Efeu - Die Kulturrundschau

Ein stiller Akt literarischer Güte

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22.06.2020. Sehr glücklich sind die LiteraturkritikerInnen mit Bachmann-Preisträgerin Helga Schubert: Für den Tagesspiegel eine der spektakulärsten Gewinnerinnen der Geschichte. Jan Kovaks wenig schmeichelhafte Milan-Kundera-Biografie hat in Tschechien einen geschichtspolitischen Bürgerkrieg ausgelöst, konstatiert die FAZ. Im Welt-Interview lässt sich Woody Allen derweil nicht von der Kritik an seiner Autobiografie aus der Ruhe bringen. Für den Kunsthandel ist Deutschland ein Wettbewerbsnachteil, ärgert sich Johann König ebenfalls in der Welt. Und die FAS staunt über das Plastik-Palmyra von Verena Issel.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.06.2020 finden Sie hier

Literatur

Sehr zur Zufriedenheit der Kritiker ist der in diesem Jahr als reines Online-Zeltlager konzipierte Bachmann-Wettbewerb mit einer Auszeichnung für die 80-jährige Schriftstellerin Helga Schubert zu Ende gegangen (hier ihre Geschichte "Vom Aufstehen" als PDF). Gar nicht zufrieden zeigt sich Ekkehard Knörer im großen taz-Resümee hingegen mit der Performanz des mit seinen Zwischenrufen alle nervenden Jurors Philipp Tingler. Generell war die Jury wohl mit Blick aufs Spektakel zusammengestellt: "In eine ähnliche Richtung zielte das Zusatzcasting der Autorin Julya Rabinowich und des Kritikers Heinz Sichrovsky aus Wien. Rabinowich war super und mischte sich zwischendurch auch ins Twittergespräch. Sichrovsky dagegen war leider selbst als Netzverächter und alter weißer Mann aus dem Bilderbuch fehlbesetzt, weil einfach zu doof."

Zurück zur Gewinnerin, Helga Schubert, deren Auszeichnung in den Augen der SZ-Kritikerin Marie Schmidt "eine völlig unanfechtbare Entscheidung" darstellt. Schubert erzählt in ihrem Text vom schwierigen Verhältnis zu ihrer Mutter, erklärt David Hugendick auf ZeitOnline: Sie "nähert sich dieser Mutter, einer vom Leben verhärteten, wenig gütigen Frau mit einer beeindruckenden sprachlichen Klarheit an, während zugleich ein historisches Tableau dezent aufscheint, die Flucht aus Pommern, der Weltkriegstod des Vaters. Ihr Text ist ein stiller Akt literarischer Güte und des Verständnisses gegenüber einer Frau, die ihre Tochter nie gewollt hat, diese aber bis zum Tod bat, über sie zu schreiben."

Schuberts "verschlungene Ost-West-Geschichte dürfte in Zukunft sicher zu einer der erzählenswertesten, spektakulärsten des Bachmann-Wettbewerbs zählen", ist sich Gerrit Bartel im Tagesspiegel sicher. Zudem ist der Text "durchwirkt vom diskreten Anspielungsreichtum eines langen Leserinnenlebens", schreibt Judith von Sternburg in der FR. Schuberts Text "nimmt christliche, musikalische und Naturmotive auf, tritt in Dialog mit Ingeborg Bachmann und mit den Dichtern der Romantik, bleibt aber immer nah an der Gesellschaft, an den Entbehrungen einer Generation", erklärt Cornelia Geißler in der Berliner Zeitung. Dlf Kultur hat mit der Preisträgerin gesprochen:, die von sich sagt: "Ich musste 80 Jahre werden, um das schreiben zu können." Hier alle Geschichten zum Nachlesen im Überblick, des weiteren hier alle Videos des Wettbewerbs.

In Tschechien erscheint diese Woche eine, den ersten Vorab-Interviews mit dem Autor Jan Novák nach zu urteilen, wohl wenig schmeichelhafte Biografie über den Schriftsteller Milan Kundera, dem Novák vorwirft, sich bis in die siebziger Jahre mit der kommunistischen Regierung immer wieder arrangiert zu haben. Entsprechend kontrovers laufen bereits die Diskussionen, berichtet Niklas Zimmermann in der FAZ, den beim Blick nach Tschechien in den letzten Monaten ohnehin der Eindruck befiel, dass das Land "sich in einem geschichtspolitischen Bürgerkrieg" befinde: "Novák verstünde von tschechischer Geschichte nichts, schrieb der frühere Dissident Petr Pospíchal auf dem linksorientierten Portal Deník Referendum. Alles nur aus der Perspektive des Antikommunismus zu betrachten sei 'billig' und spalte die Gesellschaft. Der Literaturjournalist Adam Borzič sprach in der Kulturzeitschrift Revue Prostor gar von einer antikommunistischen 'Orthodoxie'. Unterstützt wurde Novák dagegen von Pavel Šafr, dem Chefredakteur des liberal-konservativen Portals Forum 24. Die Kundera-Anhänger zeigten Anzeichen eines religiösen Fanatismus, kommentierte er. Für die 'intellektuelle Linke' dürfe nicht sein, dass ihre Galionsfigur moralisch derart versagt habe."

Weitere Artikel: Manuel Müller porträtiert in der NZZ die Schriftstellerin Maaza Mengiste. Im Standard spricht der Schriftsteller Marco Balzano über Corona und seinen neuen Roman "Ich bleibe hier".

Besprochen werden unter anderem Khaled Khalifas "Keine Messer in den Küchen dieser Stadt" (NZZ), George Takeis autobiografischer Comic "They Called Us Enemy" (Freitag), Rolando Villazóns "Amadeus auf dem Fahrrad" (Presse), Ana Schnabls Kurzgeschichten "Grün wie ich dich liebe grün" (Freitag), Pénélope Bagieus Comicadaption von Roald Dahls "Hexen hexen" (Tagesspiegel), Nuruddin Farahs "Im Norden der Dämmerung" (SZ) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Artschil Sulakauris georgischer Kinderbuchklassiker "Salamuras Abenteuer" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Ralph Dutli über Wladislaw Chodassewitschs "Gold":

"Gold in den Mund, den Honig und den Mohn
In deine Hände - letzter Erdenmühe Lohn.
..."
Archiv: Literatur

Bühne

Foto: Alex Yocu

"Visuell spektakulär" nennt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung das Cybertheater, welches das deutsche Theater für sein dreitägiges Festival Radar Ost hat errichten lassen: An den wie in einer Graphic Novel gezeichneten, "zerfließenden Wänden" der 360-Grad-Virtualarchitektur des Theaters vorbeibrowsend, entdeckt Meierhenrich etwa eine Inszenierung von Kirill Serebrennikow: "Serebrennikows radikal dunkle, gegenwartsatte Inszenierung von Iwan Gontscharows ironischem Bildungsroman 'Eine alltägliche Geschichte' bewies einmal mehr das Talent des Regisseurs, in alten Stoffen aktuelle Feuer zu entzünden. Denn sein naiver Weltverbesserer Sascha Adujew kommt hier wie ein Fridays-for-Future-Aktivist in das raubtierkapitalistische Moskau seines Onkels Pjetr. Langsam lernt er, die menschlichen Gefühle gegen den Zynismus des Geschäfts einzutauschen. Wie auch Timofej Kuljabins wunderbar vitale Aktualisierung des Puschkin-Klassikers 'Onegin' aus Nowosibirsk stützt sich Serebrennikow auf starke Schauspieler, die mit wenig szenischem Aufwand, aber viel körperlicher Energie und choreografischer Dichte schlanke, bildstarke Dreistünder hinlegen."

Nicht ganz so hingerissen von der digitalen Version, aber doch nachhaltig beeindruckt von den verschiedenen Produktionen aus osteuropäischen Ländern, zeigt sich Nachtkritiker Martin Pesl: Die "Beiträge aus Russland, Polen und der Ukraine zeigen die Widerstände, mit denen sich Theatermacher*innen in Osteuropa auseinandersetzen müssen. Zusammen mit verzweifelten Videos über den Abriss des Albanischen Nationaltheaters vor einem Monat und über die Gängelung der Kunstakademie in Budapest durch die Orbán-Regierung entsteht ein Gesamteindruck des 'Hey, ihr im Westen habt es schon viel bequemer als wir.'"

Einer "kreativen" Corona-Lösung wohnt auch Joachim Lange in der taz in Johannes Wulff-Woestens Inszenierung von Verdis "Don Carlo" mit Anna Netrebko in der Dresdner Semperoper bei. Mit "acht Musikern, einer Handvoll Sängern und einer Abordnung des Chores" erlebt er zwar nur eine "Ahnung" der Oper, aber: "Es funktioniert, weil man Spitzenkönner der Sächsischen Staatskapelle mit jeweils einer Flöte, Oboe und Violine sowie an einem Violoncello, Kontrabass und Harmonium zur Verfügung hat. Und einen Mann am Klavier wie Johannes Wulff-Woesten, der als Komponist den Mut hatte, den Verdi-Blockbuster auf anderthalb Stunden einzudampfen und obendrein das Geschick, diese Minibesetzung auf der Bühne vom Klavier aus zu leiten." Die "musikalische Wucht" der Netrebko lässt auch Michael Ernst in der FAZ über manch "herbe Einschränkung" hinwegsehen.

Weiteres: In der Berliner Zeitung schreibt Ulrich Seidler einen persönlichen Nachruf auf den Schauspieler Jürgen Holtz, der am Sonntag im Alter von 87 Jahren verstorben ist.

Besprochen werden Florian Sandmeyers Inszenierung von Ingrid Lausunds "Weg zum Glück" (FR), die Gob-Squad-Inszenierung "Show Me A Good Time" am Berliner Hebbel am Ufer (nachtkritik), Christoph Roos' Inszenierung von Urs Widmers "Top Dogs" und Ragna Guderians Medea-Inszenierung, beide am Landestheater Thüringen (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Kunst

Die Kunstwelt mag in der Krise stecken, die Kunst selbst nicht, versichert in der FAS Niklas Maak, der weniger populäre Berliner Kunststandorte aufgesucht hat, um sich etwa im Haus am Lützowplatz in der Ausstellung "It was a Dream" Verena Issels "Plastik-Palmyra" anzusehen: "Als der IS die Ruinen von Palmyra zerstörte, sammelte Issel bei syrischen Matratzenhändlern Reste von Schaumstoffmatratzen ein und formte daraus ihre eigene Ruinenlandschaft, Tempel aus Kunststoff, deren Poesie auch darin liegt, dass das Material, anders als Marmor, schon im Laufe einer Ausstellung zerbröselt und Ruine wird, eine sich selbst kompostierende Antike aus Schaum. Was auch ein ironischer Gruß an das Hochkunst-Motiv der Schaumgeburt in der Renaissance ist. (…) Das Plastik-Palmyra kann man auch als Kritik an Versuchen lesen, dort nach der Sprengung symbolisch schnell wieder irgendetwas aufzubauen, ohne zu fragen, was genau man eigentlich retten will - und natürlich spielen Issels bunte Schaumstoffsäulen auch auf die 'farbige Antike' an, deren Statuen und Tempel optisch das Gegenteil der asketisch weißen, blutleeren Gipsantike des klassischen Bürgertums waren.""

Für den Kunsthandel stellt der Standort Deutschland dank politischer Entscheidungen einen "Wettbewerbsnachteil" dar, schreibt der Galerist Johann König wütend in der Welt: 19 Prozent Mehrwertsteuersatz, 5 Prozent pro Verkauf an die Künstlersozialkasse - und auch der Weiterverkauf auf dem Sekundärmarkt bringt kaum noch Gewinne: "Schön wär's, denn wenn ein Sammler mir eine Arbeit zum Weiterverkauf einliefert und mir eine übliche Zehn-Prozent-Beteiligung verspricht, dann gehen durch das in Deutschland in Kraft getretene 'Folgerecht' gleich noch einmal vier Prozent vom Gesamtumsatz allein zu meinen Lasten an die VG Bildkunst - in den USA und in der Schweiz gibt es so etwas gar nicht, in der EU ist es uneinheitlich geregelt. Es scheint, als wolle jeder ein Stück vom Kuchen haben, den der Galerist mit seinen Anstrengungen erst ermöglicht. Für jede Ausstellung, die ich mache, für jeden Katalog, jede Publikation etc., die VG Bildkunst wacht mit Adleraugen über alles und verpasst keine Möglichkeit, etwas in Rechnung zu stellen - es ist zum Wahnsinnigwerden." "Der Markt wird überleben; aber was ist mit den Künstlern?", fragt indes Laura Cumming im Guardian.

Weiteres: Sehr zufrieden resümiert Detlev Kuhlbrodt in der taz die digitale Version des Berliner Kunstfestivals "48 Stunden Neukölln". Besprochen werden die Frank-Walter-Ausstellung im Frankfurter Museum für Moderne Kunst (FAZ) und die Ausstellung "Talent kennt kein Geschlecht. Malerinnen und Maler der Romantik auf Augenhöhe" im Museum Georg Schäfer in Schweinfurt. (Welt)
Archiv: Kunst

Film

Woody Allen gibt sich im Welt-Interview über seine kürzlich veröffentlichte Autobiografie sehr gelassen, was die Anwürfe gegen seine Person betrifft: "Ich habe einfach weitergearbeitet, als all das passierte. Die anderen haben sich viel mehr dafür interessiert als ich mich selbst. ... Praktisch hat das keinerlei Folgen für mich. Der Verlag lehnte das Buch ab, doch 14 Minuten später hatte ich schon einen anderen, der bereit war, es zu veröffentlichen. Amazon hat sich zwar von mir abgewandt, doch kurz darauf konnte ich einen weiteren Film drehen."

Die letzten Wochen haben auch den Blick auf Polizeiserien als Evergreen der TV-Geschichte geändert, schreibt Barbara Schweizerhof im Freitag. Aufgefallen ist ihr dabei auch, "dass der Krimiserie ein struktureller Nachteil eignet: Die Polizeimenschen bilden das feste Ensemble, ihre Gegenüber, die Opfer, Täter und Verdächtigen, haben immer nur Gastrollen. 'The Wire' ist bis heute eine Sternstunde der Seriengeschichte, weil David Simon und seine Autoren dieses feste Format immer wieder aufbrachen, indem neben den verschiedenen Polizei-'Helden' auch die Blickwinkel und Motive sowohl der Drogendealer als auch der Stadtpolitiker und sogar der Schul- und Straßenkinder beleuchtet wurden."

Weiteres: Im Standard spricht Bert Rebhandl mit Nina Hoss. Gina Thomas schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Schauspieler Ian Holm. Besprochen werden Hüseyin Tabaks Boxerinnenfilm "Gipsy Queen" (Jungle World) und zwei Frühwerke von "Parasite"-Regisseur Bong Joon-ho (SZ).
Archiv: Film

Architektur

Bild: Raimund Abraham. Universal House, 1967. Print, koloriert. Privatsammlung. MAK/Georg Mayer

Bauen war ohnehin nicht die Sache des Architekten Raimund Abraham, vielmehr drückte er seine "Sehnsucht nach dem Raum" in Skizzen und Collagen aus, weiß Wojciech Czaja, der sich für den Standard die Ausstellung "Angles und Angles" im Wiener Museum für angewandte Kunst angesehen hat: "Während Abrahams spätes Werk vor allem eine Huldigung an Metrik, Materialität und Maschinenästhetik ist, die 2001 im 85 Meter hohen Austrian Cultural Forum in New York gipfelte, wirken seine frühen Skizzen, die den Schwerpunkt der Mak-Ausstellung bilden, wie die utopischen Träume von Hans Hollein, Archigram und Coop Himmelb(l)au. Da werden Bälle in der Landschaft platziert, da werden städtische Infrastrukturen in einer schlauchartig um sich greifenden Megabridge gebündelt, da werden die Funktionen des Bauens und Wohnens prototypisch auf ein einziges, kugelrundes Universal House reduziert."
Archiv: Architektur

Musik

1124 Menschen könnten in der Tonhalle Maag Platz nehmen, beim Wiederauftakt des Spielbetriebs des Orchesters unter Paavo Järvi durften immerhin 240 dort im Platz nehmen, berichtet Christian Wildhagen in der NZZ. Das Orchester spielte mit deutlich weniger Musikern als sonst auf der Bühne, kam aber "sowohl mit der Platzierung an isolierten Einzelpulten wie mit den Sicherheitsabständen zwischen allen Spielern und Gruppen erfreulich gut zurecht. Nicht zum ersten Mal erweist sich obendrein die Akustik der Tonhalle Maag als geradezu prädestiniert für solch einen feinsinnig-kammermusikalischen Rahmen - eine Qualität, die man bei den 2021 anstehenden Entscheidungen über die Zukunft dieses gelungenen Interims nicht außer acht lassen sollte."

Besprochen werden John Scofields neues Album "Swallow Tales" (FR), Lady Gagas neues Album "Chromatica" (taz), ein Open-Air-Konzert des Konzerthausorchesters (Tagesspiegel), ein Konzert der Wiener Philharmoniker unter Franz Welser-Möst (Standard) und ein Auftritt von Alicia Keyes und John Legend bei Verzuz-TV (SZ).
Archiv: Musik