Efeu - Die Kulturrundschau

Ein bisschen Glimmer

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29.06.2020. Die FAZ drängt sich in München mit Sheela Gowda und indischen Straßenarbeitern in alte Ölfässer. Im Blog Tag und Nacht erinnert sich Marlene Streeruwitz zum Siebzigsten, wie sie einst gegen die Feuilleton-Päpste ums Überleben kämpfte. Die Filmkritiker diskutieren über Film- und Kinoförderung: Artechock fordert, träge Programmkinos zu bestrafen. In der Welt erzählen die Intendantinnen des Theaters am Neumarkt, wie sie das Weiße Haus besetzten. Die FR träumt mit Jan Kehl von autofreien Innenstädten mit kurzen Wegen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.06.2020 finden Sie hier

Kunst

Bild: Sheela Gowda, Darkroom, 2006, Ausstellungsansicht Lenbachhaus, 2020, Foto: Lenbachhaus, Simone Gänsheimer © Sheela Gowda

"Feinfühlig" nennt Brita Sachs in der FAZ die Arbeiten der indischen Künstlerin Sheela Gowda im Kunstbau des Münchner Lenbachhauses, die sich immer wieder mit den Umbrüchen in der indischen Gesellschaft auseinandersetzt. Etwa in der Arbeit "What yet remains", in der sie "aufgeschnittene, plattgewalzte Metallfässer mit kreisrunden Löchern" arrangiert hat: "Dahinter aber steht die Geschichte von aussterbendem Handwerk und dem Verschwinden kleiner Betriebe. Gowda lebt in Bengaluru, dem 'Silicon Valley Indiens'. Sie erlebte, wie sich diese Stadt in einem unglaublichen Bauboom ausdehnte. Die Arbeitsbedingungen, auf dem Subkontinent ohnehin ein Kapitel für sich, schneidet sie mit einer stattlichen Architektur aus Ölfässern an, die ein winziges Kämmerchen umschließt. Obwohl man kaum aufrecht darin sitzen kann, leben in solch kümmerlichen Behausungen indische Straßenarbeiter, die sie sich und ihrer spärlichen Habe aus glatt gewalzten Teerfassblechen neben den Baustellen errichten. Das Innere verschönte Gowda mit ein bisschen Glimmer, Hommage an Kinder, die in den Gruben ihr Leben für das Funkelzeug riskieren, das Autolacke und Lippenstifte zum Glitzern bringt."

© Dodi Reifenberg

"Bestürzt" kehrt Hans-Jörg Rother aus der Ausstellung "Überleben im Müll" im Berliner Willy Brandt Haus zurück, die ihm von der Herstellung und vom Leben im Abfall erzählt. Etwa die Collagen des israelischen Künstlers Dodi Reifenberg: "Um auf den Wahnsinn der offenbar unregulierbaren Plastikproduktion aufmerksam zu machen, benutzt Reifenberg, nur auf den ersten Blick widersinnig, Hunderte Einkaufstüten (oder Ähnliches) als Material für reliefartige Wandbilder archaischen Inhalts. Da rudert ein Bursche tief gebeugt mit seinem Boot wie in Charons Nachen durch das Plastikmeer, auf dem ein anderer aber wie Jesus auf dem See wandelt. Eine ganze Wand füllen die fast alle übergroßen Bilder, deren Farben so verführerisch falsch leuchten wie es eben die Werbung täglich tut."

In der taz rät Tilman Baumgärtel gleich zu mehrfachem Besuch der "leisen" Ausstellung von Lee Mingwei im Berliner Gropius Bau, die coronabedingt nur reduziert stattfinden kann - das "Sleeping Project", bei dem zufällig ausgewählte Besucher eine Nacht in einem Bett verbringen sollten, kann beispielsweise nicht umgesetzt werden. Baumgärtel erkennt hier unsere bereits veränderte Kommunikation: "Auch das 'Dinner Project' (seit 1997) konnte nicht in der geplanten Form stattfinden. Eigentlich werden auch hier Besucher ausgelost, die mit Lee Mingwei Tee trinken und Gebäck essen, dessen Rezepte sie vorher miteinander ausgetauscht haben. Dieses Treffen wurde, wie es in der Ausstellung heißt, 'in den virtuellen Raum' verlegt; traurigerweise sitzen sich die Gesprächspartner nun beim Teetrinken per Zoom gegenüber."

Weiteres: Der Bund verhandelt über einen Rückkauf des Hamburger Bahnhofs, meldet der Tagesspiegel mit dpa. Besprochen wird das Ende des Projektes "Naked Berlin" des Künstlerduos Mischa Badasyan und Abdulsalam Ajaj auf dem Tempelhofer Feld (taz) und die Ausstellung "Der andere Großmogul. Das Kunstgewerbemuseum zu Gast im Grünen Gewölbe" im Dresdner Residenzschloss (FAZ).
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Literatur

Gerrit Bartels (Tagesspiegel) gratuliert Marlene Streeruwitz zum 70. Geburtstag, den die Schriftstellerin gestern feiern konnte. Dazu hat das Blog Nacht und Tag ein großes Gespräch mit ihr geführt. Unter anderem geht es um ihr nach einigen Theaterstücken und Hörspielen 1996 veröffentlichtes Romandebüt "Verführungen", das unter den damals herrschenden Feuilleton-Bedingungen und nicht zuletzt im Literarischen Quartett mit erheblichem Widerstand kämpfen musste: "Diese Päpste, die damals noch die Feuilleton-Herrscher waren, haben ja zugewiesen, was hohe Literatur ist. Und das Literarische Quartett war dann der böse Abschluss mit der Aussage: Es ist keine hohe Literatur. Das war ein Überlebenskampf, ob ich als Autorin danach überhaupt noch einen Atemzug tue. Damals, in diesen anderen Machtverhältnissen des Feuilletons, des patriarchalen Feuilletons, war das ein Krieg. Auf einem kleinen und unbedeutenden Feld, aber es war ein Krieg. Das kann ich heute so sehen. Damals war es erlitten. Ich stand plötzlich vor dem Nichts. Zumal das Theater sich neoliberal gedreht hatte und keine Texte dagegen mehr wollte, wie das überkommene Theater und das Neoliberale ineinander fielen."

Die Schriftstellerin Angelika Overath fragt sich in der FAZ nach der Schilderung vieler nostalgisch gülden schimmernder Kindheitserinnerungen, ob "wir ohne das Wort 'Mohr', ohne das Wort 'Neger', ohne das Wort 'Weib' über Diskriminierung und Schönheit und Identität sprechen können. Wörter changieren mit ihren Kontexten. In Wörtern steckt Geschichte, stecken Geschichten. Wörter haben spezifische Widerstände, an denen wir steigen wie ein Drache gegen den Wind."

Außerdem: Für die Berliner Zeitung liest Arno Widmann Jürgen Habermas' in der Suhrkamp-Anthologie "Warum lesen" veröffentlichten Essay "Warum nicht lesen?", in den man auf GoogleBooks reinlesen kann. In der FAZ erinnert Johannes Schütz an die vor zehn Jahren verstorbene Schriftstellerin Brigitte Schwaiger. Willi Winkler schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Feuilletonisten Dieter E. Zimmer. Zudem veröffentlicht der Tagesspiegel seine Comicbestenliste - auf der Spitzenposition: Emilie Gleasons "Trubel mit Ted".

Besprochen werden unter anderem Zora Neale Hurstons "Barracoon" (Berliner Zeitung), Thomas Wolfes "Eine Deutschlandreise. Literarische Zeitbilder 1926-1936" (ZeitOnline), Eshkol Nevos "Die Wahrheit ist" (Freitag), neue Bücher von Hans Magnus Enzensberger (Standard), die Neuauflage von Eileen Changs Novelle "Die Klassenkameradinnen" (Tagesspiegel), Ludwig Fels' "Mondbeben" (Standard) und Marion Poschmanns Gedichtband "Nimbus" (SZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Christian Gampert über Günter Kunerts "Der Reisende blickt zurück":

"verwundert über die zurückgelegte
Strecke, die ungezählten Meilen,
..."
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Film

Ab 1. Juli dürfen auch die letzten noch verschlossenen Kinos unter Corona-Maßnahmen den Betrieb aufnehmen. Zeit für eine Sondierung der Lage. Claus Löser plädiert in der Berliner Zeitung dafür, Kinos ähnlich wie Museen und Theater zu würdigen und zu fördern. Wenke Husmann plädiert auf ZeitOnline dafür, dass die Filmförderung weiterhin das Auswertungsfenster schützt, das zugunsten der Kinobetreiber einen zeitlichen Abstand zwischen Kino- und Heimmedien-Start garantiert.

Rüdiger Suchsland, vom französischen Management der Kino- und Verleiherkrise immens beeindruckt, fordert auf Artechock hingegen klare Konsequenzen, nämlich "den Mittelweg einer Dauerverwaltung der Dauerkrise des Kinos zu verlassen, und sich nicht am langsam sterbenden Bestehenden festzuklammern. Es geht nicht um Streamen ja/nein oder um Digital ja/nein, sondern um das Wie von beidem, um dessen Rahmenbedingungen und vor allem um Finanzierung. Die Trägheit vieler Programmkinos verdient keine Förderung, sie schadet der Kinokultur so wie ideenlose Verleiharbeit, und auch zum Erhalt von Cineplexen ist der Hinweis auf viele Arbeitsplätze nicht genug. Die Streamingdienste zahlen jetzt auch in die Filmförderung ein. Sie sind keine Außenseiter mehr, sie sind Teil des Systems. Man kann sie nicht länger ignorieren." Auch Suchslands Artechock-Kollegin Dunja Bialas schlussfolgert nach einer Debattenrundschau: "Ein Bärendienst für die Kultur wäre, wenn ein Grabenkampf zwischen den Verfechtern des 'Neuen' und des 'Alten' entstünde."

Weitere Artikel: Auf 54books würdigt Marcel Inhoff die HBO-Serie "Watchmen", die Alan Moores gleichnamigen Comicklassiker würdig fortsetzt und sich mit seiner Thematik rund um Rassismus und Polizei als Serie der Stunde zu den BlackLivesMatter-Protesten empfiehlt. Ralf Schenk erinnert in der Berliner Zeitung daran, wie die DEFA seinerzeit Klaus Manns "Mephisto" doch nicht verfilmte.

Besprochen werden die deutsche Netflix-Serie "Dark" (FAZ), die auf Starzplay gezeigte Serie "The Great" mit Elle Fanning (Freitag) und neue Heimmedienveröffentlichungen, darunter Don Siegels "Die schwarze Windmühle" mit Michael Caine (SZ).
Archiv: Film

Bühne

Im großen Welt-Gespräch mit Jan Küveler erzählen Julia Reichert, Tine Milz und Hayat Erdogan, Intendantinnen des Zürchers Theaters am Neumarkt, wie sie während der Coronakrise ein egalitäres Gagensystem für alle Sparten einführten und die linke Tradition des Hauses fortsetzen: "Wo sind die Orte der Macht? Wo gibt es gesellschaftlich problematische Strukturen? Wo gibt es Rassismus? (...) Zuletzt haben wir vor ein paar Tagen das Weiße Haus besetzt, im Rahmen einesFilms, der die kommende Spielzeit präsentiert. Dieser Film ist nicht nur eine Vorschau auf das, was in der kommenden Spielzeit geplant ist, sondern auch eine Rückschau und Reflexion der vergangenen Monate, während des Lockdown, als sich die Dinge in ihrer ganzen, teilweise widerlichen Pracht gezeigt haben. Als symbolischen Ort der Macht haben wir das Weiße Haus identifiziert, auch wenn da nur viel Scheiße rausgeht. Diesen Ort haben wir gehackt, in ein 3DModell übersetzt, neu ausgestattet und auch die Bilder getauscht, die dort hängen. Das heißt, man sieht da jetzt neue Heldinnen von Leila Chaled bis Marsha P. Johnson und George Floyd."

Bereits am Dienstag brachte der Tagesspiegel Auszüge aus der Verteidigungsrede, die Kirill Serebrennikow letzten Montag vor dem Moskauer Gericht hielt. (Unser Resümee) Die taz druckt heute die Rede in gekürzter, übersetzter Fassung: "Eines Tages wird alles klar werden, die Archive des Geheimdienstes werden geöffnet werden, und wir werden verstehen, wer die Befehle gegeben hat, wer diesen Fall erfunden hat, wer ihn inszeniert und wer uns verraten hat."

Weiteres: Im Standard verabschiedet Ljubisa Tosic den Direktor der Wiener Staatsoper Dominique Meyer. Im Guardian fordert Giles Watling, Schauspieler und Abgeordneter der Konservativen in Großbritannien staatliche Unterstützung für britische Theater. In der FAZ blickt Stephan Mösch auf den Patrice Chereaus "Jahrhundert-Ring" von 1976 bei den Bayreuther Festspielen zurück.

Besprochen werden Nicolas Stemanns Musical "Corona-Passionsspiel" am Zürcher Schauspielhaus (NZZ), das "GAIA-Projekt - eine Cyborg-Oper" von kainkollektiv bei den Ruhrfestspielen Recklingshausen (nachtkritik) und Antje Schupps und Gregor Brändlis Stück "Revue 2020 - Zurück ist die Zukunft" am Opernhaus Zürich (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Architektur

Wie "lebenswerter, nachhaltiger und gesünderer" Städtebau funktioniert, lernt Robert Kaltenbrunner in der FR bei dem dänischen Architekten Jan Gehl, der mit seinem Büro "Gehl Architects" "unauffällige", aber "wirkunsgvolle" Konzepte für Innenstädte entwickelt. Gehl setzt "auf die Verknüpfung von eher kurzen Wegen, die die unterschiedlichen Orte des Lebensalltags - Wohnung, Arbeitsplatz, Geschäfte, Schule, Kneipe, Sportstudio, Kino - zusammenführt. Denn diese feinmaschige, lebenspraktische Funktionalität ist essentiell für die lebenswerte Stadt. Bereits vor mehr als einem halben Jahrhundert hat er den Hebel an diesem neuralgischen Punkt angesetzt - und war damit seiner Zeit weit voraus. Der Umbau Kopenhagens begann im November 1962, als die erste Straße der Innenstadt für den Autoverkehr gesperrt wurde."

In der Berliner Zeitung beschwört Nikolaus Bernau den Glamour der alten Warenhäuser, wie ihn einst das Wertheim-Kaufhaus an der Leipziger Straße versprühte: "Alfred Messel plante den Bau mit seinen gotisch anmutenden Pfeilerfassaden, grandiosen Lichthöfen und dem immensen Materialluxus. Berlins neue Einkaufs-Kathedrale war sofort eine europäische Sensation, ein Konsumtempel, wie ihn Deutschland bis dahin gar nicht kannte, der in Europa allenfalls in London und Paris seinesgleichen hatte, in den USA in New York, Boston und Chicago. (…) Kaiser Wilhelm II. ließ hier eine Sonderverkaufsstätte seiner Majolika-Fabrik Cadinen einrichten, der Teppichsaal lockte die Sammler aus ganz Europa an und im Café traf sich die Frau von Welt. Gleichzeitig, das war der Clou an diesen Häusern generell und am Wertheim speziell, konnte man hier auch ziemlich billig Spitzenbordüren, einen Kochtopf oder Unterwäsche erwerben."
Archiv: Architektur

Design

Der Grafikdesigner Milton Glaser, der einst das "I ♥ NY"-Logo gestaltet hatte, ist gestorben. Dieser Entwurf "avancierte in seiner grafischen Schlichtheit zu dem unerreicht erfolgreichen Vorbild für das visuelle Stadtmarketing", schreibt Christian Schlüter in der Berliner Zeitung. Glaser, schreibt Gerhard Matzig in der SZ, verstand seine Kunst als Handwerk, war aber gerade darin ein großer Künstler: Sein berühmtestes Logo stelle daher "in Wahrheit nichts Einfaches und Simples, sondern etwas Komplexes und Weites dar. Das ist ja das Geniale daran. Das Logo ist quintessenzieller Natur: Man kann nichts, gar nichts hinzufügen und nichts, gar nichts weglassen - ohne es zu übertreiben oder zu banalisieren. Es ist eine Chiffre in Vollendung. Plakativ vereinfacht, auf den Punkt gebracht, und doch in ein ganzes Universum an Mehrdeutigkeit, Nebenwegen und Ahnungen ausgreifend." Das Glaser weit mehr als dieses Logo zu bieten hat, kann man im übrigen seinem reich gefüllten Instagram-Account entnehmen.
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Musik

Im Tagesspiegel spricht Intendantin Andrea Zietzschmann über die Lage der Berliner Philharmoniker. Sie hofft, dass es ab August mit einem regulären Programm weitergehen kann - und dies "mit möglichst viel Publikum. Das würde aber bedeuten, dass die gegenwärtigen Abstandsregeln fallen müssten. In Österreich spielen die Orchester mit einem Mindestabstand von nur einem Meter. Die Wiener Philharmoniker spielen ohne Abstand mit Coronatests für das ganze Orchester. ... Wir können nicht verstehen, dass Tourismus oder Gastronomie ganz anders behandelt werden als Musikveranstalter. Dass Konzerthäuser gefährlicher sein sollen als Gaststätten, leuchtet mir nicht ein."

Besprochen werden Igor Levits Beethovenkonzert beim Klavier-Festival Ruhr (Freitag), das neue Album von Phoebe Bridgers (Standard), ein Abend mit der Mezzosopranistin Gaëlle Arquez und der Pianistin Susan Manoff (FR), eine große CD-Box zur Geschichte der Berliner Staatskapelle (FAZ), Emma Triccas zwar schon 2018 erschienenes, jetzt aber auch via Bandcamp vertriebenes Singer-Songwriter-Album "St. Peter", das tazler Robert Miessner nur allerwärmstens empfehlen kann, und Jessie Wares neues Album "What's Your Pleasure?" (Pitchfork). Wir hören rein:

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