Efeu - Die Kulturrundschau

Ein ob der Welt frustrierter Katzenfreund

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20.06.2020. Die LiteraturkitikerInnen ziehen eine durchwachsene Zwischenbilanz zum Bachmann-Wettbewerb: Die achtzigjährige Helga Schubert gilt als Favoritin, Neu-Juror Philipp Tingler als enfant terrible. Es wird wieder massiv illegale Partys in Berlin geben, glaubt DJ Emerson in der taz mit Bick auf die coronabedingt geschlossenen Clubs. Tagesspiegel und taz erinnern an den vor 25 Jahren von Christo und Jeanne-Claude verhüllten Reichstag, der Berlin die "Kalte-Kriegs-Mentalität" austrieb. In der SZ lüftet Martin Schoeller das Geheimnis der Porträtfotografie.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.06.2020 finden Sie hier

Literatur

Kaum erträglich findet Richard Kämmerlings in der Literarischen Welt den digitalen Bachmann-Wettbewerb, der ihm einen "Schaukampf literarischer Alphatiere" mit Neu-Juror Philipp Tingler in der Rolle des "Holzhammer"-Reich-Ranickis bietet: "Die Debatte … wird nicht etwa konzentriert und versachlicht, sondern schaukelt sich bei kleinsten Differenzen gleich ins Persönliche und Verletzende hoch wie man es sonst von Internetkommentaren kennt." Einzig die achtzigjährige Autorin Helga Schubert, die einen autobiografischen Text über ihre DDR-Kindheit und ihre kürzlich verstorbene Mutter las, einte die Diskutanten: "Was auch immer noch geboten werden wird, auf dem Papier oder in der Arena der Juroren-Hahnenkämpfe, dass Helga Schubert unter den Preisträgern ist, scheint gewiss."

Im Standard setzt auch Michael Wurmitzer auf Helga Schubert, denn "auch die weiteren Autoren machten es nicht allen recht. Hanna Herbst arrangierte in ihrer Verlustanzeige eines geliebten Menschen viele schöne Sätze oft nah am Kitsch. Käme gut auf Social Media. Matthias Senkels Spurensuche in der deutschen Pampa fiel eher durch. Bei Levin Westermans Abschluss über einen ob der Welt frustrierten Katzenfreund 'fühlte' nicht nur Nora Gomringer mit. Verstehen zweitrangig, hieß es." "Wirkliche Geschichten waren in den ersten anderthalb Tagen des Bachmann-Wettbewerbs nicht zu hören. Eher Bekenntnistexte und Monologe einer Literatur, die so melancholisch dahinredet, wie sich die von ihr beschriebene Gesellschaft womöglich anfühlt", meint auch Paul Jandl in der NZZ, der ebenfalls auf Helga Schubert setzt. Im Tagesspiegel kann Gerrit Bartels die Begeisterung für Schubert nicht ganz teilen.

In der SZ sind Marie Schmidt und Stephan Felix indes ganz zufrieden damit, wie der Bachmann Wettbewerb die Coronakrise gemeistert hat: Mit Aufzeichnungen von den Lesungen und Online-Diskussionen. "So fatal es gewesen wäre, ausgerechnet in diesem Jahr keinen Bachmann-Wettbewerb zu haben, war es doch sicher auch keine übertriebene Vorsicht der Verantwortlichen, nicht einfach schnell eine improvisierte Streaming-Version aufzureißen, die den Bachmannpreis vielleicht für immer im Netz versenkt hätte. Stattdessen hat man eine Form gefunden, die wie ein Zwitter aus Video-Call und Late Night Show aussieht und nonchalant Professionalität mit Improvisation verbindet. Und mit albernen kleinen Ideen, wie den Justitiar des Wettbewerbs, der sonst nur die Lesereihenfolge auslosen und am Ende die Abstimmung für die Preisträger bezeugen darf, Tweets aus dem Internet vorlesen zu lassen. Da zeigt sich der digitale Spezial-Bewerb seiner Gegenwart und der eigenen Skurrilität absolut gewachsen."

Eher schmallippig würdigen die Literaturkritiker den am Freitag im Alter von 55 Jahren an einer Krebserkrankung in Los Angeles verstorbenen spanischen Autor Carlos Ruiz Zafon, dessen Roman "Der Schatten des Windes" zu den meistverkauften spanischen Büchern gehört. "Zafóns Erfolgsrezept war eine Mischung aus Fantasy, Magischem Realismus und Bildungsroman, mit Anleihen an Jorge Luis Borges, Gabriel García Màrquez und Charles Dickens",  erinnert Maria Delius in der Welt. Zafon "hat es geschafft, Selten-Leser zu beglücken und zugleich die Kritik zu überzeugen", schreibt Cornelia Geißler immerhin in der FR. Und in der NZZ schreibt Michi Strausfeld eine Hymne auf Zafons Barcelona-Tetralogie: Sie biete "viel mehr als beste Unterhaltung: Sie thematisiert die politischen Verwerfungen und das Erbe des Franquismus, die Zafóns Kindheit geprägt haben."

Weiteres: Uwe Timms Roman "Morenga" von 1978 war einer der ersten deutschen Romane, der das Thema Kolonialismus behandelte, erst in jüngerer Zeit folgten mit Lukas Bärfuss und Christopher Kloeble weitere Autoren, die sich an das Thema heranwagten, schreibt Sieglinde Geisel in einem Feature für den Dlf-Kultur: "Das Problem bei dieser Art von Literatur sei, dass man nicht aus der eigenen Erfahrung schreiben könne, sagt Lukas Bärfuss. Über den Kolonialismus und seine Folgen zu schreiben, kann für einen weißen Autor durchaus unangenehm sein." Der Dlf Kultur hat außerdem eine "Lange Nacht" über den Pop-Literaten Wolfgang Welt online gestellt. In einem großen Standard-Essay denkt Marlene Streeruwitz über Erziehung und Bildung in Zeiten von Corona nach. In der Literarischen Welt schreibt Gisela Trahms eine Hommage zum 75. Geburtstag des polnischen Dichters Adam Zagajewski. Für die taz porträtiert Katharina Granzin Pulp Master Verleger Frank Nowatzki.

Besprochen werden u.a. Masha Gessens "Leben im Exil" (FR), Mario Vargas Llosas Roman "Harte Jahre" (taz), Matthias Glaubrechts "Das Ende der Evolution" (taz), Hans Joachim Schädlichs Roman "Die Villa" (FAZ) und "Die Klimaschutzlobby" von Susanne Götze und Annika Joeres (FAZ).
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Kunst

Martin Schoeller, Michael Douglas mit Lidschatten, 2013 


Martin Schoellers Porträtfotografien kann man hierzulande gerade in drei Ausstellungen sehen: im Camerawork Berlin, der Zeche Zollverein in Essen und dem NRW-Forum Düsseldorf. Er verbrauche so drei bis acht Filme pro Person, erklärt er im Interview mit der SZ, trotzdem fällt ihm die Auswahl oft leicht: "Die Leute, die ich fotografiere, fragen oft, warum ich denn so viele Fotos mache, wenn sie doch eigentlich immer gleich aussehen. Aber das stimmt eben nicht. Wenn man die dann unter der Lupe betrachtet, gibt es minimale Unterschiede, die entscheidend sind. Ein bisschen mehr Spannung in den Lippen, ein unterschwelliges Lächeln. ... Wenn ich dann vergrößere, hänge ich vier, fünf Aufnahmen an die Wand, um mein Lieblingsbild zu finden. Manchmal lasse ich meine Mitarbeiter auf Zetteln abstimmen, und erstaunlicherweise suchen die in der Regel alle das gleiche Bild aus. Auf dem die Person eben am entspanntesten schaut."

Vor 25 Jahren verhüllten Christo und Jeanne-Claude den Berliner Reichstag. In Berlin herrschte zu jener Zeit noch die "Kalte-Kriegs-Mentalität", erinnert sich Ingo Ahrend in der taz: "Der verhüllte Reichstag wirkte da nicht nur wie ein temporärer optischer, sondern auch wie ein atmosphärischer Aufheller. Er gewann diesem Trümmerhaufen der Geschichte mit einem betörenden Kunstgriff ein unerwartetes Gefühl undeutscher Anmut und Leichtigkeit ab - eine psychologische Zeitenwende." Nach den zuvor hitzig geführten Debatten war das zunächst nicht zu erwarten: "Die Vorbehalte gegen das Projekt waren immer groß. Es hatte etwas Hilfloses, dass die Konservativen ausgerechnet eine nationale Ikone nicht entehren lassen wollten, die für die Selbstentmächtigung des deutschen Parlamentarismus stand. Befürworter steigerten sich in eine fast religiöse Hoffnung auf Reinwaschung von der widersprüchlichen deutschen Demokratiegeschichte. Wegen seiner Spektakelhaftigkeit stand es dann wieder unter dem Verdacht der nationalen Erbauungsästhetik."

Im Tagesspiegel-Gespräch mit Peter von Becker erzählt der amerikanische Publizist und Historiker Michael S. Cullen, wie er Christo und Jeanne-Claude mit einer Schwarzweiß-Postkarte des Reichstags auf die Idee der Verhüllung brachte: "Der damals gerade restaurierte Bau ohne Kuppel war für mich auch ein enthauptetes Symbol der deutschen und europäischen Geschichte, das irgendwie nach neuem, anderem Leben rief. Nach einer Verzahnung von Politik und Kunst im öffentlichen Raum. Das war zur Zeit der Proteste gegen den Vietnamkrieg ein großes Thema. Doch mit dem Reichstag sollte offiziell, außer gelegentlichen Ausschuss-Sitzungen von Bonner Bundestagsabgeordneten, nichts geschehen. Nichts bis zu einer deutschen Wiedervereinigung. Das erschien mir damals zu fern. Und ein bisschen zu doof."

Besprochen werden die Franz-Erhard-Walther-Ausstellung im Münchner Haus der Kunst (Standard) und der "Lichtparcours" in Braunschweig (taz).
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Bühne

Ziemlich gut gelungen findet Judith von Sternburg in der FR Jan Christoph Gockels coronagerecht zum Film uminszeniertes Mainzer Theaterprojekt "Beethoven - ein Geisterspiel". Aber: "'Beethoven - ein Geisterspiel' vermittelt wenig über Beethoven und viel über seine Verehrer." Für die NZZ porträtiert Daniele Muscionico den Leiter des Zürcher Theaters Rigiblick Daniel Rohr. Außerdem: Die Nachtkritik zum Streamen: hier und hier.
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Stichwörter: Gockel, Jan-Christoph

Film

Die Verfilmung von "Vom Winde verweht" (Unsere Resümees) ist nun mal ein "rassistischer Superspreader, der nach wie vor wie die Köpfe verseucht", meint Rupert Koppold in der taz. Man kann und konnte ihn nie nur als Liebesgeschichte sehen - ähnliches gilt für D.W. Griffiths "The Birth of Nation" von 1915, so Koppold: "In seinem Denunziationswillen reicht Griffiths Machwerk an antisemitische Nazi-Propagandafilme heran."

Weiteres: Im Filmdienst schreibt Patrick Holzapfel eine Hommage an die amerikanische Schauspielerin Gena Rowlands, die am 19. Juni 2020 ihren 90. Geburtstag feierte. Nachrufe zum Tod des britischen "Herr der Ringe"-Schauspielers Ian Holm bringen unter anderem der Guardian, der Standard und Zeit Online. Besprochen wird Spike Lees Vietnam-Kriegsveteranen-Film "Da 5 Bloods" (NZZ, Unsere Resümees)
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Musik

Es gibt keinerlei Anhaltspunkte, wann es für Clubs und Partys wieder losgehen könnte, seufzt DJ Emerson im taz-Gespräch mit Andreas Hartmann. Er glaubt, dass mit dem Sterben der Clubs auch der Tourismus in Berlin anders aussehen wird: Manche Fluglinien werden wohl gestrichen werden. Aber es wird "wahrscheinlich wieder massiv illegale Partys geben in Berlin. Es könnte wieder ein wenig so werden wie in den Neunzigern. Nach der Wende gab es viele leer stehende Locations, viele Geschäfte, die pleitegegangen sind. Das ist ja durchaus eine Situation, die mit der aktuellen vergleichbar ist. Es wird Selfmade-Locations geben, wo jemand sein Soundsystem reinstellt, es werden ein paar SMS herumgeschickt, und dann geht es los. Im Sommer wird sicherlich auch das eine oder andere illegale Open-Air-Festival stattfinden, irgendwo im Wald, am Stadtrand."

In der SZ stellt Juliane Liebert die 25-jährige amerikanische Songwriterin Phoebe Bridgers vor, deren zweites Album, "Punisher", gerade  erschienen ist. Die delirierende Begeisterung von New Yorker-, Guardian- und Pitchfork-Kritikern für Bridgers Pophymnen teilt sie definitiv nicht: "Bridgers gibt sich auf dem Album einem permanenten, ungebrochenen Empfindsamkeitsgestus hin. Sie singt darüber, was sie fühlt. Mal nix, mal irgendwas. Aber sie fühlt immer. Gut für sie."

Weitere Artikel: Kai Strittmatter besucht in Stockholm für die Seite 3 der SZ Björn Ulvaeus, "das erste b in 'Abba'. Der ohne Bart." Reinhard J. Brembeck, der für die SZ in Europas Musikhäusern nach ersten Konzerten gesucht hat, meldet enttäuscht: "Die meisten melden rein gar nichts zur kommenden Spielzeit." In der FAZ stellt Kerstin Holm das Projekt "Music and Dialogue" vor, das Künstler aus Osteuropa und Deutschland für Konzerte im Osten der Ukraine zusammenbringt.

Besprochen werden Bob Dylans Album "Rough an Rowdy Ways" (Ein "Meisterwerk" mit Bezügen zu den aktuellen Konflikten in den USA, schreibt Martin Schäfer in der NZZ, weitere Besprechungen in taz, Standard), die Neuauflage der ersten beiden Alben von The Monochrome Set (Standard) und Neil Youngs Album "Homegrown" mit teils unveröffentlichten Songs aus den Siebzigern: Nicht gerade "sagenhaft", meint Markus Schneider in der Berliner Zeitung: "Den schon recht großen Liebes- und Herzbruchliedern stehen … auch ein paar arg laue Nummern gegenüber."
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