", der der irren Verschwörungstheorie nachgeht, dass die gleichnamige Schlager-Ballade der Scorpions, die seinerzeit den Fall des Eisernen Vorhangs erst vorausgesehen und dann begleitet hat, in Wahrheit ein von der CIA lanciertes Stück psychologischer Kriegsführung gewesen sei. Hinter dem Podcast steckt mit Patrick Radden Keefe kein Verrückter mit Aluhut, sondern ein seriös vorgehender Journalist des New Yorker und der "nimmt einen mit auf eine Reise durch die Historie der Kalte-Krieg-Spionage, es geht vom CIA-Hauptquartier in Langley nach Kiew, Moskau, Florida und, kein Scherz, Burgwedel in Niedersachsen. Überall finden sich kleine Informationen zu den Scorpions oder auch bloß eine skurrile Spionagegeschichte, die überhaupt nichts mit dem eigentlichen Plot zu tun hat. ... Das Schönste an dieser irren Story ist, dass man Klaus Meine, durch die Augen eines fabelhaften amerikanischen Geschichtenerzählers betrachtet, im Hotel Kokenhof in Burgwedel sitzend, am Ende ein bisschen lieben lernt." Auf Spotify stehen bereits sämtliche Folgen des Podcasts bereit.

Weitere Artikel: In der NZZ stellt Thomas Schacher das vom Schweizer öffentlich-rechtlichen Rundfunk betriebene Portal neo.mx3.ch vor, das die Schweizer Musikszene repräsentieren soll. Moritz Müller-Wirth schreibt auf ZeitOnline einen Nachruf auf die Fotografin Astrid Kirchherr, die in den frühen 60ern die Beatles in Hamburg fotografiert hatte. Und die SZ-Korrespondenten halten ihre Mikrofone aus dem Fenster und befassen sich mit der "neuen Stille der Städte".

Besprochen werden eine Compilation der Sleaford Mods mit Raritären und Greatest Hits (taz, Juliane Liebert hat sich für die SZ mit der Band getroffen) und das neue Album der Einstürzenden Neubauten (Berliner Zeitung, Standard, mehr dazu bereits hier und dort).
Archiv: Musik