Efeu - Die Kulturrundschau

Ein gigantischer bunter Kristall

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18.06.2020. In Zeit und VAN-Magazin sprechen die Schriftstellerin Jackie Thomae und die Musiker Brandon Keith Brown und Hyuneum Kim über ihre ganz unterschiedlichen Erfahrungen mit Rassismus in Deutschland. FAZ und taz lesen rauschhaft in Nuri Bilge Ceylans türkischem Dialogepos "The Wild Pear Tree". In der SZ schildert der Musiker Seun Kuti die Klassendistanzierung in Nigeria. Die taz lernt in Chemnitz, wie das DDR-Künstlerkollektiv "Clara Mosch" mit Brotbacken 120 Stasi-Spitzel auf Trab hielt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.06.2020 finden Sie hier

Literatur

Im großen Zeit-Interview mit Ijoma Mangold spricht die deutsche Schriftstellerin Jackie Thomae, deren Vater aus Guinea stammt, über Rassismus, erklärt, weshalb sie sich weder als PoC noch als BiPoC fühlt und im Rassismus-Diskurs auch nicht als "Betroffene" fungieren möchte: "Wir sind das Vehikel für dieses angenehme Charity-Gefühl. Während der Interviews zu meinem Buch 'Brüder' dachte ich manchmal: Wie ist hier die Gesprächslage? Ein erklärter Nichtrassist befragt mich, die Betroffene, nach ihren Erfahrungen mit den anderen, den Rassisten. Oder: Ich bekomme eine E-Mail mit der Frage, wie ich gerne angeredet werden möchte. Was mein Lieblingsbegriff ist, mit dem ich mich wohlfühle. Ich fühle mich am wohlsten mit Leuten, die mich mit meinem Namen ansprechen. (…) Man hat mir dann auch angekündigt, dass es für Leute wie mich einen sogenannten safe space gibt, was die Frage aufwirft, was das für eine Veranstaltung sein soll, auf der ich derart geschützt werden muss. Als professionelle Person fände ich die Frage, wie hoch mein Honorar ist, viel wichtiger."

Alles in allem "ziemlich langweilig" wäre die nicht enden wollende Abfolge von Repräsentanten-Reden zum Auftakt des virtuellen Bachmann-Wettbewerbs gewesen, schreibt Dirk Knipphals in der taz, wenn da als Lichtblick des Abends nicht noch Sharon Dodua Otoos "sehr sachliche und sehr souveräne Rede zur Literatur" gewesen wäre: Die Bachmannpreisträgerin 2016 "performte nicht ihre Wut angesichts rassistischer Strukturen, sie klagte auch nicht an, sie lud eher dazu ein, gemeinsam an der 'gemeinsamen deutschen Sprache' und auch der Literatur zu arbeiten. ... Durch ihr eigenes Schreiben, sagt sie, wird sie als Schwarze Autorin unweigerlich zur Repräsentantin einer Community. Je mehr und je unterschiedlichere Schwarze Ansätze es dabei gibt, desto leichter wird den Einzelnen diese Repräsentation - ein Plädoyer nicht nur für gesellschaftliche Diversität, sondern auch für Diversität innerhalb der Community." Im Dlf Kultur spricht Otoo außerdem über den "hochgefährlichen" Rasse-Begriff im Grundgesetz.

Besprochen werden unter anderem Joris Bas Backers Comic "Küsse für Jet" (Tagesspiegel) und Shahriar Mandanipurs "Augenstern" (FAZ).
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Kunst

Bild: Norbert Schwontkowski. Saal 9. 2010. Mischtechnik auf Leinwand, 200x200cm, Kunsthalle Bremen, Geschenk Matthias Claussen, Bremen 2011. Nachlass Norbert Schwontkowski - Contemporary Fine Arts, Berlin. Foto: Karen Blindow.

Nicht "naiv, humorig und schlicht", sondern wie "religiöse Malerei ohne Kirche und Glauben" erscheinen Till Briegleb in der SZ die Gemälde von Norbert Schwontkowski, dem die Kunsthalle Bremen derzeit die Ausstellung "Some of my Secrets" widmet und die Witz und Melancholie des Bremer Malers zeigt: "Ein einsamer roter Kardinal steht in einem Museum der schwarzen Bilder und versteht die Welt nicht mehr. Ein gigantischer bunter Kristall wächst bedrohlich hinter einer Straße mit kleinen Autos und Figürchen empor und verkündet lapidar: 'Alle wollen nach Hause'. Ein großes Reifenlager hatte ein 'Good Year.' Und ein riesiges Kugelwesen in einem Saal der leeren Betten träumt mit aufgerissenem Lochmund einen 'Bad Dream'. Überall verschleiert Schwontkowskis Humor bewusst unvollkommen die Tragik des Lebens, die hinter seinen Bilderfindungen bitter durchscheint."

"Clara Mosch" - so lautete das Pseudonym der alternativen DDR-Künstlergruppe um Carlfriedrich Claus, Thomas Ranft, Dagmar Ranft-Schinke und Michael Morgner, die von 120 Stasi-Mitarbeitern beobachtet wurden und denen das Chemnitzer Kunstmuseum derzeit eine Ausstellung widmet, schreibt Joachim Lange in der taz: "Ob mit ihrer 'Promenade Göhren', bei der die Künstler 1979 nackt am Baum (der Erkenntnis?) wuchsen, oder bei der Back-Aktion 'Mehl Art' von 1980, wo das bloße Brotbacken den Genossen zum Rätsel wurde. Oder dann, als Michael Morgner in 'M. überschreitet den See bei Gallentin' (1981) den Messias gab, bei dem es eben nicht mit dem Gang übers Wasser klappte. Das alles hatte subversiven Witz, den das gelernte DDR-Publikum zu entschlüsseln wusste. Mit ihren Aktionen 'Holzkreuz' und 'Baum verbinden' trafen sie ziemlich zielsicher einen neuralgischen Punkt der DDR-Politik, die eher per Dekret als mit echten Lösungen auf ihr Versagen in Sachen Umwelt reagierte."

Weiteres:Im großen NZZ-Interview erklären Zürcher Kunsthaus-Direktor Christoph Becker und Präsident Walter Kienholz, warum sie nicht auf virtuelle Angebote gesetzt haben, was im Erweiterungsbau geplant ist und weshalb sie auf Ausstellungen für ein spezialisiertes Publikum setzen: "Es ist eben nicht unser Auftrag, die Leute mit Bussen aus ganz Süddeutschland herbeizukarren." Als Ausstellung zur Stunde würdigt Simone Reber die Schau "Time Present" im Palais Populaire, die sich anhand von Fotografien aus der Sammlung Deutsche Bank der Frage widmet, wieviel Vergangenheit und wieviel Zukunft in der Gegenwart enthalten ist. In der Welt plädiert Ulf Poschardt dafür, dass von Andreas Gursky initiierte und vom Bund mit 41,5 Millionen Euro subventionierte Deutsche Institut für Fotografie in Düsseldorf entstehen zu lassen. Das Kunst- und Kulturfestival "48 Stunden Neukölln" findet überwiegend online statt, meldet Beate Scheder in der taz. Die 11. Berlin Biennale findet ab dem 5. September statt, freut sich Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung.

Besprochen werden die Ausstellungsreihe "Creative Climate Care" mit einer Videoinstallation von Florian Semlitsch im Wiener Mak (Standard), die Ronald-Paris-Ausstellung im Schloss Biesdorf (Berliner Zeitung), eine Ausstellung mit Digitalprint-Gemälden von Kaspar Müller in der Galerie Société (Berliner Zeitung), die Ausstellung "300 Jahre Sammeln in der Gegenwart im Dresdner Kupferstichkabinett (Zeit) und die Ikonen-Ausstellung "Über dich freuet sich die ganze Schöpfung" in der Kunsthalle Recklinghausen (FAZ).
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Film

Eine "Literatur der inneren Freiheit": Nuri Bilge Ceylans "The Wild Pear Tree"

Barbara Schweizerhof braucht in der taz einen langen Anlauf mit vielen Entschuldigungen beim Lesepublikum, um endlich auf Nuri Bilge Ceylans dreistündiges türkisches Dialogepos "The Wild Pear Tree" zu sprechen zu kommen, das gängige Sehgewohnheiten und -interessen ziemlich unterläuft. Abschrecken sollte das aber niemanden: "Das Ceylan'sche Kino ist etwas für jedermann. Weder erfordert es bestimmte Vorkenntnisse über Kunstgeschichte oder das Filmemachen noch irgendein andere Sorte von Insiderwissen. Es braucht nur die Bereitschaft, sich darauf einzulassen, mit aufmerksamem, offenem Geist und jener Toleranz, wie man sie etwa als Teenager gegenüber den dicken Romanen des 19. Jahrhunderts aufbrachte: rauschhaftes Lesen, das willig in Kauf nimmt, dass man nicht alles versteht." Im Mittelpunkt des Geschehens, erfahren wir dann doch schlussendlich, steht ein junger Mann, der nach seinem Studium in das Dorf in den Dardanellen zurückkehrt, wo er seine Kindheit verbracht hatte.

Dieser Ort "ist ein Mikrokosmos der Türkei, die zeitlichen und geographischen Erstreckungen sind jederzeit präsent", erklärt dazu Bert Rebhandl in seiner online nachgereichten FAZ-Filmkritik nicht minder begeistert. Gesehen hat er einen Dialogfilm, bei dem "es auf jede Nuance, jedes Wort ankommt, natürlich in den Grenzen einer Untertitelung, die leider nur das Notwendigste vom anzunehmenden Reichtum der Sprache und der Anklänge vermitteln kann." Dieser Film ist "ein Buch der Bilder für eine Literatur der inneren Freiheit."

Weitere Artikel: Der Berlinale könnte es im Februar nutzen, dass die Oscarverleihungen im nächsten Jahr wegen Corona erst im April stattfinden, glaubt Daniel Kothenschulte in der FR.
Mely Kiyak empört sich in ihrer ZeitOnline-Kolumne sehr über die deutschen Rezensionen, die Michelle Obamas produzierten Porträtfilm über sie selbst als Promo-Film abtun: Diese "völlige Ausblendung von Rassismus, Gewalt und Zerstörung" sei geschmacklos. Urs Bühler freut sich in der NZZ auf den nächsten Kinobesuch.

Besprochen werden Spike Lees "Da 5 Bloods" (Perlentaucher, taz, mehr dazu bereits hier), Tonia Mishialis "Pause" (taz) und und RaMell Ross' auf Arte gezeigter Dokumentarfilm "Hale County, Tag für Tag" (Perlentaucher).
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Bühne

In Zeiten der Pandemie erleben Monolog und "Monodrama" auf den Bühnen ein Revival, freut sich Simon Strauss in der FAZ, die Geschichte des Monodramas resümierend. Es könnte "das Theater auch zu einer Umkehr aus der postdramatischen Sackgasse führen. So assoziativ und bedeutungsoffen auch allein gesprochen werden kann - der größte Betriebsfehler, sich nämlich von den Konflikten der Seele und den Abgründen der Existenz entfernt zu haben, um hilflos Neuigkeit zu behaupten, wird korrigiert: Beim Monodrama tritt die Bewegung der Seele an die Stelle angelesener Theorie. Innere Konflikte, Bewusstseinsangst, Selbstbefragung - das Monodrama scheint zuletzt gut in eine Zeit zu passen, die der individuellen Psyche und Identität beinahe alles an Wert unterordnet."

Weiteres: Fast 100 Kreative fordern in einem offenen Brief Maßnahmen von der britischen Regierung zur Rettung der Theater, meldet der Guardian: "Die meisten britischen Theater sind seit Mitte März geschlossen, als das Land begann, die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen. Mindestens vier sagten, dass sie nicht wiedereröffnet werden. Andere fangen an, Entlassungen vorzunehmen. Etwa drei Viertel der Veranstaltungsorte geben an, dass ihnen bis Weihnachten das Geld ausgehen wird." In der FAZ erzählt Alexander Kosenina die Geschichte der Maske in der Dramengeschichte. Besprochen wird Angela Alves' Zoom-Performance "No Limit" über das Leben mit Behinderung in der Berliner Sophiensälen (Berliner Zeitung, nachtkritik).
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Musik

Im Zeit-Gespräch mit Christine Lemke-Matwey erklärt der afroamerikanische Dirigent und Aktivist Brandon Keith Brown wie er den Unterschied zwischen amerikanischem und deutschem Rassismus wahrnimmt: "Afroamerikaner sagen, wenigstens schießen sie hier nicht auf uns! Das deutsche Rassismus-Verständnis ist primitiv. Rassismus ist ein böses Wort, mit dem man nichts zu tun haben möchte; Rassismus ist, wenn dir jemand den Kopf einschlägt. Wenige verstehen, dass Rassismus ein System mit tausend Manifestationen im Alltag ist. Er sitzt in allen Köpfen. Rassismus umgibt uns wie die Luft, die wir atmen. Schwarze werden im Restaurant nicht bedient und müssen bei Rossmann ihren Ausweis zeigen. Weder die Regierung noch die Polizei, noch die Gesellschaft ahnden solche Fälle."

Die in Berlin lebende koreanische Sopranstudentin Hyuneum Kim spricht im VAN-Magazin, nachdem sie Ende April in einer U-Bahn schwer beleidigt wurde und die Polizei den Fall abwiegelt, über anti-asiatischen Rassismus, der ihren Alltag prägt: "Wenn ich durch die Straße gehe, rufen Leute 'Konnichiwa' oder 'Ching Chang Chong' oder machen vulgäre Gesten. Es sind vor allem Männer. ...  Sie denken wir sind klein und schwach. Aber das stimmt nicht. Bei diesem Vorfall Ende April in der U-Bahn griff ich den einen Kerl, der mich belästigt hatte, so fest, dass er sich nicht losreißen und flüchten konnte. Sie sollen nicht weiter denken, dass asiatische Frauen schwach sind und immer höflich, egal was man zu ihnen sagt. Ich bin es nicht, ich habe da keine Geduld mehr."

Sehr wütend spricht der nigerianische Musiker Seun Kuti über die Coronalage in Lagos: Was in in den hochentwickelten Industrienationen einigermaßen funktioniert, ist in Nigera zum krachenden Scheitern verurteilt. "Über die Hälfte der Nigerianer lebt von weniger als zwei Dollar am Tag. Wie viele von denen können zwei Wochen daheimbleiben, ohne sich durch Straßengeschäfte ihr tägliches Essen zu sichern? ... Letztendlich läuft alles auf eine Klassendistanzierung hinaus. Man rät den Reichen mit Villen und westlichem Lebensstil, sich von den Armen fernzuhalten. Weil alle, die täglich hinaus auf die Märkte und in überfüllte Busse müssen, ein höheres Risiko haben, sich anzustecken. Auf lange Sicht werden also mehr Arme als Reiche am Virus erkranken."

Weitere Artikel: Sollte die US-Polizei tatsächlich reformiert werden, wäre dies auch ein Erfolg von Hip-Hop, kommentiert Karl Fluch im Standard. In VAN spricht die Sopranistin Laura Aikin über ihre Erfahrungen als Regaleinräumerin in einem Supermarkt, womit sie die Corona-Auszeit überbrückt hat: "Jetzt habe ich gelernt, wie Menschen durch so einen Job plötzlich ganz klein gemacht werden." Das Mozartfest Würzburg schlägt sich mit einer Open-Air-Initiative wacker gegen Corona, berichtet Jan Brachmann in einem online nachgereichten FAZ-Artikel. Filme über Clubkultur kommen über Klischees selten hinaus, stellt Jens Balkenborg im Freitag fest. In der VAN-Komponistinnenreihe schreibt Arno Lücker über Sara Lewina. Besprochen wird Bob Dylans neues Album "Rough and Rowdy Ways" (ZeitOnline, Freitag, mehr dazu bereits hier und dort),
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