Efeu - Die Kulturrundschau

Potpourri stürzender Linien

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.05.2020. Der Standard fragt, wieso das Düsseldorfer Museum Kunstpalast acht Millionen Euro für ein Foto-Konvolut schnöder Abzüge ausgibt. Die FAZ streift im Hamburger Bucerius Forum durch die Welten britischer Postavantgardisten. In der Jungle World erkunden Tobias Premper und Martin Lechner den Übergang vom Gedanken zur Schrift. Und zum Tod von Renate Krößner beteuert die SZ, dass ihre roten Glitzerschuhe wirklicher waren als das Hinterhofgrau der DDR.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.05.2020 finden Sie hier

Kunst

Anstatt ihre Museumsbestände nach und nach aufzustocken, kaprizieren sich deutsche Institutionen zunehmend auf "das Modell des Bausch-und-Bogen-Ankaufs", wundert sich Standard-Kritikerin Olga Kronsteiner in einem Artikel vom 23. Mai, den wir leider übersehen hatten. Sehr fragwürdig erscheint ihr zufolge nun der Ankauf von 3039 Fotografien der Galeristin Annette Kicken durch das Düsseldorfer Museum Kunstpalast, und das nicht nur weil Düsseldorf günstigere Marktbedingungen verpasst hat: "Aktuelle Recherchen des deutschen Handelsblatts geben einem Verdacht nun zusätzliche Nahrung: Der Kaufpreis von acht Millionen dürfte völlig überzogen gewesen sein. Das bestätigen mittlerweile zahlreiche internationale Fotohistoriker, nicht nur europäische Experten. Konkret dürfte die Anzahl später Abzüge überwiegen, die jedoch kaum musealen Wert hätten. Laut Handelsblatt handle es sich bei der 'Sammlung' um einen 'über 40 Jahre von permanenten Zu- und Abflüssen geprägten Warenstock einer Galerie'. Neben 'Originalabzügen aus dem zeitlichen Umfeld der Aufnahme' beinhaltet er 'auch auffällig viele spätere Abzüge, Mappenwerke sowie 413 anonyme Bilder und Schnappschüsse von nicht durchweg origineller Art'."

David Hockney: Mr and Mrs Clark and Percy, 1970/71, Tate, © David Hockney, Foto: Tate


In der David-Hockney-Ausstellung, die nach London nun auch im Hamburger Bucerius-Forum zu sehen ist, erlebt FAZ-Kritiker Andreas Kilb sehr schön, dass Post-Avantgardisten wie Hockney anders als die klassischen Avantgardisten nie darum kämpften, einen eigenen Stil am Markt durchzuboxen: "Manchmal hat man das Gefühl, eine Gruppenausstellung vier verschiedener Künstler zu betrachten. Da ist der Schüler von Balthus, der 1970 das Ehepaar Celia und Ossie Clark mit der Perserkatze Percy malt; der Schüler von Beckmann und Matisse, der Stühle, Zimmer und Innenhöfe eines mexikanischen Allerweltshotels wie ein Origami in seine Bildräume hineinfaltet; der Picasso-Epigone, der seine alte Freundin Celia Birtwell als Dora-Maar-Verschnitt zwischen sorgsam gebauschte Kuben und seine Mutter als Potpourri stürzender Linien in einen lieblos lithographierten Sessel setzt."

Weiteres: Der Guardian meldet, dass der Turner Prize für dieses Jahr abgesagt wird. Stattdessen sollen zehn Stipendien an KünstlerInnen vergeben werden, die das Geld gebrauchen können. Mit großem Interesse liest Brigitte Werneburg in der taz den von Katharina Steidl herausgegebenen Band "Wozu Gender?" der Zeitschrift Fotogeschichte, der nicht nur nach dem Geschlecht in der Fotografie fragt, sondern auch nach der sozialen Konstruiertheit visueller Kulturen.
Archiv: Kunst

Film



Die Schauspielerin Renate Krößner ist gestorben. "The sun is rising red and all my love you'll get, when you come along and stay", singt ihre Figur Ingrid Sommer in Konrad Wolfs und Wolfgang Kohlhaases DEFA-Film "Solo Sunny", der Krößner 1980 einen Silbernen Bären der Berlinale einbrachte. "Die Hoffnung, die aus diesen Zeilen dringt, ist ganz ursprünglich, herzzerreißend naiv, und das ist der unglaublichen Präsenz von Renate Krößner zu verdanken", schreibt Fritz Göttler in der SZ nicht ohne Verweis darauf, dass die Gesangsstimme in diesen Szenen von Regine Dobberschütz stammt: Krößner "spielte diese Sunny wie eine DDR-Judy, ein Balanceakt auf einem Seil, ohne Netz, im festen Glauben, dass der schäbige Nachtclubglamour ihrer Auftritte und die roten Schuhe mit den hohen Absätzen wirklicher sein müssen als die graue Hinterhof-DDR."

Und Kerstin Decker ergänzt im Tagesspiegel: "Fast möchte man sagen: Sie war das Gesicht der späten DDR. Selten wird eine Schauspielerin so sehr zur Mitte und zum Spiegel von allem, was sonst noch in einem Film geschieht. Eine Ikone." Eine unwahrscheinliche allerdings, schreibt Harry Nutt in der Berliner Zeitung: "Die modisch-schneeweiße Kappe und ein locker um die Schulter gelegter Pelz riefen das Klischee einer kühlen Diva hervor, aber die leuchtend blauen Augen und das Grübchen am Kinn verwiesen auf ein Gesicht, das gar nicht erst darauf aus war, eine trotzige Verletzlichkeit mit falschem Glanz zu verbergen." In der FAZ würdigt Andreas Kilb die Schauspielerin, die Sunny "genau die richtige Mischung aus Zartheit und Rotzigkeit verlieh".

Für Kinozeit wirft Katrin Doerksen einen Blick auf die Schattenseiten des deutschen Heimatfilms, der keineswegs so idyllsüchtig war, wie das gemeinhin angenommen wird - vielmehr schwelen auch in ihm die Konflike der Nachkriegszeit: Sie "schleichen sich immer wieder aufs Neue ein und entlarven das Idyll als hauchdünnen Firnis auf einer noch von Einschusslöchern perforierten Fassade." Besonders empfehlen kann sie den vom italienischen Neorealismus beeinflußten "Heiße Ernte", das Kriegsheimkehrer-Drama  "Hinter Klostermauern" und den Gothic-Moorfilm "Rosen blühen auf dem Heidegrab".

Weitere Artikel: Der Tagesspiegel wirft erste Schlaglichter auf das gemeinsam von internationalen Filmfestivals auf Youtube veranstaltete Onlinefestival "We Are One". Hanns-Georg Rodek staunt in der Welt darüber, dass Michael Moore sich mit seiner allerdings nur von ihr produzierter und seitens Youtube auch schon gesperrter Doku "Planet of the Humans" - einer Kritik der Lebenslügen vieler Umweltbewegungen - zum Posterboy der Rechten aufschwingt.

Und wie ist eigentlich gerade das Wetter in Los Angeles, David Lynch?

Archiv: Film

Literatur

Der Schriftsteller Tobias Premper und der Literaturwissenschaftler Martin Lechner philosophieren in der Jungle World über das Notizenmachen und dessen Rolle beim Verfassen literarischer Texte. "Vielleicht entsteht die Notiz am ehesten mit einem immer wieder abschweifenden, immer wieder zurückgepfiffenen, dann neu davonstromernden Bewusstsein", meint Lechner. Überhaupt ist "der Übergang vom Gedanken zur Schrift schwer zu beschreiben, aber es findet dabei eine Verschärfung und Verwirrung statt, die das Schreiben so anstrengend macht. Und die vielleicht auch die Verführung zu naheliegenden Worten erklärt, die man sich schnappt, bevor die unbegreiflich brodelnde Welt sich weitergedreht hat." Dazu Premper: "Noch nicht mal ein naheliegendes Wort, sondern oft sogar nur Floskeln. In Wahrheit ist das Sprachverweigerung, Denkverweigerung, Lebensverweigerung. Das istdie Diktatur der Sprachlosigkeit. Da können nur noch Zahlen aufgesagt und Hälse durchgeschnitten werden."

Weiteres: In der FAZ gratuliert Paul Ingendaay dem Schriftsteller John Barth zum 90. Geburtstag. Sibylle Kroll schreibt in der NZZ einen Nachruf Albert Memmi (mehr dazu bereits gestern).

Besprochen werden unter anderem Mario Vargas Llosas "Harte Jahre" (Standard), Jérôme Leroys Politthriller "Der Schutzengel" (Freitag), Hideo Yokoyamas "50" (Intellectures), David Rothenbergs "Stadt der Nachtigallen" (FR), der von Tamina Kutscher und Friederike Meltendorf herausgegebene Band "dekoder. Russland entschlüsseln 1" (Tell), Helen Wolffs 26 Jahre nach ihrem Tod veröffentlichter Roman "Hintergrund für Liebe" (SZ) und Lars Gustafssons und Agneta Blomqvists "Doppelleben" (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Für den Standard spricht Ljubiša Tošić mit dem Wiener Volksoperndirektor Robert Meyer über die Aussichten des Hauses, ab Ende Juni wieder proben zu können und die Vorstellung, das Publik im Schachbrettmuster anzuordnen. Auch das Berliner Ensemble wird in nächster Zeit seine Bestuhlung neu kombinieren.
Archiv: Bühne
Stichwörter: Berliner Ensemble

Musik

Ian MacKayes einflussreiche Post-Hardcore-Band Fugazi liegt seit bald 20 Jahren unaufgelöst auf Eis, umso mehr freut sich Jens Uthoff in der Jungle World, dass MacKaye gemeinsam mit der Musikerin Amy Farina und dem Fugazi-Kollegen Joe Lally mit Coriky eine Band aus der Taufe gehoben hat, die das Erbe der Band würdig weiterträgt - politisch verlässlich und gegenüber den Mechanismen des Musikbusiness skeptisch auf Distanz. "Coriky musikalisch aber nur als Fortführung der vorherigen Bands des Trios zu verstehen, würde zu kurz greifen. Das gleichnamige Album lotet auch aus, in welche Richtungen der D.C.-Sound sich im Jahr 2020 noch weiterentwickeln kann. Überraschend in dieser Hinsicht ist etwa das abschließende Stück 'Woulda Coulda', das mit Gospelgesang und Americana-Anleihen aufwartet und sich auch textlich in die Tradition der Afro-American Spirituals zu stellen scheint ('We are out of water / we are out of running water', singt Farina). ... Das unkonventionelle Schlagzeugspiel Farinas bringt zudem immer mal wieder überraschende Anteile von Jazz und freier Musik mit ein." Wir hören rein:



Außerdem: Bei den online gegebenen Konzerten der Festspiele im norwegischen Bergen kann man "schon mal studieren, wie Orchesterspiel in Zeiten von Corona aussehen könnte", schreibt Jan Brachmann in der FAZ. Die Salzburger Festspiele werden unter erheblichen Sicherheits- und Hygienemaßregeln stattfinden, berichtet Christian Wildhagen in der NZZ. JR Moores geht für The Quietus mit den Sleaford Mods backen. Oliver Hochkeppel (SZ) und Wolfgang Sandner (FAZ) schreiben Nachrufe auf den Jazz-Schlagzeuger Jimmy Cobb. Zu hören war er unter anderem auch "Kind of Blue" von Miles Davis:



Besprochen werden das neue Album von Katie von Schleicher (Tagesspiegel) und neue Popveröffentlichungen, darunter das Album "Highlights zum Einschlafen" von Pauls Jets , das sich laut SZ-Popkolumnistin Ann-Kathrin Mittelstrass "zwischen Indie-Rock, Synth-Pop und Reinhold Messner" bewegt.
Archiv: Musik