Efeu - Die Kulturrundschau

Nicht ein einziges garstiges Wort

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19.06.2020. "Muss jetzt jede Carmen eine Roma sein?", fragt die Welt jene, die eine braun geschminkte Anna Netrebko als Aida für rassistisch halten. Der Freitag fordert eine kommentierte Ausgabe von "Vom Winde verweht" - ohne zu glauben, man könne den Zuschauern damit den Rassismus austreiben. Im Guardian verrät Werner Herzog sein Ehegeheimnis: Englisch sprechen. Das britische Theater hat ein Klassenproblem, konstatiert der Dramatiker James Graham ebenfalls im Guardian. Und die Berliner Zeitung erkennt bei Veronika Kellndorfer die gespenstische Poesie der Neuen Nationalgalerie.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.06.2020 finden Sie hier

Kunst

Barbara Kasten, Architectural Site 8, December 21, 1986, Cibachrome © Barbara Kasten, Courtesy die Künstlerin

Unbedingt auch in Europa zu entdecken ist die amerikanische Fotokünstlerin Barbara Kasten, versichert Jens Hinrichsen im Monopol Magazin nach dem Besuch der Ausstellung "Works" im Kunstmuseum Wolfsburg. Kasten denke als Fotografin wie eine Malerin, schreibt er: "In Wolfsburg sind sowohl ihre Fotogramme als auch ihre inszenierten Fotografien zu sehen, die der Malerei mitunter näher scheinen als dem Fotomedium selbst. Mit Deko-Gegenständen, Plexiglas-Flächen und Spiegel-Elementen baut Kasten in ihrem Studio stark abstrahierte Szenerien zusammen, benutzt farbige Lichtquellen wie eine Werbefotografin und lichtet die Situationen mit der Großformatkamera ab. Der Künstlichkeit ihrer Aufbauten wirkt Kasten entgegen, indem sie die Materialität der Objekte betont."

Geradezu magisch erscheinen Ingeborg Ruthe (Berliner Zeitung) die im Berliner Mies van der Rohe Haus in Hohenschönhausen ausgestellten Fotografien der Künstlerin Veronika Kellndorfer, die sich kurz vor der Schließung in der Neuen Nationalgalerie einschließen ließ und deren Bilder an der "Schnittstelle zwischen Architektur und Bild" ansetzen: "Alles scheint sich fast kaleidoskopisch ineinander zu spiegeln, zu verschmelzen. Die Wirkung entbehrt nicht der Dramatik, jedoch ohne Pathos, eher mit lakonischem Subtext. Mies' Architektur und der Stadtraum, das Licht und die anderen Bauten sowie die Natur ringsum werden eins, gerinnen zu Zeit und Raum. Der Turm der vom Schinkel-Schüler August Stüler erbauten St. Matthäuskirche ragt aus den Brechungen von klaren, minimalistischen Formen und dem Licht heraus: die Uhr zeigt 12 Uhr mittags an, als winziges Gran einer leicht gespenstischen Poesie." Den "Geist von Mies" spürt auch taz-Kritikerin Beate Scheder in der, wie sie findet, "feinsinnigen" Ausstellung.

Besprochen werden die Ausstellung "En Passant. Impressionismus in Skulptur" im Frankfurter Städel-Museum ("Ein paar Brocken Bronze", schimpft eine enttäuschte Catrin Lorch in der SZ) und die Otto-Piene-Ausstellung "Die Sonne kommt näher" im Zürcher Haus Konstruktiv (NZZ).
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Literatur

In der SZ schließt sich Jens Bisky Ines Geipels Forderung nach einer kommentierten Werkausgabe Susanne Kerckhoff an (unser Resümee): Zwar ist es an sich erfreulich, dass deren "Berliner Briefe" von 1948, eine unversöhnliche Abrechnung mit dem Opportunismus im Nachkriegsdeutschland, wieder aufgelegt wurden, aber zugleich auch sehr schade, wenn nicht ärgerlich, dass im Zuge "weder Leben noch Werk noch Zeitumstände angemessen erhellt werden. ... Ein Kommentar zu den Personen und Ereignissen, die sie Revue passieren lässt, wäre unbedingt erforderlich gewesen. So erzählt sie, der Weiß Ferdl sei in München vor seinem Publikum erschienen, auf der einen Schulter vier Zwiebeln, auf der anderen eine: 'In der Nazizeit hat uns einer gezwiebelt - jetzt zwiebeln uns vier!' Angesichts dieser Gleichsetzung von Nazi-Diktatur und alliierter Besatzung hätte man doch gern erfahren, dass der deutsche Humorist Weiß Ferdl früh mit den Nazis sympathisierte, oft antisemische Witze erzählte, nach Kriegsbeginn in die NSDAP eintrat und bis heute mit einem Brunnendenkmal auf dem Viktualienmarkt geehrt wird."

Außerdem: Online bei der taz resümiert Ekkehard Knörer den ersten Bachmann-Lesetag: Gut ist's gewesen, allerdings weniger wegen der Texte, sondern wegen der Jury, die sich an der "populistischen Möchtegern-Opposition" des Mitglieds Philipp Tingler ziemlich abarbeiten muss. In 54books erinnert Simon Sahner an den deutschen Underground-Autor und Übersetzer Carl Weissner, der heute 80 Jahre alt geworden wäre: Der war zwar alles in allem "kein guter Schriftsteller", machte sich aber wie kein zweiter hierzulande um die US-Undergroundszene verdient und war mit deren Größen von Bukowski bis Burroughs bestens befreundet - "deswegen umwehte sein Auftreten immer die Aura eines lässigen Amerikaners." Gerrit Bartels (Tagesspiegel) und Marie Schmidt (SZ) berichten vom Auftaktabend des Bachmannwettbewerbs (mehr dazu bereits hier). Martin Lechner hat sich für 54books sämtliche Porträtfilme des Bachmannwettbewerbs zu Gemüte geführt, die ihn "ehrlich gesagt schon immer mehr interessiert haben als die Lesungen." Außerdem bringt 54books eine Erzählung von Jochen Veit.

Besprochen werden unter anderem Guillermo Martínez' "Der Fall Alice im Wunderland" (FR), Pavel Feinsteins "Krokodilopolis" (FR), Gerd Doeges und Ralf Schnells "Es entfernten sich die Dinge. Kalligrafische Reflexionen" (Tagesspiegel) sowie Belinda Cannones "Vom Rauschen und Rumoren der Welt" (SZ).
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Film

"Vom Winde verweht" ist für Georg Seeßlen "das perfekte Beispiel für strukturellen und verdeckten Rassismus", schreibt der Kritiker im Freitag. Eine "'kommentierte' Ausgabe" wäre demnach durchaus in Betracht zu ziehen und zwar nicht, weil Seeßlen glaubt, man könne den Zuschauern damit schon den Rassismus austreiben, "sondern vor allem, weil es verdeutlichen kann, wie Rassismus in die Tiefenstruktur von Erzählungen und Bildern eindringt." Schlussendlich ist der Film "ein Meisterwerk des strukturierten Wegschauens; eine Schule des weißen Sehens, in der man lernt, die Welt so zu sehen, dass der Rassismus unsichtbar und zugleich präsent bleibt."

"Die Repräsentation des Selbst ist nicht mehr das, was sie einmal war", sagt Werner Herzog in einem großen Guardian-Interview (dem auch zu entnehmen ist, dass derzeit offenbar Heerscharen von 15-Jährigen seine Filme entdecken). Aber wie ist das - fühlt er sich im tiefen Kern seines Wesen anders, je nachdem, ob er Deutsch oder Englisch spricht? "Ich sage nur eins: Meine Frau wuchs in Sibirien auf. Ihre Muttersprache ist Russisch. Meine Muttersprache ist Bayerisch, was nicht einmal Deutsch ist, sondern ein Dialekt. Vor 25 Jahren haben wir uns darauf geeinigt, miteinander weder auf Deutsch noch auf Russisch zu sprechen, sondern die Bequemlichkeit hinter uns zu lassen und auf Englisch miteinander zu kommunizieren. Das bedeutet, dass wir beide sehr achtsam und vorsichtig sind. Wir artikulieren unsere Gefühle so gut es geht in einer fremden Sprache. Das Ergebnis? Nicht ein einziges garstiges Wort zwischen uns in 25 Jahren." Und überhaupt: "Nicht Englisch ist meine erste erlernte Fremdsprache, sondern Deutsch".

Weitere Artikel: In der FAZ gratuliert Verena Lueken der Schauspielerin Gena Rowlands zum 90. Geburtstag. Besprochen werden Štěpán Altrichters gleichnamige Verfilmung von Jaroslav Rudiš' Roman "Nationalstraße" (Zeit), Waad al-Kateabs Aleppo-Doku "Für Sama" (Zeit), Billy Wilders auf DVD veröffentlichter Kriegsfilm "Fünf Gräber bis Kairo" aus dem Jahr 1943 (Berliner Zeitung) und die DVD von Alfréd Radoks "Der weite Weg" von der 1949 (aus der gestrigen taz, dies hatten wir übersehen).
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Musik

Für die taz porträtiert Jürgen Ziemer die Band Faratuben aus Mali, die wegen Corona seit Monaten in Dänemark festsitzt und seitdem dazu gezwungen ist, dem Schuldenberg beim Wachsen zuzusehen (das Label der Band hat daher ein Crowdfunding eingerichtet). Tim Caspar Boehme schreibt in der taz einen Nachruf auf den britischen Jazzpianisten Keith Tippett. Thomas Kielinger schreibt in der Welt einen Nachruf auf die Sängerin Dame Vera Lynn. Kubrick-Fans kennen sie am ehesten von diesem Stück:



Besprochen werden unter anderem Bob Dylans neues Album "Rough and Roudy Ways" (NZZ, mehr dazu bereits hier), Neil Youngs bereits 1974 aufgenommenes, aber erst jetzt aus dem Schrank geholtes Album "Homegrown", das sich für SZ-Kritiker Julian Dörr bestens zwischen Youngs Alben "Harvest" (1972) und "Tonight's the Night" (1975) einfügt, das neue Album des Jazztrompeters Ambrose Akinmusire (Standard), eine "Otello"-Aufnahme mit Jonas Kaufmann unter Antonio Pappano (Tagesspiegel), das neue Haftbefehl-Album (FAZ) und das Album "Women in Music Pt. III" des Trios Haim (taz). Ein Video:

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Bühne

Eine braun geschminkte Anna Netrebko als Aida sei rassistisch und soll nach Forderungen von Kollektiven an der New Yorker Metropolitan Opera deshalb aus der Mediathek verschwinden, schreibt Manuel Brug in der Welt kopfschüttelnd über so viel Correctness-Furor: "Muss, konsequent weitergedacht, jetzt jede Carmen eine Roma sein, jede Turandot Chinesin, jede Lakmé Inderin? Natürlich ist gerade das auch die Geschichte des Kolonialismus und Imperialismus widerspiegelnde Repertoire des 19. Jahrhunderts rassistisch und vorurteilsbeladen." Aber wo soll man aufhören mit den Verboten? "Was ist mit der angeblich so frauenfeindlichen Mozart-Oper 'Così fan tutte', der ähnlich misogynen 'Zauberflöte' und dem 'Don Giovanni' als höllischer Apotheose eines Wüstlings? Alle reif für die Correctness-Tonne?"

Das britische Theater hat ein Klassenproblem, das sich nach der Coronakrise noch verschlimmern wird, konstatiert der Dramatiker James Graham im Guardian: "Die größte Bedrohung für die Vitalität von Theaterstücken, Musicals und Live-Auftritten nach dem Ende der Sperre ist die Abwanderung von Menschen, die die Künste verlassen. Publikum, das sich vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Belastungen keine Ticketpreise mehr leisten kann, was die Idee bekräftigt, dass Kultur 'nichts für sie' ist. Qualifizierte Künstler - insbesondere solche mit einem niedrigeren sozioökonomischen Hintergrund und jene aus der Arbeiterklasse (ja, wir existieren in der Kunst) -, die es sich nicht leisten können, in der Branche zu bleiben."

Weiteres: Ebenfalls im Guardian berichtet Chris Wiegand von der Kampagne "The heart of a community", für die sich britische Kulturschaffende zur Rettung der Theaterbranche in Großbritannien zusammengeschlossen haben. In der Berliner Zeitung kündigt Doris Meierhenrich die morgen live im HAU-Kanal gestreamte Performance "Show me a good Time" an, die das Postdrama-Kollektiv Gob Squad für das Berliner Hebbel am Ufer konzipiert hat. Die Zeit hat ihre Besprechung zu Johan Simons' Inszenierung von Elias Canettis "Die Befristeten" am Schauspielhaus Bochum online nachgereicht. Besprochen werden außerdem Niklaus Helbings Inszenierung "Das Tal der Ahnen" am Staatstheater Mainz (FR) und Alexandra Pâzgus derzeit nur im Stream zu sehendes Stück "fluss, stromaufwärts" im Werk X Petersplatz in Wien (Standard).
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