Efeu - Die Kulturrundschau

So zeichenentlastet

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.07.2020. Die NZZ bewundert die von vielerlei kulturellen Einflüssen geprägten Schatten des indonesischen Wayang. Die Welt freut sich an Skulpturen Priska von Martins, die ihr wie ein unwahrscheinlicher Irrläufer der modernen Kunst begegnen. In der FR durchforstet der Literaturwissenschaftler Jürgen Wertheimer die Klassiker von Homer bis Kleist nach Rassismus und wird fündig. In der New York Times verabschiedet sich John Zorn von Ennio Morricone, im Van Magazine Helmut Lachenmann.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.07.2020 finden Sie hier

Bühne

Schattenfiguren aus dem Wayang: Kriegerin Srikandi und Sumbrada, Schatten von Petruk (von links), © Eucharisteo Yosua


In der NZZ stellt uns Maria Becker das Wayang vor, das traditionelle Schattentheater Javas, dem das Zürcher Museum Rietberg gerade eine Ausstellung widmet. Wayang ist in Indonesien immer noch sehr beliebt, erfahren wir. Kulturelle Aneignung hielt es frisch! "Wie kann eine Tradition so lebendig bleiben? Es liegt nicht nur daran, dass das Schattenspiel zum religiösen Selbstverständnis gehört. Java hat eine insulare Kultur, in der sich mehrere Einflüsse verbinden und über die Jahrhunderte zu einem Amalgam geworden sind. So ist im Ahnenkult noch der Animismus der indigenen Religion wirksam. Die Erzählungen hingegen kommen aus Indien, aus dessen großen Epen Mahabharata und Ramayana fast alle Figuren des Wayang stammen. Doch die Stoffe haben sich gewandelt, die Helden und Orte tragen einheimische Namen, und das Elitäre der indischen Epen ist einem volksnahen Verständnis von weiser Lebensführung gewichen. Dabei darf man nicht vergessen, dass der Islam die herrschende Religion auf Java ist."

Weitere Artikel: Die nachtkritik streamt Tschechows "Möwe" in der Inszenierung von Yana Ross aus dem Stadttheater Reykjavik. Hier der gesamte Online-Spielplan. Dorion Weickmann zeichnet in der SZ die Krise der Berliner Ballettschule nach, kann aber auch nicht sagen, ob an den Vorwürfen gegen die inzwischen entlassene Leitung was dran ist: "inzwischen sind sowieso allseits Juristen am Zug". In der Zeit stellt Peter Kümmel die Berliner Theatertruppe "Familie Flöz" vor, deren Existenz in der Coronakrise bedroht ist.
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Film

In der Welt ulkt sich ein allerdings ziemlich zorniger Hanns-Georg Rodek eins auf die Diversitätsvorstellungen, mit denen die Filmförderung Schleswig-Holstein künftig auf Förderanträge blicken will. Dass das deutsche Kino auf vielen Ebenen dringend neue Impulse braucht, will Rodek derweil nicht in Abrede stellen - aber Diversität sei eher Nebensache. Zumal sich ein von migrantischen Perspektiven geprägtes Kino in Deutschland - er nennt Fatih Akin, Thomas Arslan, Sibel Kekilli, Birol Ünel und Hilmi Sözer - in den letzten Jahren eh von ganz alleine normalisiert hat: "Das deutsch-türkische Kino ist in diesem Vierteljahrhundert zu einen Selbstverständlichkeit geworden, und so wird es mit der Zeit auch ein deutsch-syrisches oder deutsch-afrikanisches geben, und wenn es gut sein soll, wird es ganz ohne diversity bean counter entstehen."

Beautiful Thing


Stefan Hochgesand verneigt sich in der taz tief vor Hettie MacDonalds Queer-Klassiker "Beautiful Thing" aus dem Jahr 1996, der ab heute bei Salzgeber zu sehen ist: "Was für eine Offenbarung für einen schwulen Teenager in einem kleinen Dorf, der denkt, allein zu sein! ... Dieser Film ist immer noch ein Juwel."

Weitere Artikel: Robert Mießner empfiehlt in der taz die im Berliner Zeughauskino gezeigte Reihe "Hannah Arendt und der Eichmann-Prozess". Auf Intellectures legt Thomas Hummitzsch Arthouse-Freunden den Streamingdienst Filmingo ans Herz.

Besprochen werden Chris Bolans auf Netflix gezeigter Dokumentarfilm "A Secret Love" über ein altes lesbisches Paar und Carolina Hellsgårds "Sunburned" (Perlentaucher), Kasi Lemmons' Biopic "Harriet" über die Anti-Sklaverei-Aktivistin Harriet Tubman (Tagesspiegel, SZ), Mike Figgis' Dokumentarfilm "Ronnie Wood: Somebody Up There Likes Me" (taz), Oz Perkins' Horrorfilm "Gretel & Hänsel" (FR, Berliner Zeitung), Alexandre de La Patellières und Matthieu Delaportes "Das Beste kommt noch" (SZ), Fabienne Berthauds "Eine größere Welt" (Tagesspiegel, SZ) und Gero von Boehms Dokumentarfilm "Helmut Newton: The Bad and the Beautiful" (taz).
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Kunst

Atelieraufnahme Priska von Martin u.a. mit Boxhandschuh, 1969 (Privatbesitz), Foto: Bernhard Dörries.


Knapp vierzig Jahre nach ihrem Tod gibt es die erste Retrospektive der Bildhauerin Priska von Martin. Gezeigt wird sie im Museum für Neue Kunst in Freiburg, erzählt Hans-Joachim Müller in der Welt. Was da jetzt auf dem Sockel steht, erinnert den Kritiker an gerade ausgegrabene Skulpturen aus der Höhlenzeit: "Immer wieder diese Anklänge an die altsteinzeitlichen Tiersilhouetten, die Bruchstücke, die defizitäre Eleganz, als seien die Körper mitten in der Bewegung erstarrt. Das Werk, das in den fünfziger bis siebziger Jahren entstanden ist, mutet vor dem Hintergrund der sich überstürzenden künstlerischen Ereignisse wie ein unwahrscheinlicher Irrläufer an, eine wunderbar selbstverständliche, völlig unkämpferische Unzuständigkeitserklärung für die Dynamik der Zeitkunst. ... Wie viel Ganzheit muss, wie viel Fragment darf sein, um die Anschauung zur Fantasiearbeit anzustiften? Und nichts falscher, als von der weltenthobenen Problemstellung auf einen leicht ranzigen Existentialismus zu schließen. Das ist das Schöne an der Wiederentdeckung des Werks, dass es sich so zeichenentlastet gibt und kein Ren, kein Elch, kein Pferd das Zeug zur pathetischen Rede über das beschädigte Leben hat."

Außerdem: Im Tagesspiegel stellt Gregor Dotzauer den Artist in Residence des Berliner Gropius-Baus vor, den chinesischen Künstler Zheng Bo, der einen neuen Umgang mit Pflanzen propagiert. In der taz berichtet Ingo Arend von einer von den Grünen veranstalteten Debatte über "Kunst in der Coronakrise".
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Literatur

Der Literaturwissenschaftler Jürgen Wertheimer geht für die FR die europäische Literaturgeschichte durch und stößt - ob nun bei Homer, Aischylos, bei Verdi, Shakespeare, Kleist - an allen Ecken und Enden auf nicht nur schwelenden Rassismus: "In all diesen Momenten bricht das versiegelte Erbe unseres gemeinen Rassismus auf. Versiegelt deshalb, weil sich das Phänomen des Rassismus nicht nur in Form von propagandistischen Hetzschriften und primitiven Feindbildern manifestiert, sondern auch eingebettet in einen Strom diskreter, unauffälliger Marker einschleicht. ... Falls die Texte nicht nur entlarvende Entgleisungen protokollieren, sondern darüber hinaus Aussagekraft über ein Zentrum unseres kollektiven Verhaltens haben, wäre dies ein Alarmzeichen und ein Grund auf der Hut zu sein - vor uns selbst."

Weitere Artikel: Birte Förster hat sich für den Tagesspiegel in der hiesigen Comicszene nach sexistischem und übergriffigem Verhalten umgehört - und ist dabei durchaus fündig geworden. Auch Alexander Cammann von der Zeit freut sich über den Büchner-Preis für die Lyrikerin Elke Erb (unser Resümee).

Besprochen werden unter anderem Gordon Parks' Fotoessay-Band "The Atmosphere of Crime", zu dem man sich laut Perlentaucherin Thekla Dannenberg unbedingt noch die Harlem-Romane von Chester Himes legen sollte, Nina Bußmanns "Dickicht" (Berliner Zeitung), André Hellers Erzählungsband "Zum Weinen schön, zum Lachen bitter" (Tagesspiegel), Harry Mathews Der einsame Zwilling" (Jungle World), Annett Gröschners "Berliner Bürger*stuben" (SZ), Nana Kwame Adjei-Brenyahs Erzählband "Friday Black" (Intellectures) und Uli Oesterles Comic "Vatermilch" (FAZ).
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Musik

"I loved him dearly": In der New York Times verabschiedet sich der US-Jazz-Avantgardist John Zorn (dessen Einfluss auf auf die Welt drastischer Musikspielarten der Rolling Stone vor kurzem ermessen hat) von Ennio Morricone (unser Resümee): Morricone war "seiner Zeit weit voraus. Am Morgen erforschte er im Kontext freier Improvisation unorthodoxe Spieltechniken mit dem Mundstück einer Trompete; am Nachmittag schrieb er ein verführerisches Big-Band-Arrangement für eine Popsängerin und in der Nacht einen schneidenden Orchestral-Score für einen Film."

Von einer Morricone-Anekdote berichtet auch der Komponist Helmut Lachenmann im großen VAN-Interview: Er traf den Maestro in Italien bei einem Konzert, unter anderem gab es auch Musik von Morricone zu hören, "nämlich eine - von wem auch immer arrangierte - Suite aus der Filmmusik für 'Once Upon a Time in the West' und eine Komposition für Klavier und vier Bläser, eine Art Klavierquintett. Wie ich erfuhr, hat Morricone aber irgendwann den Veranstalter angerufen und gesagt: 'wenn der Lachenmann kommt, dann erlaube ich nicht, dass man die Filmmusik spielt. Dann stehe ich auf und gehe raus.' Immerhin saßen wir im Konzert einträchtig nebeneinander, Morricone und ich. Aber ich habe nicht gewagt, ihn auf seine Filmmusik anzusprechen. Ich mag seine Filmmusik, weil sie eine unwiderstehliche Aura hat. Rational komme ich dem nicht auf die Schliche."

Weitere Artikel: Ueli Bernays skizziert in der NZZ die Geschichte von Kanye Wests Größenwahn, der jüngst in der - allerdings wohl nicht wirklich ernstzunehmenden - Ankündigung mündete, dass der Rapper in diesem Jahr zur US-Präsidentschaftswahl anzutreten gedenke. Im Guardian erklärt Angelica Frey anlässlich von Will Ferrells Eurovision-Komödie auf Netflix ihre Liebe zum kontinentaleuropäischen Schlager. Jeffrey Arlo Brown hat für das VAN-Magazin alle 559 Sonaten aus der Feder Domenico Scarlattis gehört und gerankt - "puren Stumpfsinn" bietet K 122, K 520 dafür immerhin "coole endlos kreisende Terzen". Im VAN-Gespräch spricht Merle Krafeld Tipps mit der Theremistin Dorit Chrysler. In der VAN-Reihe über Komponistinnen schreibt Arno Lücker über Marianna von Martines. In der Zeit porträtiert Hannah Schmidt die britische Sängerin und Komponistin Elaine Mitchener. Clemens Haustein von der FAZ war dabei, als das Freiburger Barockorchester erstmals seit Monaten wieder ein Aufnahmestudio betrat - unter Corona-Abstandsbedingungen wirke es "fast zur Symphonieorchester-Größe aufgefächert."

Besprochen werden das neue Album von Rufus Wainwright (Standard, Berliner Zeitung), das neue Album von Swamp Dogg (FAZ) und ein Konzert des libanesischen Philharmonieorchesters in Beirut (FAZ). Das Konzert steht als Aufnahme auf Youtube:

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