Efeu - Die Kulturrundschau

Aus Dampf geboren

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08.07.2020. Elke Erb ist neue Büchner-Preisträgerin. Wurde aber auch Zeit, freuen sich die Kritiker. Jetzt soll sogar Lin-Manuel Mirandas Musical "Hamilton" gecancelt werden, berichten The Nation und die Daily Mail: Weil Hamilton die Sklavenhalterfamilie seiner Frau unterstützte und Miranda das verschweigt. Den deutschen Museen geht's auch in der Krise ganz gut, meldet die SZ. Nur für die armen freien Mitarbeiter bräuchte man etwas mehr Geld. Die taz wünschte sich, Pedro Almodovar hätte Netflix-Parodie "Eurovision Song Contest" verfilmt. In der FAZ sucht Dirigent René Jacobs die wahre Männlichkeit Beethovens.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.07.2020 finden Sie hier

Literatur

"Die Geheimfavoritin hat gewonnen", jubelt Christoph Schröder im Tagesspiegel: Der Georg-Büchner-Preis geht in diesem Jahr an die Lyrikerin Elke Erb - und zwar unter allfälligem "stürmischem Nicken" des Literaturbetriebs, schreibt der Schriftsteller Jan Kuhlbrodt im Freitag.

"Es öffnet sich derzeit etwas im Literaturbetrieb", kommentiert Dirk Knipphals in der taz die Entscheidung: erst der Leipziger Buchpreis für Lutz Seiler, die Eröffnungsrede von Sharon Dodua Otoo beim Bachmann-Wettbewerb, daselbst die Wiederentdeckung von Helga Schubert und jetzt diese Ehrung für Erb. Es zeige sich die "inzwischen offenbar vorhandene Sensibilität dafür, dass viele unterschiedliche Schreibweisen nötig sind, um eine interessante Literatur zu haben. Die Zeiten, in denen man literarischen Eigensinn und Massentauglichkeit, experimentelle Schreibweise und Themenvermittlung gegeneinander ausspielen kann, sind vorbei." Auch FAZler Jan Wiele ist dieser "interessante Dreiklang" im Hinblick auf ostdeutsche Literatur aufgefallen: Wohl nicht zufällig werde hier "auch symbolisch gezeigt, dass Schriftsteller mit ostdeutscher Biografie zum Mainstream einer gesamtdeutschen Literatur gehören."

Ins "Labyrinth ihrer Texte" begibt sich NZZ-Kritiker Paul Jandl nur zu gern: Erb schreibe an "gegen die Rationalität des Offenkundigen und gegen das, was auf sehr deutsche Weise für die Kardinaltugend der Lyrik gehalten wird: die Form. Erbs Gedichte erfüllen keine Normen der Form, sondern sie flirren und flackern. Es macht ihnen nichts, aus Dampf geboren zu sein. Wenn es sein muss, dann ist ihr Verdienst das Verdunsten." Die Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung habe sich mit dieser Auszeichnung für eine 82-jährige Lyrikerin "mutig verjüngt", meint Tobias Lehmkuhl in der SZ und löst das nur scheinbare Paradox rasch auf: Zu Erbs glühendsten Verehrerinnen zähle vor allem die junge Generation. Kein Wunder, denn ihre Gedichte "zeigen, welche Abzweigungen es gibt, welche Verästlungen entstehen können, wie sich Mensch und Welt zuweilen kubistisch ineinanderschieben. ... So abstrakt und konkret, so simpel und komplex zugleich hat in den letzten sechzig Jahren kein anderer Dichter geschrieben." Anschauungsmaterial gefällig? Der Merkur hat einige von Erbs Gedichten frei zugänglich gemacht.

Aber Moment mal - verjüngt? Bei der Schriftstellerin Nora Bossong - Teil der jüngeren Generation und sehr, sehr glücklich über diese Entscheidung, die sich sich vorab gewünscht hat - klingt es in der taz etwas anders: Diese Würdigung ist eine hervorragende Reaktion "auf einen Literaturbetrieb, der in den letzten Jahren allzu oft aus Angst vor dem eigenen Bedeutungsverlust dem ganz Jungen und möglichst Leichtgängigen panisch hinterhergehetzt ist, ohne zu merken, dass damit dem Bedeutungsverlust eher Vorschub geleistet wurde. Mit ihr wird auch die Lyrik selbst ausgezeichnet, eine bestimmte Art des sprachlichen Denkens, die immer auch ein Versuch der Welterkenntnis ist." Sehr gerne und wie stets in so einem Zusammenhang weisen wir darauf hin, dass der Perlentaucher seit geraumer Zeit eine mittlerweile reich gefüllte Lyrikkolumne von Marie Luise Knott führt.

Weitere Artikel: In der Belegschaft des Literaturarchivs in Marbach herrscht unter der noch relativ neuen Chefin Sandra Richter offenbar mächtig schlechte Stimmung, berichtet Rüdiger Soldt in der FAZ unter Berufung auf die Südwest-Presse. Christina Pausackl porträtiert für die Zeit die Schriftstellerin Monika Helfer, die lange auf ihren ersten Bestseller warten musste.

Besprochen werden unter anderem Natascha Gangls "Das Spiel von der Einverleibung. Frei nach Unica Zürn" (Standard), James Noëls "Was für ein Wunder" (taz), Uli Oesterles autobiografisch inspirierter Comic "Vatermilch" (Tagesspiegel), Richard Russos "Jenseits der Erwartungen" (SZ) und die Werkausgabe "Victor Otto Stomps als Schriftsteller" (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Über die Jahre war Lin-Manuel Mirandas Musical "Hamilton" am Broadway nicht nur extrem erfolgreich, es galt auch als Vorzeigestück für innovatives diverses Storytelling: mit schwarzen Schauspielern, die die Gründerväter darstellen, HipHop, R&B und Soulmusik und einer Hauptfigur, die als Einwanderer von einer karibischen Insel kommt. Doch jetzt soll "Hamilton" gecancelt werden, denn der amerikanische Gründervater unterstützte die Familie seiner Freu, die Sklaven hielt. Der amerikanische Autor Ishmael Reed hat dazu das Stück geschrieben "The Haunting of Lin-Manuel Miranda", berichtet Nawal Arjini in The Nation. "Wie eine schonungslos fröhliche Dampfwalze versprach 'Hamilton', die vertraute Schulbuchgeschichte zu beleben, indem es Gesang, Tanz, leichte sexuelle Intrigen und - vor allem - Farbe in das Leben seines Gegenübers brachte. 'The Haunting of Lin-Manuel Miranda' dagegen nimmt das Stück, seinen Schöpfer, die Biografie, aus der es stammt, und den Gründervater selbst in die Pflicht; am Ende von Reeds Stück sollen wir glauben, dass die Geister Miranda von dem Irrtum seines Projekts überzeugt haben." Daneben ging der übliche Twitter-Sturm los, der die Annullierung des Musicals forderte. Miranda versuchte seine Kritiker zu besänftigen und tweetete laut Daily Mail: "All the criticisms are valid. The sheer tonnage of complexities & failings of these people I couldn't get. Or wrestled with but cut. I took 6 years and fit as much as I could in a 2.5 hour musical. Did my best. It's all fair game".

Weitere Artikel: In der taz berichtet Jens Fischer vom Festival Theaterformen in Braunschweig. Anlässlich des 50. Geburtstags von "Zbigniew Stok's Kammertheater" erinnert in der NZZ Daniele Muscionico an den KZ-Überlebenden und Zürcher Theatermacher. Ebenfalls in der NZZ schreibt Martina Wohlthat zum Achtzigsten des Schweizer Choreografen Heinz Spoerli. Die nachtkritik streamt ab morgen 18 Uhr Christoph Rüters Dokumentarfilm aus dem Jahr 1991 über Heiner Müllers Arbeit an der Inszenierung "Hamlet | Maschine", die im März 1990 mit Ulrich Mühe in der Titelrolle im Deutschen Theater Berlin herauskam.

Besprochen werden Christina Geißes Monolog "Branka" im Schauspiel Frankfurt (FR) sowie Alexander Wewerkas und Jonas Tinius' zweibändige Monografie "Der fremde Blick" über den Theatermacher Roberto Ciulli (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Kunst

Den deutschen Museen geht's nicht schlecht, berichtet Till Briegleb in der SZ. Obwohl mit der Coronakrise Eintrittsgelder wegfielen, Mieteinnahmen, Sponsorengelder und andere Drittmittel. Auch sind die Besucherzahlen immer noch sehr gering. Die Alarmglocken läutet aber trotzdem niemand: "Das hat auch damit zu tun, dass in den Museumsleitungen nicht das Gefühl umgeht, man werde vom Staat hängen gelassen. Die meisten habe deutliche Signale erhalten, dass Corona-Defizite kompensiert werden. Gerade im Vergleich mit den USA, wo die Kulturinstitutionen massenweise Mitarbeiter entlassen haben, weil sie nicht durch die Gesellschaft, sondern durch die Reichen finanziert werden, gibt die staatliche Kulturleistung in Deutschland Anlass zur Preisung." Leicht unbehaglich fühlt man sich dabei aber doch, angesichts der prekären Situation der freien Mitarbeiter. Bernhard Maaz, der Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, wünscht sich deshalb eine Aufstockung der Museumsetats aus den Etats der Behörden für Bildung und Fremdenverkehr.

In der Berliner Zeitung stellt Ingeborg Ruthe die Kunstsammlung von Christa Wolf und ihrem Mann, dem Verleger Gerhard Wolf vor, die ins ins Berliner Stadtmuseum zieht: Die Wolfs sammelten "seit den 1960er-Jahren Kunst: Malerei aus dem Osten. Es war, neben der Literatur, beider Passion. Über 200 Bilder, die nun als beredte Kollektion zu ihrem Nachlass, zu ihrem gemeinsamen Archiv gehören, erzählen auf ihre Weise vom deutschen Osten. Oftmals sind es Bildgeschichten und Illustrationen zu den Texten Christa Wolfs. Und nach 1990 kamen auch Werke von Malern aus dem Westen hinzu, etwa von Günter Grass und Günther Uecker, der ein enger Freund des Paares wurde."

Chaèdria LaBouvier war die erste schwarze Kuratorin, die je für das Guggenheim Museum in New York gearbeitet hat. Sie kuratierte im vergangenen Jahr die Ausstellung "Basquiat's Defacement: The Untold Story". Anfang Juni, berichtet Verena Harzer in der taz, "erklärte sie auf Twitter, die Arbeit am Guggenheim sei die 'rassistischste berufliche Erfahrung', die sie je gemacht habe. Unter anderem sei sie zum Podiumsgespräch zu ihrer Ausstellung nicht eingeladen worden. Und trotz ihres Erfolges sei ihre Arbeit von der Hausleitung, insbesondere von Chefkuratorin Nancy Spector, kaum anerkannt worden." Spector hat sich inzwischen in ein Sabbatical verabschiedet. Das Museum selbst hat einen Anwalt beauftragt, die Rassismusvorwürfe gegen die Museumsleitung zu untersuchen.

Besprochen wird eine Ausstellung von Tizians "Poesie"-Zyklus in der National Gallery in London (FAZ).
Archiv: Kunst

Architektur

In der SZ amüsiert sich Gerhard Matzig über Münchens teuerstes Haus, das an der Pienzenauer Straße bei der Isar gebaut werden soll: 1.168 Quadratmeter Wohnfläche für 38,3 Millionen Euro, das sind schlappe 32.791 Euro den Quadratmeter, rechnet der Redakteur, der dann doch nachdenklich wird. Der Bauherr will nämlich ein "schönes Haus" bauen. Aber was ist das, fragt sich Matzig. Bisschen klassizistische Architektur reicht jedenfalls nicht: "Die Persönlichkeiten, wodurch die neuen alten Villen auch zum Wohl des städtischen Lebens glaubhaft belebt werden könnten, sind allerdings rar. Zur Erinnerung: In die ebenfalls am Herzogpark gelegene, nur fassadenweise rekonstruierte Villa von Thomas Mann zog vor Jahren ein Finanzmensch. Wo Thomas Mann seine Bibliothek pflegte, pflegte der Finanzmensch eine Sammlung von Schuhen. Die riesige Villa, außen Nobelpreisträgerhabitat, innen Wellnesswohnen, blieb ohne Bezug zur Stadt. Das Haus strahlt nichts aus. Es ist eine leere Hülle mit geliehener Bedeutung. Wenn [Immobilienmakler] Oliver Herbst von Villen im Herzogpark erzählt, die von indischen Industriellen an russische Oligarchen weitergereicht werden, stiftet das wenig Zutrauen."

Pflegen einen umfassenden Designansatz, der Landschaft, Energie und Umwelt mit Design verbindet: Snøhettas Hotel in Svartisen, Norwegen. Foto © Snøhetta/Plompmozes


Besprochen wird eine Ausstellung mit Entwürfen des norwegischen Architekturbüros Snøhetta im Berliner Aedes Architekturforum (Tagesspiegel).
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Film

"Eurovision Song Contest" mit Will Ferrell. Kein Marvel-Film. Nein, wirklich nicht. (Netflix)


Gar nicht glücklich ist tazler und Eurovision-Song-Contest-Fan Jan Feddersen über die Netflix-Parodie "Eurovision Song Contest" mit Will Ferrell als durchgeknalltem isländischen Weirdo-Popstar: Eine an sich auf Camp getrimmte, immer schon aus queerer Perspektive anschlussfähige Veranstaltung werde hier schlussendlich doch auf straight gewendet: Ferrel sehe "nur Plateauschuhe, wirklich grelle Kostüme, entsetzlich fade, überheizte Performances - und siedelt die Kerngeschichte doch, ideologisch durchaus reaktionär, so an, dass am Ende nicht nur alle blamiert, halbbegabt und irgendwie delirierend wirken, vor allem die Konkurrent:innen bei diesem ausgedachten ESC. Es bleibt auch ein heterosexuelles Liebesglück der kleinen Welt back to Iceland übrig: Schuster:innen, bleibt bei euren Leisten! Man wüsste gern, wie Pedro Almodóvar die Geschichte angelegt hätte."

Besprochen wird außerdem Stepán Altrichters Verfilmung von Jaroslav Rudišs Roman "Nationalstraße" (Tagesspiegel)
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Musik

"Diese unglaubliche Kraft, diese Männlichkeit zogen mich schon immer an", gesteht Countertenor und Dirigent René Jacobs in der FAZ im Hinblick auf seine Leidenschaft für Beethoven, zu der er reichlich spät kam: "Nicht die Kraft und Virilität also haben mich an Beethoven abgeschreckt, sondern die falschen Vorstellungen über seine Oper 'Fidelio', die falschen Sängerbesetzungen, die falschen Orchesterinstrumente. Durch sie entsteht nämlich auch eine falsche Form von Gewalt und Aggressivität. Naturhörner, alte Posaunen und Naturtrompeten entfesseln eine andere Art von Aggressivität: Sie sind schärfer, aber nicht so laut."

Außerdem: Ulf Lippitz plaudert im Tagesspiegel mit Rufus Wainwright. Besprochen werden der Auftritt von Nicolas Altstaedt und Gidon Kremer beim Kammermusikfest in Lockenhaus (FAZ) und neue Popveröffentlichungen, darunter Sufjan Stevens' neuer Song "America" (SZ):

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