Efeu - Die Kulturrundschau

Schrapnelle aus der Echokammer

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.06.2020. Die Zeit erklimmt im Hamburger Bahnhof die Farblandschaften Katharina Grosses. ZeitOnline schöpft Hoffnung, dass eine neue Schönheit in der Mode den Imperativ ironischer Hässlichkeit ablösen könnte. Die SZ fürchtet, dass die moderne Kunst Tempo und Wachheit auch dem Messezirkus verdankt. Die FAZ diskutiert einen neuen Vorschlag für die Frankfurter Bühnen. In der Republik.ch erinnert sich Melinda Nadj Abonji an die Zeit, als die Schweiz die "Überfremdunginitiative" diskutierte, aber ihren Vater Rinderhäute salzen ließ.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.06.2020 finden Sie hier

Literatur

Vor fünfzig Jahren wurde in der Schweiz von den wahlberechtigten Männern die "Überfremdungsinitiative" abgelehnt, die von dem Politiker James Schwarzenbach eingebracht worden war. Wäre sie verabschiedet worden, hätten 300.000 Ausländer die Schweiz verlassen müssen. Die Autorin Melinda Nadj Abonji erinnert sich in einem sehr schönen Text in republik.ch: "Mein Vater kam im März 1969 in die Schweiz. Die Gründe waren vielschichtig. Im Zürcher Schlachthof, so erzählte er mir, salzte er Rinderhäute, 'immer montags, so früh, dass es noch Nacht war'. Dienstag bis Samstag arbeitete er bei jenem Metzgermeister, der für meine Eltern die Bittbriefe an die Fremdenpolizei schrieb; oberhalb der Metzgerei hatte er ihnen ein Zimmer vermietet. Die Kosten zog er direkt vom Lohn meines Vaters ab. 'Mein Chef ließ mich monatelang im Glauben, er habe die Arbeitsbewilligung für mich beantragt.' Hatte er nicht. Die Schwarzarbeit machte meinen Vater zu einer lukrativen Arbeitskraft. 900 Franken, das war sein Lohn, ohne Papiere. Die anderen Metzger im Betrieb - Schweizer - verdienten 2.100 Franken."

Weitere Artikel: Sonja Lewandowski schreibt in der taz zum Auftakt des digital stattfindenden Prosanova-Festivals für junge Literatur. Auf der für Jugendliche konzipierten Leseplattform Wattpad findet sich "ein quirliges Biotop", meint Fridtjof Küchemann in einem online nachgereichten FAZ-Artikel: Sogar "populäre Autoren wie Margaret Atwood oder Paulo Coelho probieren hier Texte in direktem Austausch mit ihren Lesern aus." In der Nachtkritik beschwört Navid Kermani nach einer Lesung in Siegen die Kostbarkeit der Kunst.

Besprochen werden unter anderem Nina Bunjevacs Comic "Bezimena" (Tagesspiegel), John O'Connells "Bowies Bücher" (Tagesspiegel), Philipp Bloms "Das große Welttheater" (FR), Alexander Kluges "Russland-Kontainer" (NZZ), Victor Jestins "Hitze" (online nachgereicht von der Welt), ein Band mit schottischer Lyrik (Dlf Kultur), William Trevors "Letzte Erzählungen" (SZ) und Maryse Condés Autobiografie "Das ungeschminkte Leben" (FAZ).

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Kunst

Katharina Grosse: It Wasn't Us. Ausstellungsansicht. Hamburger Bahnhof. Bild: Katharina Grosse

Den reinsten Farbrausch erlebt Tobias Timm in Katharina Grosses Ausstellung "It WasnT Us" im Hamburger Bahnhof, die am Wochenende eröffnet und in der sich "tollkühn und fragil" die Farbschichten zu zerklüfteten Landschaften auftürmen: "Am Eingang der Halle wartet ein kleiner schartig bearbeiteter Felsen, als hätten ihn Farbstrahlen durchschossen und zerschnitten. Breite Farbstreifen strömen den hellen, polierten Steinboden entlang, umspülen und bespritzen den Felsen. Gelb, Blau, Orange, Lila: Es knallt so richtig. Dieses Gemälde darf man nicht nur bestaunen, man darf es betreten, man senkt den Blick, um den langen Farbspuren zu folgen, um die Farbverläufe, Überblendungen, feinen Sprenkel zu studieren, und geht zum hinteren Teil der fast hundert Meter langen Halle, wo man auf eine viele Meter hohe Felslandschaft stößt, die in ihrer Erhabenheit an den romantischen Blick Caspar David Friedrichs auf die Schollen des 'Eismeers' erinnert."

Nach der endgültigen Absage der Art Basel für dieses Jahr sieht SZ-Kritikerin Catrin Lorch nicht nur den Kunstmarkt zum Stillstand gebracht, sondern auch den Kunstdiskurs. Und tatsächlich bedauert sie es, denn bei aller Skepsis gegenüber dem Reisezirkus, meint Lorch, dass die zeitgenössische Kunst erst durch die Kunstmessen ihren Stellenwert errungen hat: "Das hat Abhängigkeiten geschaffen, das System breitet sich längst auch über öffentliche Institutionen wie Kunstvereine, Ausstellungshäuser und Museen aus. In seiner Gesamtheit hat es die zeitgenössische Kunst aber zu dem gemacht, was sie heute ist: eine politisch wache, wirklich internationale, schnelle und kluge Disziplin."

Weiteres: In der Berliner Zeitung meldet Ingeborg Ruthe, dass Hasso Plattner die Stadt Potsdam mit einem weiteren Museum bedenkt: Das ehemalige Terrassen-Restaurant Minsk soll Plattners Sammlung von Malerei und Plastik aus dem deutschen Osten beherbegen, Gründungsdirektorin wird Paola Malavassi, die bisher die Stoschek-Kollektion leitete. Carlotta Wald sammelt für den Tagesspiegel Ideen, wie die Kunstwelt nachhaltig reformiert werden könnte.

Besprochen wird die Retrospektive des karibischen Malers Frank Walter im Frankfurter Museum für moderne Kunst, dessen kleinformatiges Werk vom postkolonialen Diskurs geradezu erdrückt werden, wie taz-Kritikerin Katharina J. Cichosch moniert: "Die Frequenz, mit dem hier in stets selbstkritisch sich gebender, postkolonial geschulter Diskursmanier auf die Bilder des karibischen Malers geblickt wird, lässt jene streckenweise wie Illustrationswerk wirken."
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Bühne

Matthias Alexander bringt uns in der FAZ auf den neuesten Stand in Sachen Frankfurter Bühnen, für die Kulturdezernentin Ina Hartwig heute einen neuen Vorschlag ins Spiel bringen will: "Das Schauspiel erhält demnach einen Neubau an seinem heutigen Standort, und die Oper zieht an die obere Neue Mainzer Straße um, und zwar auf das Areal, auf dem sich derzeit noch der Hauptsitz der Frankfurter Sparkasse befindet. Der Standort wäre für die Stadt sehr günstig oder sogar unentgeltlich zu bekommen. Es käme zu einer Art Tauschgeschäft von Baurecht gegen Fläche: Die Landesbank Hessen-Thüringen, zu der die Sparkasse gehört, könnte auf dem nördlichen Teil des Areals einen bis zu zweihundert Meter hohen Turm errichten, der Rest fiele an die Stadt. An der Attraktivität des Standorts zwischen Hochhausmeile und Wallanlage besteht kein Zweifel."

Weiteres: Im Standard berichtet Margarete Affenzeller, dass die Salzburger Festspiele umfangreicher als zuletzt erwartet ausfallen werden und mit Asmik Grigorian in der "ELektra" eröffnet werden. Katrin Bettina Müller wirft in der taz einen Blick hinter die Kulissen des Berliner Ensemble.
Archiv: Bühne

Design

Vielleicht wird Corona ja doch ein gutes gehabt haben, überlegt Benedikt Herber auf ZeitOnline: die Schönheit, die in der Mode zuletzt einen eher schlechten Stand hatte (sie folgte dem "Imperativ ironischer Hässlichkeit"), könnte nunmehr wiederkehren. Denn für ironische Mode-Statements gab es lange Zeit keine Bühne, stattdessen viel Unbill und grauer Alltag. Womöglich könnte sich nun eine "angestaute Lust am Schönen entladen. ... Es wäre ein Grund zur Freude, denn: Ein dritter Weg ist möglich zwischen absoluter Ironie und der im Akkord produzierten Pseudoschönheit einer photoshop- und autotune-gebohnerten, weitestgehend heteronormativen Pop-Plastikwelt. Die Mode könnte wieder als ästhetischer Testparcours begriffen werden, um Eleganz jenseits von Geschlechterstereotypen und starren Schönheitsidealen zu entwickeln. So wie es beispielsweise Yves Saint Laurent gelang, als er 1960 den Damensmoking entwarf."
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Film

Ahnen und erkunden: Sommerurlaub in Spanien ganz ohne Cindy, Bert, Rex und Gildo.

Lange her, dass "Schlagersänger wie Cindy & Bert oder Rex Gildo die erotischen Ahnungen der Deutschen ins Hispanische lenkten", reminisziert Bert Rebhandl in der FAZ. Aber Erec Brehmers deutsche und in Spanien spielende, vor allem aber: "kostbare" Liebeskomödie "La Palma" passe doch ganz "gut in diesen frühen Sommer der tastenden Erkundungen. ... Die Szenen, die Erec Brehmer für das Paar geschrieben und mit Marleen Lohse und Daniel Sträßer inszeniert hat, verraten viel von dem Rollenspiel, zu dem eine Beziehung unter reflektierten Menschen notwendigerweise wird. Liebe wäre demzufolge nicht so sehr ein unmittelbares Gefühl, sondern ein Vermögen, so miteinander zu spielen, dass man sich jeweils mit der Inspiration dazu beschenkt."

Weiteres: Andreas Kilb schreibt in der FAZ einen Nachruf auf die Regisseurin Marion Hänsel.
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Musik

In der Jungle World legt Dierk Saathoff den gedämpft gelaunten Noiserock von Friends of Gas, die mit "Kein Wetter" gerade ein neues Album vorgelegt haben, all jenen wärmstens ans Herz, die es derzeit eher gestern als heute in die Sommerfrische drängt. Denn die Band entwerfe "in ihren kryptischen Texten eine Welt, in der weder Natur noch Gesellschaft 'heilsam' sind, sondern alles leer ist. 'Leere, liebe Leere', heißt es im Song 'Abwasser'. Diese Resignation, die sich auch in dem schweren, dissonanten Sound der Band ausdrückt, ist erfrischend, erratisch und musikalisch äußerst wirksam." Das wollen wir uns nicht entgehen lassen:



Außerdem: Jan Kedves schreibt in der SZ einen Nachruf auf Bonnie Pointer von den Pointer Sisters. Im Standard erinnert Karl Fluch an Miles Davis' vor fünfzig Jahren erschienenes Album "Bitches Brew": "Die Stakkati von Davis' Trompete flogen wie Schrapnelle aus der Echokammer." Das Titelstück in seiner annähernd halbstündigen Glorie:



Besprochen werden der Auftritt des Konzerthausorchesters Berlin in Dortmund (Tagesspiegel, mehr dazu hier), das neue Album von Run the Jewels (taz, mehr dazu hier und dort), das neue Album von Norah Jones (Welt, Standard, Presse), Sonic Booms "All Things Being Equal" (Pitchfork, Jungle World), das neue Album des Rappers Drake, dem NZZ-Kritiker Adrian Schräder bescheinigt "den Durchschnitt, den Mainstream zu kultivieren", Jan Lisieckis Dortmunder Chopin-Abend (FAZ) und neue Popveröffentlichungen, darunter das neue Album von Jehnny Beth (SZ).
Archiv: Musik