Efeu - Die Kulturrundschau

Wer hat euch geschickt?

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03.06.2020. In der FAZ schreibt Colson Whitehead eine amerikanische Fantasyserie, in der schwarze Frustration zu  Bildungs- und Polizeireform führt. Die SZ hört ungefilterten Zorn aus dem neuen Album von Irreversible Entanglements. Der Merkur bewundert die kraftsparende Athletik in Igor Levits Klavierspiel. In der FR  beharrt Kulturdezernentin Ina Hartwig auf einem Neubau der Frankfurter Bühnen. Und Monopol weiß: Livestreams sind die neuen Podcasts.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.06.2020 finden Sie hier

Literatur

Der amerikanische Schriftsteller Colson Whitehead macht sich im FAZ-Mailinterview kaum Hoffnungen, dass sich die Lage in den USA in absehbarer Zeit zum Positiven ändern könnte: "'Wenn ich Fantasy schriebe, folgte jetzt eine echte Polizeireform, und wir bekämen einen Präsidenten, der versucht, die rassistischen Spannungen zu verringern, als sie zu verschlimmern. Wir hätten ein Bildungssystem, das amerikanische Geschichte präzis und akkurat unterrichten würde, so dass wir unsere Fehler nicht wiederholten. Aber das eben ist Fantasy.' Auch hier in seiner Antwort wird also, wie in seinen Romanen, eine kurz aufblitzende optimistische Vision von einer von Pessimismus geprägten Weltsicht zur Seite geschoben: 'Schreiben in einem realistischen Modus würde ein paar kleine Reformen in den Städten und den Staaten bedeuten. Abgesehen davon: Sehr wenig Veränderung.'"

Weitere Artikel: In der neuen Ausgabe des CrimeMag befasst sich Thomas Wörtche mit Krise und Herausforderungen des Politthrillers in Zeiten grassierender Verschwörungstheorien: "Die gute, alte Paranoia ist in die falschen Hände gefallen." In der NZZ schwärmt Michael Streitberg von seinen Streifzügen durch "die Stadt der Bücher", einem Areal in Tokio, wo sich Antiquariat an Antiquariat reiht: "Wer lange genug sucht, wird hier seinen persönlichen Schatz heben." Bereits die Autoren der Klassik und Romantik haben von ihrer kreativen Arbeit kaum leben können, hat Arno Widmann für die FR in einer Broschüre des Historischen Museums Frankfurt nachgelesen: Dass viele von ihnen keineswegs arm gestorben sind, lag vor allem an ihren Brotjobs in Staatsdienst und Kirche. In Elias Canettis Notizen finden sich zahlreiche Hinweise darauf, dass der Autor sich ausgiebig mit epidemischen Fragen beschäftigt hat, schreibt Kristian Wachinger in der SZ. In den "Actionszenen der Weltliteratur" erinnert Marc Reichwein an eine Begegnung zwischen Rainald Goetz und Marcel Reich-Ranicki. Für Tell unterzieht Sieglinde Geisel Hölderlins "Hyperion" dem Page-99-Test.

Besprochen werden unter anderem Anna Kavans erstmals auf Deutsch vorliegende Dystopie "Eis" aus dem Jahr 1967 (ZeitOnline), Susanne Kerckhoffs "Berliner Briefe" (Berliner Zeitung) und neue Krimis, darunter Angie Kims Debüt "Miracle Creek" (FAZ).
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Design

Frank Eugene, Brigitta Wenz, um 1908, Heliogravüre, Münchner Stadtmuseum, Sammlung Fotografie, Archiv Frank Eugene Smith


Ein Band und eine Ausstellung im Allgäu widmet sich Adolphe de Meyer, dem ersten professionellen Modefotografen der Geschichte, berichtet Brigitte Werneburg in der taz: "Mit seinem Piktoralismus-geschulten Blick setzte er seine Models, damals meist Damen der Gesellschaft, ins rechte, also in ein exquisites, aufwändig inszeniertes Licht - gerne vor einem halbdunklen bis dunklen Hintergrund. Der Auftritt davor fiel um so glanzvoller und auratischer aus. Denn darum ging es, um ein neues Frauenbild, durchexerziert im Prominentenporträt."
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Kunst

Annika Meier resümiert auf Monopol, was sie die zehn Wochen im Lockdown über das Digitale im Kunstbetrieb gelehrt haben. Zum Beispiel: "Livestreams sind die neuen Podcasts. Und ja, all die Gespräche kann man awkward und unbeholfen finden, too much und langweilig. Für Nicht-Journalisten mag es überraschend sein. Oft laufen Interviews tatsächlich so ab. Zwei Menschen unterhalten sich miteinander. Was gesagt wird, ist nicht unbedingt druckreif. Im Anschluss an ein Interview wird der Text nämlich von beiden Seiten überarbeitet, manchmal geht ein Text mehrmals hin und her, weil einzelne Statements und Formulierungen diskutiert werden. In Livestreams fehlt der Journalist als Filter. So ein Livestream ist ein bisschen wie früher ein zufälliges Treffen mit dem Lieblingsmusiker. Da stellte man dann fest, dass der Lieblingsmusiker doch nicht ist, überhaupt nicht, wie man sich das vorgestellt hat. Bei Livestreams dämmert einem heute, dass ein Künstler nicht so klug oder wortgewandt, lustig oder unterhaltsam ist, wie erwartet. Und trotzdem scheint es nicht mehr ohne Livestream zu gehen."

In Österreich sind die Museen wieder offen, aber von einem Run auf die Häuser kann keine Rede sein, berichtet Olga Kronsteiner im Standard. Und: "Die Einnahmenausfälle der Big Three - Kunsthistorisches Museum (KHM), Belvedere und Albertina - sind so enorm, dass sie durch Einsparungen nicht abgefedert werden können. Realistisch betrachtet wird es Personalabbau geben, in welchem Umfang ist derzeit allerdings noch nicht absehbar."

In der FAZ trägt Michael Martens zum Tod von Christo die schöne Anekdote nach, dass dieser seine Ausbildung in Bezug auf Kunst, Effekt und Menschen im stalinistischen Bulgarien erfuhr, durch das zu Beginn der fünfziger Jahre regelmäßig der Orient-Express ratterte: "Das Regime habe den Passagieren aus dem Westen blühende Landschaften vorgaukeln wollen, und so hätten Kunststudenten wie er die Bauern anweisen müssen, wie Traktoren, Mähdrescher und andere Maschinen zu plazieren seien, damit aus dem Zugfenster betrachtet die Illusion einer dynamischen, mechanisierten Agrargesellschaft entstehe."
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Film

Auf critic.de reicht Lukas Foerster einen Geburtstagsgruß an Clint Eastwood nach. Ralf Schenk erinnert in der Berliner Zeitung an die DEFA-Komödie "Ein Lord am Alexanderplatz", die 1966 beim Innenministerium der DDR für einige Aufregung gesorgt hat. Besprochen wird die Netflix-Animationsserie "The Midnight Gospel" (Jungle World).
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Bühne

Das Glasfoyer mit Zoltán Keménys Goldwolken. Foto: Frankfurter Bühnen  

Im FR-Interview konfrontiert Claus-Jürgen Göpfert Frankfurts Kulturdezernentin Ina Hartwig mit dem Vorwurf, in der Entscheidung über die Frankfurter Bühnen den Denkmalschutz zu wenig beachtet zu haben. Hartwig, die Göpferts ehemalige Redaktionskollegin ist, bleibt ebenfalls in ihrer Rolle: "Das Landesdenkmalamt hat sich mit einem Gutachten geäußert. Für die städtische Stabsstelle zur Zukunft der Bühnen und für mich als Kulturdezernentin ist das kein Grund, unsere Planung in Frage zu stellen, im Gegenteil. Wir müssen jetzt darüber sprechen, wie wir den Denkmalwert des Wolkenfoyers in etwas Neues überführen. Für mich stellt sich die Frage, ob das gesamte Haus saniert werden kann, nicht mehr. Das haben wir sorgfältig geprüft, und es bleibt dabei: Ich kann eine Sanierung nicht empfehlen, sie ist zu teuer, zu risikoreich und zudem unwirtschaftlich. Auch würde sie selbst in einer verbesserten Variante die Grundmängel des Gebäudes nicht beheben. So ist es kein Zufall, dass die fast 1.200 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Bühnen eine Sanierung nicht wollen."

Weiteres: Im Tagesspiegel gibt Frederik Hanssen einen Überblick, in welchen Bundesländern welche Kultur wieder möglich ist. Der Online-Spielplan der Nachtkritik steht hier.
Archiv: Bühne

Musik

Das Album "Who Sent You?" der zwischen Jazz, Punk und Slam Poetry stehenden Gruppe Irreversible Entanglements (am Mikrofon: Camae Ayewa, besser bekannt als Moor Mother) ist zwar schon einige Wochen auf dem Markt, hört sich aber unter den Eindrücken der Proteste in den USA an wie der Soundtrack zur akuten Gegenwart, schreibt Andrian Kreye in der SZ: Hier "bekommt man den Zorn und die Frustration aus dem Amerika des institutionalisierten Rassismus zu spüren, ohne die Filter der Stilformen, die den Zugang zu solchen Wutausbrüchen im Hip-Hop oder Rock gleichzeitig erleichtern und vernebeln. Und zwar gleich im Titelstück. In dem stellt Ayewa immer wieder mit einer ordentlichen Wut in der Stimme die Frage 'Wer hat euch geschickt?' Gemeint sind die schießwütigen Polizisten mit ihrem 'Stop and Frisk'-Terror, jenen willkürlichen Polizeikontrollen dunkelhäutiger, meist afroamerikanischer Fußgänger, Fahrrad- und Autofahrer, die so oft mit Verhaftungen und Gewalt enden." Im Neuen Deutschland bespricht Benjamin Moldenhauer das Album.



Im Blog des Merkur resümiert Holger Schulze Igor Levits auf 24 Stunden angelegtes, online übertragenes Satie-Konzert. Eine Demonstration beeindruckender Klavier-Athletik im Gestus kraftsparender Strategien: "Wie er weicher in den Lehnstuhl rutschte, auf dem er saß; wie er teils nur noch leicht mit einer Hand aufgelegt spielte, um Kraft zu sparen. Ihm war anzusehen, nach gut 210 Minuten, dass er nun wirklich ahnte, wie schwer die verbleibenden über 16 Stunden tatsächlich noch werden würden. ... Der Pianist gähnte. Sein Blick schweifte in immer erstaunlichere Richtungen ab. Die fallenden Blätter schienen immer lauter auf das Parkett zu donnern. Lachte er jetzt? Oder war sein Gesicht schmerzverzerrt? Immer öfter wählte er die regelmäßige Selbstversicherung durch Selbstberührung."



Besprochen werden das neue Album der Einstürzenden Neubauten ("eine große Freude", schreibt Jens Balzer in der Zeit), das Debütalbum der Dresdner Postpunk-Band Die Arbeit (taz) und ein neues Album des Berliner Jazzmusikers Konrad "Conny" Bauer (taz).

Das Logbuch Suhrkamp bringt die 80. Folge aus Thomas Meineckes "Clip//Schule ohne Worte":

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