Efeu - Die Kulturrundschau

Religion, Rebellion und Drogensucht

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.05.2020. Die FAZ opponiert gegen zwanghafte Stellenlektüre, die auch bei Goethe und Anne Frank Corona-Hinweise erblickt. Le Monde schreibt zum Tod des  Autors Albert Memmi. Die NZZ beharrt trotz Corona auf der Verdichtung im Städtebau. Die taz observiert im ZKM mit Bruno Latour den Lifestatus des Strengbach. Boredpanda bewundert einen Magritte mit Sonnenschirm und Maske. ZeitOnline und Berliner Zeitung lernen von The 1975, auch der flüchtigsten Liebe ein Denkmal zu setzen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.05.2020 finden Sie hier

Kunst

Rasa Smite and Raitis Smits, Atmospheric Forest, 2018-ongoing. Courtesy of the artist © Rasa Smite and Raitis Smits


Dem Geist von Strengbach spürt taz-Kritikerin Carmela Thiele in der Ausstellung "Critical Zones" nach, für die der französische Soziologe Bruno Latour eine hydrochemische Forschungsstation aus den Vogesen nachgebaut hat, um Kunst und Naturwissenschaft im Karlsruher ZKM zusammenzubringen: "Wir sollen uns daran gewöhnen, Wald, Feld, Wiese, See, Gebirge und Meer als interaktive Systeme sich bedingender Faktoren zu begreifen, die sich ständig verändern. Im 'Observatorium' solle Landschaft durch die Linse von Messinstrumenten dargestellt werden, sagt die Architekturhistorikerin Alexandra Arènes, wir alle müssten uns als Faktoren solcher Datenflüsse begreifen. Zusammen mit dem Architekten Soheil Hajmirbaba entwickelte sie auf der Basis des geologischen Profils des Freilichtlabors Strengbach eine Raum gewordene Erzählung dieses Vorzeigeprojekts französischer Umweltforschung. Metallleisten deuten das Erdniveau an, das sich bis ins nächste Stockwerk des Lichthofs schraubt. Wasserauffangbecken und mit Folien überzogene Holzgestelle stehen für die Messstationen, mit denen seit 1985 in Strengbach der Lifestatus der Flüsse, die Zusammensetzung des Niederschlags, der Vegetation und der Luft gemessen wird."

(via 3quarksdaily) Der Corona-Lockdown lässt eine ganze Menge Fantasien erblühen! Die Nachstellung berühmter Gemälde mit Zutaten aus dem eigenen Haushalt, die das Getty Museum ermuntert, bringt immer neue Meisterwerke hervor. Zum Beispiel diesen Magritte von Stephen Dixon:

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Weiteres: In der großen Schau zum 125. Geburtstag des Malers Franz Radziwill im Landesmuseum Oldenburg erkennt FAZ-Kritiker Stefan Trinks, was die Bilder des großen Mitläufers trotz allem so faszinierend und unheimlich macht: "Ähnlich wie Gauguin - einem anderen großen Autodidakten - steht ihm bei den oft kreischenden Komplementärkontrasten keine akademische Ausbildung mit 'Tunlichst nicht zu kombinieren!' im Weg". Die SZ-Kritikerinnen Catrin Lorch und Laura Weissmüller klinken sich in die Zoom-Meetings ein, mit denen sich auch die Akademien für Kunst und Architektur über die Corona-Zeit hinweghelfen müssen. Beate Scheder informiert in der taz über den "Sunday Open", an dem die Berliner Galerien jetzt einmal im Monat geöffnet haben werden. Paul Ingendaay steht bewundernd vor dem Tempel von Borobudur in Java, will in den Darstellungen aus dem 9. Jahrhundert aber ausgerechnet "Hollywoodgesichter" erkennen. Besprochen wird die Ausstellung "Trauer" in der Hamburger Kunsthalle (SZ).
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Bühne

Im Tagesspiegel berichtet Frederik Hanssen, dass in Berlin die Theater mindestens bis zum 31. Juli geschlossen bleiben, in der Berliner Zeitung schreibt dazu Petra Kohse. Der Tagesspiegel meldet zudem, dass sich die Bayreuther Festspiele von ihrem Geschäftsführer Holger von Berg trennen. Der Standard weiß, dass in der ein oder anderen Form die Salzburger Festspiele stattfinden werden. Und hier der Online-Spielplan der Nachtkritik.
Archiv: Bühne

Film

Für die Seite Drei der SZ hat sich Johanna Adorján die logistischen Probleme gegenwärtiger Filmprojekte am Beispiel von Hans-Christian Schmids neuem Film "Wir sind dann wohl die Angehörigen" (nach Johann Scheerers gleichnamigem Buch über die Entführung seines Vaters Jan Philipp Reemtsma) angesehen. Insbesondere das Casting steht unter Stress und das nicht nur, weil der für die Rolle des 13-jährigen Erzählers infrage kommende Schauspieler unter Umständen bald gar nicht mehr für diese Rolle geeignet ist, erfährt Adorján von Suse Marquardt, die fürs Casting zuständig ist: "Aus ihrem sehr konkreten Beruf, der auch viel mit Logistik zu tun hat, wurde eine Art in der Fantasie spielendes Strategiespiel, ein einziges heiteres Was-wäre-wenn: 'Und es ist nicht nur so, dass ich alles im Konjunktiv denke, also welche Besetzung käme im Oktober infrage, welche im Januar, welche im Herbst 2021? Sondern die Schauspielagenten sagen auch: Theoretisch hätte er oder sie im Oktober eine Premiere, aber muss man mal sehen, ob die nicht verschoben wird. Es ist ein richtiges Kniffelspiel.'"

Besprochen werden die HBO-Serie "The Plot Against America" auf Grundlage des gleichnamigen Romans von Philipp Roth (Jungle World), die Netflix-Serie "Snowpiercer" (ZeitOnline), die Netflix-Komödie "Die Turteltauben" (SZ) und die Netflix-Animationsserie "Enthüllungen zu Mitternacht" (FAZ).
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Literatur

Der tunesisch-jüdisch-französische Autor Albert Memmi ist im Alter von 99 Jahren gestorben. Catherine Simon verfasst den Nachruf für Le Monde: "Geboren als Sohn des Sattlers Fraji Memmi und der Berberin Maïra Serfati, einer Analphabetin, deren Bild er gerahmt in der Büroecke seiner Pariser Wohnung in der Rue Saint-Merri hängen hatte, wuchs der junge Albert inmitten seiner zwölf Brüder und Schwestern auf. Ab dem Alter von vier Jahren besuchte er die Rabbinerschule und lernte, Hebräisch in traditionellen Texten zu entziffern." In seinem autobiografischen Roman "La Statue de Sel" von 1953 erzählt er seine Geschichte. Memmi gilt neben Albert Camus in Frankreich als einer der frühesten Chronisten der Dekolonisierung, die er mit Sympathie begleitete, obwohl er wusste, dass sie für ihn Emigration bedeutete (wir haben in der Magazinrundschau im März auf ein sehr schönes Porträt über Memmi verlinkt.)

Manfred Osten staunt in der NZZ darüber, dass sich selbst bei Goethe Passagen finden, die sich auf die Corona-Gegenwart münzen lassen. Hannah Bethke zeigt sich in der FAZ von solcher Art modischer Stellenlektüre hingegen sehr genervt. Mitunter entgleiten dabei nämlich auch die Maßstäbe und dann "wird es vollends abstrus, in der Ahistorizität nachgerade ärgerlich und zudem geschmacklos, wenn nun auch noch die Verfolgten des NS-Regimes dafür herhalten müssen, uns in der Coronazeit zu trösten. 'Das Tagebuch der Anne Frank', so war jetzt im Tagesspiegel zu lesen, sei 'das Buch der Stunde'. Denn Anne Frank zeige uns, wie man Isolation verarbeiten könne: durch Introspektion. ... Wie bitte? Bedarf es im Ernst einer Aneignung der jüdischen Lebensrealität in der NS-Diktatur, von der wir Nachgeborenen uns kaum eine Vorstellung machen können, um auf die Defizite unseres Umgangs mit dem Virus aufmerksam zu machen?"

Dass der deutsche Beat-Schriftsteller und frühere Lufthansa-Pilot Jürgen Ploog, der gemeinsam mit Jörg Fauser und Carl Weissner in den Siebzigern die Literaturzeitschrift Gasolin 23 gegründet hat, vor einer Woche gestorben ist, scheint den Feuilletons entgangen zu sein. Eine knappe Meldung finden wir in der Jungen Welt, einen umfangreichen englischsprachigen Nachruf von Edward S. Robinson gibt es im Blog des European Beat Studies Network: "Ploog kam eine Schlüsselposition darin zu, die Cut-Ups nach Europa zu bringen und, was noch tragender ist, die Methode auf jene Weise zu propagieren, wie auch Burroughs dies tat, als er schrieb: 'Cut-Ups sind für alle da.' ... Seine begeistertes Interesse an und sein Bewusstsein für Sprache und ihre Formbarkeiten machten aus Jürgen Ploog einen starken Vertreter der Cut-Ups. Seine Liebe zum Detail und den Nuancen von Bedeutungen, aber auch sein geschärfter Blick für Gegenüberstellungen und Missverhältnisse, belegen nicht nur seinen leidenschaftlichen Intellekt, sondern weisen Ploog auch als jemanden aus, der sich ganz der Verfeinerung seines Handwerks widmete."

Weitere Artikel: Für die Berliner Zeitung unterhält sich Susanne Lenz mit der amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Veronika Fuechtner, die derzeit in Berlin über Julia Mann, die Mutter von unter anderem Heinrich und Thomas, forscht. In der FAZ gratuliert Andreas Platthaus der Schriftstellerin Regina Scheer zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Graham Swifts "Da sind wir" (FR), Cai Juns Thriller "Rachegeist" (FR), Peer Jongelings Comic "Hattest du eigentlich schon die Operation?" (Tagesspiegel), Thomas Wolfes "Eine Deutschlandreise in sechs Etappen. Literarische Zeitbilder 1926-1936" (SZ) und Bücher von Leonid Zypkin (FAZ).
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Architektur

Mehrfamilienhaus in Cham. Foto: Karamuk Kuo Architects

In der NZZ denkt Sabine von Fischer über städtische Verdichtung nach, denn auch Corona werde die Zersiedelung in der Fläche nicht sinnvoller machen. Als beispielhaft erscheint ihr ein Bau in Cham am Zugersee, für dessen unattraktive Ortseinfahrt das Architekturbüro Karamuk Kuo ein Mehrfamilienhaus entwarf: "Das Haus ist ein monolithisches Ganzes und vielförmig zugleich: Der kleine Enkel des berühmten New Yorker Flatiron Building mit seiner weniger als 4 Meter schmalen, über 16 Meter hohen Front fächert sich im spitzwinkligen Grundstück so auf, dass er auf der Bahnhofseite wie zwei aneinandergewachsene Volumen wirkt. Als siamesischen Zwilling bezeichnet die Architektin Jeannette Kuo den Baukörper auf dieser Seite, als Felsenklippe auf der Seite entlang der Gleise und als Bug der 'Titanic' über der Straßenverzweigung: Das hohe Haus ist ein Flaggschiff der inneren Verdichtung in der Agglomeration, das kaum versinken wird."
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Musik

The 1975 werden gerade für ihr neues Album "Notes on a Conditional Form" ziemlich gefeiert. Daniel Gerhardt erklärt auf ZeitOnline, warum: "Die Band ... hat sich im Lauf der Jahre zu einem der letzten Poprockacts entwickelt, die aus den vollen Möglichkeiten von Musikgeschichte und Internet schöpfen. Keine Idee ist zu groß für The 1975, kein Statement zu vollmundig. Jede noch so flüchtige Liebe ist es wert, in einem Denkmal verewigt zu werden." Und genau darin liegt ein Problem, meint Nadia Dilger in der Berliner Zeitung: Die Band nimmt alles mit - "House, Hip-Hop und Klassik - Religion, Rebellion und Drogensucht." Auf Dilger wirkt das so, "als hätten sich die etwa 30-jährigen Männer eine Playlist zusammengestellt, wie sie auf YouTube zufällig abspielt wird: Songs, mit denen sie aufgewachsen sind und Songs, die sie jetzt mögen. ... Für einen Radiosender oder eine Familienfeier? Perfekt! Für die Rolle des großen Bruders in der Pop-Rock-World nicht. Aber vielleicht wollen The 1975 auch gar nichts anderes als ein Sandwichkind sein." Wir hören trotzdem rein:



Außerdem: In der Welt gratuliert Manuel Brug der Staatskapelle Berlin zum 450-jährigen Bestehen. Besprochen werden das neue Album von The 1975 (Berliner Zeitung, ZeitOnline), Oliver Craskes Biografie über Ravi Shankar (NZZ), neue Klassikveröffentlichungen, darunter eine neue Kammermusik-CD von Benoît Menut, der sich darin für SZ-Klassikkolomnist Reinhard J. Brembeck einmal mehr als "Meister der Subtilitäten" offenbart, und Golden Diskó Ships Album "Araceae", dessen "warme Soundästhetik" taz-Kritikerin Stephanie Grimm sehr umschmeichelt. Ein Stück daraus:

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