Efeu - Die Kulturrundschau

Mit kokett zwinkernder Lollipophaftigkeit

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.05.2020. Die Feuilletons verlassen für einen Moment die Corona-Müdigkeit, um auf Lady Gagas schrillem Partyplaneten zu tanzen. Die taz kehrt mit Eribon, Stanisic, Bjerg und Witzel zu den eigenen Wurzeln zurück. Die Filmkritiker gratulieren dem zärtlichen Clint Eastwood zum Neunzigsten. Die FAZ lässt sich von den Wespen, Käfern und Fliegen der Niederländerin Juul Kraijer bedecken. Und die NZZ hebt ab mit den aufblasbaren Latexhosen von Harikrishnan.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.05.2020 finden Sie hier

Film



Clint Eastwood wird morgen 90 Jahre alt - fast alle Feuilletons bringen große, mit tollen Fotos sehr sinnlich garnierte Geburtstagsgrüße und würdigen die unwahrscheinliche Karriere eines Schauspielers, der als Nebendarsteller im US-Fernsehen begann, dann ausgerechnet in Italien zum Aushängeschild des Westerns wurde, mit "Dirty Harry" zum Schrecken der Kritiker einen neuen Populismus im Kino installierte, schließlich selbst als Regisseur reüssierte, um dann, seit seinem düsteren Spätwestern "Unforgiven" 1992 in den Rang eines Filmemachers von cinephilen Weihen zu gelangen, dessen Filme sich immer wieder klar auf der Seite des Humanismus und der Entrechteten positionieren, dabei aber ur-amerikanisch bleiben. "Man kann Eastwood nur begreifen", schreibt Hanns-Georg Rodek in der Welt, "wenn man drei traditionelle amerikanische Züge zusammen denkt: das 'Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied', die daraus folgende Rücksichtslosigkeit des Individuums und die Verwegenheit des Freidenkens." Und darüber hinaus könne man "die Eastwoods der Achtziger wie Studien über die in die Krise schlitternde Männlichkeit lesen."

Die SZ hat zahlreiche Stimmen gesammelt, darunter eine gut dazu passende Notiz des Filmemachers Dominik Graf über Eastwood und das Männlichkeitsbild, anhand von Richard Tuggles "Tightrope" von 1984, in dem Eastwood mal wieder einen harten Cop spielte, dabei aber bei der Begegnung mit einer Frau ins Nachdenken gerät: "Man könnte sagen, es war Dirty Harrys erster Auftritt, in dem er an seinem Image zweifelte." Geneviève Bujold "weicht die Welt des tough guys auf, indem sie ihm ihre eigene Ambivalenz, ihre Härte, Zerrissenheit und ihr Begehren zeigt." Vollends in der Zärtlichkeit angekommen ist Eastwood dann in seinem Film 'The Bridges of Madison County' im Jahr 1995, schreibt Wolfgang M. Schmitt in der NZZ: "Wer hätte gedacht, dass diese schmalen Lippen, die bei Sergio Leone noch die Zigarillo hin- und herrollen liessen, Meryl Streep so zärtlich küssen können?" Auch FR-Kritiker Daniel Kothenschulte blickt zärtlich auf Eastwood, der dem Kino mit seinen Italowestern das unrasierte, gegerbte Gesicht zurückgeschenkt hat: "Sein Gesicht ist inzwischen so glorreich gealtert wie vor ihm nur das von Gary Cooper, des Helden von 'High Noon'. Falten haben es nur noch schattiger und schöner gemacht."

Weitere Artikel: Reinhard Kleber ärgert sich im Filmdienst darüber, dass es bezüglich der Wiedereröffnungen der Kinos keine bundesweit einheitliche Regelung gibt. Auch Rüdiger Suchsland von Artechock sieht in diesem Flickenteppich "geradezu absurde Verhältnisse". Claudia Lenssen schreibt in der taz einen Nachruf auf Irm Hermann (weitere Nachrufe hier). Verena Lueken gibt in der FAZ Tipps zum von internationalen Filmfestivals ausgerichteten Youtube-Festival "We are one". Besprochen werden die auf Netflix gezeigte SF-Comedy-Serie "Space Force" mit Steve Carrell und John Malkovich (ZeitOnline, Presse) sowie die bayerische Amazon-Serie "Der Beischläfer" (FAZ).
Archiv: Film

Bühne

Für den Tagesspiegel wirft Rüdiger Schaper einen Blick ins für den Corona-Spielplan umgerüstete Berliner Ensemble, in dem statt 700 Besuchern ab September vorerst 200 Besucher pro Vorstellung in den deutlich gelichteten Reihen Platz nehmen dürfen: "Viel Beinfreiheit im Parkett, wie im Kino Pärchensitze (wenn man im gleichen Haushalt lebt) und Logen für Familien. Die umfangreichen Hygienevorkehrungen sehen vor, dass sich immer nur eine Person in der (im BE besonders engen) Toilette aufhält. Viele Stücke werden ohne Pause gespielt." Das Berliner Modell könnte Schule machen, glaubt Philip Oltermann im Guardian - wenngleich noch nicht klar ist, welches: "Im Schaubühne Theater im Westen Berlins sagte der künstlerische Leiter Thomas Ostermeier, sein Team erwäge immer noch die Installation von Plexiglasscheiben, um das Auditorium mit 150 statt nur 50 Zuschauern füllen zu können."

Hehren Forderungen der Kunsthistorikerin Benedicte Savoy und des Theaterregisseurs Milo Rau lauschte Petra Kohse (Berliner Zeitung) bei den "Berliner Korrespondenzen" der Allianz-Kulturstiftung im Maxim-Gorki-Theater: "'Lasst uns Forderungen stellen!', verlangte Rau: Alles, was alle brauchten, müsste vergesellschaftet werden. Medikamente! Und die Internet-Technologie. Künstler sollten vom Zwang befreit werden, dauerproduzieren zu müssen. Und Wissenschaftler sollten fürs Nachdenken bezahlt werden, nicht fürs Projekteinreichen, sekundierte Savoy. 'Wir brauchen eine Ökonomie des Lebens und keine Ökonomie des Mehrwerts!' - Milo Rau."

Weiteres: Im Standard-Gespräch mit Margarete Affenzeller spricht der portugiesische Regisseur und Direktor des Nationaltheaters Lissabon, Tiago Rodrigues, über sein Stück "Catarina", Populismus und Corona, und über die Lage der Theater in Portugal: "Die oberste Priorität neben der Gesundheit war für mich, dass wir allen, mit denen wir arbeiten, seien sie frei oder angestellt, von Technikern bis Künstlerinnen, die Honorare zu 100 Prozent auszahlen. Das ist budgetär sehr hart, aber ich bin überzeugt, dass es das beste öffentliche Service ist, das wir unserem Land bieten können. In Portugal gibt es keine gute Absicherung für Künstler." Den digitalen Spielplan der Nachtkritik finden Sie hier.
Archiv: Bühne

Kunst

Juul Kraijer, Untitled, 2016-2019 © Juul Kraijer

Verzaubert kehrt Christian Geyer in der FAZ aus der Ausstellung "Zweiheit" im Museum Sinclair-Haus in Bad Homburg zurück, wo die niederländische Künstlerin Juul Kraijer in Videoinstallationen, Zeichnungen und Skulpturen Schlangen, Wespen, Käfer und Fliegen mit dem menschlichen Körper verbindet: "Juul Kraijers vorwiegend weibliche Figuren sind der Zeit und dem Raum Enthobene, sie schauen, bar jeder äußeren Bestimmung durch eine Umwelt, nach innen. Dort werden sie der Zweiheit ihrer ungezähmten Tier-Mensch-Natur gewahr, aus dem Mund wächst Wurzelwerk ins Haar hinein, vom Hinterkopf her erblüht ein Strauch, im Rücken zeigen sich Ablagerungen des Erdreichs, Muscheln und Gestein. Es sind Menschen in traumwandlerisch vorsozialisierten Stadien, verbunden allenfalls über lange Haarzöpfe, über etwas Elementares, Nichtkulturelles also, wie die nackte Mädchengruppe auf der Kohlezeichnung."

Im Perlentaucher denkt Peter Truschner über eine Beziehung zwischen Künstler und Modell auf Augenhöhe nach: "Vergessen Sie den Glauben an den entscheidenden Moment, wie ihn Cartier-Bresson in die Welt gesetzt hat. Cartier-Bresson kommt aus dem Fotojournalismus, in dem es von großer Bedeutung ist, einen komplexen Vorgang (ein Kriegsgeschehen, eine Naturkatastrophe) im Optimalfall symbolisch auf den Punkt zu bringen. In Wahrheit passiert bei der intensiven Arbeit mit einem Gegenüber genau das Gegenteil: je länger sie mit ihm zu tun haben, je mehr es aus sich herausgeht, je mehr es sich zeigt, nicht nur körperlich, und je mehr Sie darauf eingehen - desto verschwommener wird alles, vieldeutiger und nicht auf den Punkt zu bringen."

Weiteres: In der FAZ ruft Karlheinz Lüdeking dazu auf, den Rokokomaler Francois Boucher neu zu entdecken. Die Zeit hat Hanno Rauterbergs Text über die Frank Walter Ausstellung im MMK Frankfurt online nachgereicht. Besprochen wird Annette Kelms Ausstellung "Die Bücher" in der Berliner Dependance des Museums Frieder Burda (Tagesspiegel) und die Ausstellung "Syria 2087" der Produktdesignerin Anna Banout im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe (taz).
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Literatur

Didier Eribon, Saša Stanišić, Bov Bjerg, Frank Witzel - all deren Bücher eint der Rückblick zu den eigenen Wurzeln, die Heimkehr nach dem Heranwachsen, beobachtet taz-Kritiker Dirk Knipphals. Der jeweilige Rückblick gestaltet sich allerdings sehr spezifisch, abhängig von der damit verbundenen Nationalgeschichte: "Eribon begreift seine Distanzierung von seinem kommunistisch geprägten Arbeitermilieu teilweise als Verratsgeschichte. Aber gegen diesen Begriff Verrat sträubt sich natürlich zu Recht alles, wenn es um die Abgrenzung von handfesten oder auch nur emotionalen Erbschaften aus dem Nationalsozialismus geht", wie bei Bov Bjerg. "Oder aber die Vergangenheit wird schräger, verliert das für die alte Bundesrepublik so lange gültige unhinterfragt Normale, wird geheimnisvoller und damit etwas, in dem man sich auch verlieren kann. So geht es Frank Witzel in seinem Memoir 'Inniger Schiffbruch', in dem die Rückkehr an den Ort der Herkunft noch einmal anders inszeniert wird", nämlich "als anhand von Träumen, Familienfotos und sonstigen Überlieferungen unternommenes mikroskopisches Erinnerungsprojekt."

Weitere Artikel: In seiner Standard-Reihe über Walter Benjamin wirft Ronald Pohl einen Blick auf das Verhältnis des Denkers zu Bertolt Brecht. Der Schriftsteller Clemens Meyer schreibt in der Literarischen Welt einen Nachruf auf den Cut-Up-Dichter Jürgen Ploog. Für das Literaturfeature im Dlf Kultur befasst sich Andi Hörmann mit Dystopien im Spiegel der Coronakrise. Kerstin Zilm hat für den Dlf Kultur außerdem eine "Lange Nacht" über Bestseller-Autorin Cornelia Funke produziert. In der Literarischen Welt erinnern Marc Reichwein und Mara Delius an Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki, der am 2. Juni 100 Jahre alt geworden wäre. Volker Hage wirft aus diesem Anlass für die FAZ einen Blick in seine Tagebuchnotizen zu Gespräch mit Reich-Ranicki.

Besprochen werden unter anderem auf Deutsch veröffentlichte Manga-Klassiker von Shigeru Mizuki (taz), Jhumpa Lahiris "Wo ich mich finde" (online nachgereicht von der Literarischen Welt), Hari Kunzrus "Götter ohne Menschen" (taz), Elizabeth Gilberts "City of Girls" (FR), Felix Mitterers "Keiner von euch" (Standard), Anna Katharina Hahns "Aus und davon" (Dlf Kultur), Ivan Vladislavićs "Schlagabtausch" (SZ), Christian Heins "Ein Wort allein für Amalia" (Berliner Zeitung), neue Krimis von Xavier-Marie Bonnot, Leif Karpe und Mercedes Rosende (Freitag) sowie Fang Fangs "Wuhan Diary. Tagebuch aus einer gesperrten Stadt" (Literarische Welt, FAZ).
Archiv: Literatur

Design

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Latex - umständlich anzuziehen, aber immer wieder sehr begehrt. Marion Löhndorf von der NZZ beobachtet ein Comeback dieses komplizierten Werkstoffs. Für Aufsehen sorgen gerade die voluminösen Entwürfe von Harikrishnan: Diese "aufblasbaren, gestreiften Latexhosen flimmerten durch die sozialen Netzwerke wie Heißluftballons aus Plastik. Von Ferne grüßt der kabukiinspirierte, skulpturale Anzug, in den Kansai Yamamoto 1973 David Bowie steckte. ...  Harikrishnan spielt mit diesem Aspekt der Gummimode, der so gar nicht sündig ist, sondern verspielt und der Realität entrückt. Seine Schnitte passen gut in Science-Fiction-Welten. Sie betonen das Künstliche, das Plastikhafte, die Entfernung von der Natur. Der Mensch darin wird zur Puppe, zum Roboter, zur Maschine."
Archiv: Design

Architektur

Sabine von Fischer macht für die NZZ eine Zeitreise in die Sechziger: Nach Jahren des Leerstands wurde das von dem finnischen Architekten Eero Saarinen entworfene Trans World Airline Terminal (TWA) auf dem New Yorker John F. Kennedy Flughafen zum Hotel umgebaut - und zwar ganz im Stil der frühen sechziger Jahre: "265 Millionen Dollar hat es gekostet, Saarinens schwebende Betonscheiben zu stabilisieren und das ursprüngliche Interieur unter Anleitung des renommierten New Yorker Büros Beyer Blinder Belle wiederherzustellen. Rückseitig wurde das Ensemble um zwei siebengeschossige Hotelriegel nach dem Entwurf von Lubrano Ciavarra Architects erweitert. Dort überblicken die teuersten und beliebtesten Hotelzimmer das Flugfeld. (...) Verbunden sind Alt und Neu via die futuristischen Röhren, die einst zu den Gates von TWA führten."
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Musik



Eigentlich hätte Lady Gagas neues Album "Chromatica" ja schon vor zwei Monaten erscheinen sollen, wurde dann aber verschoben, weil so ein über weite Strecken geradezu ungehobelt gute Laune versprühendes Album wie dieses in die erste Phase der Corona-Pandemie nicht ganz so gut gepasst hätte. Jetzt ist es da und das genau zur richtigen Zeit, denn nach drei Monaten Entbehrungen lechzt die Welt nach Spaß, schreibt Jan Kedves in der SZ, und Spaß wird auf diesem Album "mit kokett zwinkernder Lollipophaftigkeit" in rauen Mengen geboten, "vor allem klanglich und optisch, mit diesen Neunzigerjahre-Party-House-Beats, mit knalligen Farben, mit Perücken und Space-Age-Kostümen." Auch Julia Bähr nimmt in der FAZ dieses Angebot zum Haben von Spaß sehr gerne an: "Hier folgt ein Partykracher auf den anderen. ... Aus jedem Beat blitzt der Euro-Dance, man wartet geradezu darauf, dass jemand 'I got the power!' dazwischenruft." Wer ist eigentlich diese Madonna, fragt sich eine von dieser Rückkehr zum hedonistischen Monumental-Pop ziemlich umgehauene Nadja Dilger in der Berliner Zeitung: "In dem Pop-Universum, in dem Lady Gaga zu Hause ist, ist sie mittlerweile die Sonne, um die viele andere nur kreisen."

Allerdings geht es unter all diesem Glitz'n'Glam auch um düstere Themen wie Depressionen, schreibt Nadine Lange im Tagesspiegel: "Tanz besiegt Schmerz, Musik führt aus dem Trauma. Das ist die selbstverschrieben Therapie von Lady Gaga." Und dazu Daniel Gerhardt auf ZeitOnline: "French und Ibiza House, Londoner Zukunftspop und Eurodance - überall jagt Gaga demselben Versprechen hinterher: einem Album, das besser wirkt als jede Pille." Sie verteidigt "ihren Partyplaneten gegen die schlechten Launen und Nachrichten des Außenuniversums." Wehren muss sich Lady Gaga dann wohl auch gegen die Kritik, die Christian Schachinger im Standard übt: Dieses Album hat wenig Einfälle, ist aber kolossal überladen, meint er. Und außerdem: "Der wesentliche Grund für den globalen Schaden, den wir angerichtet und nun bitter zu bezahlen haben, ist die Gier. Eat as much as you can, das aus dem Blutrausch und später aus der Massentouristik übernommene Konzept des Büffets und des Halses, den wir nicht vollkriegen können, findet nun endlich wieder einmal im Pop seine vollinhaltliche Entsprechung."

Weitere Artikel: NZZ-Kritiker Marco Frei fühlt sich bei den ersten in München unter Corona-Sicherheitsregeln gegebenen Konzerten mitunter wie beim "Gang von Orpheus in die Unterwelt", wenn es darum geht, in der Bayerischen Staatsoper unter Abstandswahrung und den Blicken geschulten Personals in die Unterbühne zu gelangen. Frederik Hanssen beobachtet für den Tagesspiegel, wie der Berliner Rundfunkchor zurück in die Proben findet. Die Berliner Zeitung plaudert mit der Sängerin Lea. Besprochen werden ein Ellington-Konzert der HR-Bigband (FR) und neuer Retro-Soul von The Everettes, die taz-Kritiker Thomas Winkler damit einige "beglückende Momente" bescheren.
Archiv: Musik